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Ausgabe:

1925 Nr. 18

Spalte:

427-429

Autor/Hrsg.:

Petersen, Peter

Titel/Untertitel:

Allgemeine Erziehungswissenschaft 1925

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 18.

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und „Glaube" zeugt von instinktiver Treffsicherheit und einem unbeirrbaren
Sinn für das Wesentliche. Indem sich der Verf. auf die lebendigen
Herzstücke der beiden Weltanschauungen beschrankt, bringt er
die sieh ins Uferlose hinziehende Auseinandersetzung zwischen Christentum
und Anthroposophie an entscheidender Stelle zur Klärung und
gewinnt grundsätzliche Erkenntnisse, von denen aus ein erhellendes
Licht auf den gesamten, vielfach verworrenen Fragekomplex fällt.
Durch die bewußt vollzogene Vereinfachung treten die Grundstrukturen
der beiderseitigen Geistesgebilde deutlich hervor. Die Verhältnisse
werden durchsichtig. Der Leser sieht, wie sich von verschiedenen
Keimzellen her zwei völlig getrennte Typen entfalten.
So wirkt die Schrift außerordentlich überzeugend und instruktiv. Die
Klarheit der Erörterung wie die sichere Art der Linienführung sind
selbstverständlich nur möglich bei vollendeter Sachkenntnis und überlegener
Beherrschung des Stoffs. Daß die Sprache vornehm und geistvoll
ist und sich mit einer gewissen Vorliebe schön gewählter Wortprägungen
befleißigt, braucht bei dem Verfasser nicht weiter betont
zu werden.

Das Buch beginnt mit einer knappen, aber tiefgreifenden Kennzeichnung
der anthroposophischen Welteinstellung. Dann wird nach
einigen grundlegenden Erörterungen über das Wesen des Glaubens im
Unterschied zur Gnosis eine „Ahnenreihe" des Glaubens vorgeführt.
Die großen Gestalten der Vergangenheit wandeln an uns vorüber und
legen Zeugnis ab für den Glauben und gegen die Schau. Ohne jede I
Leidenschaft, aber mit der zwingenden Kraft reiner Sachlichkeit
wird nachgewiesen, daß ein Piaton, ein Johannes, Augustin oder |
Goethe, die von der Anthroposophie so gern mit Beschlag belegt
werden, nicht auf deren Seite, sondern in die Reihe der Glaubenden
gehören. Diese Ausführungen dürften wohl abschließend sein und
ein letztes Wort bedeuten. Darüber hinaus haben sie jedoch eine
selbständige Bedeutung. Was hier über einige der größten Gestalten der
Geistesgeschichte gesagt wird, gräbt tief in die Wurzelgründe ihres
geistigen Seins hinab und rührt an allerletzte Fragen. — Der Schluß-
abschni.tt heimst dann den Ertrag der vorhergehenden Darlegungen ein
und zieht mit kräftigen Strichen die endgültige Trennungslinic
zwischen religiöser und anthroposophischer Einstellung zur Begrenztheit
des menschlichen Bewußtseins.

Die Schrift will objektiv sein und ist es auch. Der Verf. beschränkt
sich mit Absicht auf Erörterung und Beschreibung. Jede
Polemik liegt ihm fern. So kommt eine wohltuende Ruhe und Vornehmheit
in die Auseinandersetzung hinein. Aber die streng geübte
Objektivität zeitigt doch ein praktisches Ergebnis. Dadurch, daß
der Unterschied der beiden Weltanschauungs-Typen mit handgreiflicher
Deutlichkeit hervortritt, wird der Leser zur Stellungnahme gedrängt
; er muß wählen: „Schau" oder „Glaube". So zeigt das Buch
auf bedeutsame Weise, wie reine „Wissenschaftlichkeit" dem Leben
unmittelbar zu dienen vermag. Bei aller SacTilichkeit vertritt der Verf.
doch einen bestimmten Standpunkt, der deutlich fühlbar ist. Er steht
auf der Seite des Glaubens, nicht der Schau. So darf man von einer
„immanenten Bewertung" immerhin reden. Dem Wissenden ist auch
der theologische Ort der Erörterung klar: sie weist in die Nähe I
Barths, Gogartens, Tillichs, ohne jedoch ihren selbständigen Charakter
und eigenen Wuchs zu verleugnen.

Alles in allem ein Buch, das grundsätzliche Einsichten in das
Verhältnis von Christentum und Anthroposophie schenkt, das erfreut
durch die fruchtbare Verbindung von wissenschaftlicher Objektivität
und normbewußter Subjektivität und auch rein technisch, als Musterbeispiel
der vergleichenden Typologie, einen hohen Rang einnimmt.
Gießen. H. Adolph.

Petersen, Peter: Allgemeine Erziehungswissenschaft. Berlin :
W. de Gruyter & Co. 1924. (VIII, 276 S.) gr. S°.

Rm. 5—; geb. 6.20.

Göttler, Prof. Dr. Joseph: System der Pädagogik im Umriß.

3., neubearb. Aufl. Kempten: Kösel & Pustet 1924. (VIII, 171 S.
m. 3 Tab.) gr. 8°. , Rm. 3—.

Kessel er, Lic. Dr. Kurt: Pädagogik auf philosophischer
Grundlage. Leipzig: J. Klinkhardt 1921. (IV, 180 S.) gr. 8°.

geb. Rm. 6—.

Die Schrift von Petersen muß jedem, der an der
wissenschaftlichen Berechtigung der Pädagogik noch
zweifelt, Anlaß zur Revision seines Urteils geben. Hier
ist nichts von der notdürftigen Systematisierung praktischer
Ratschläge, wie man es zu machen habe. Hier
wird vielmehr ganz umfassende und tief grabende Arbeit
getan, um die Grundfragen aller Einwirkung von
Mensch zu Mensch zu klären und daraus Regeln zu
gewinnen. P. bietet Untersuchungen kulturphilosophischer
und soziologischer Art, die auf so gründlichen
Studien beruhen und so durchzogen sind von weit- I
schauenden Erkenntnissen und feinen Bemerkungen, daß I
sich ihre Lektüre allein schon lohnen würde. Seine be- I

herrschende Frage ist: Wie wirkt überhaupt ein Umweltkomplex
auf einen Anlagekomplex ein? Nur so
hofft er, eine illusionsfreie Erziehungswissenschaft gewinnen
zu können, die auf die Praxis der Erziehung
normierend einwirken kann. Zu jenem Zweck untersucht
er in dem ersten Teil die großen Grundbegriffe
soziologischer Art. Ganz eingehend wird der Begriff
der Masse entwickelt. Sie hat ihre Geistigkeit; denn
sie entsteht aus der Menge, wo ein gemeinsames Interesse
im Mittelpunkt steht. Die Masse organisieren heißt:
das Geistige realisieren, und das geschieht, wenn ihr
Führer Oberwerte geben. Auch in der Jugend herrscht
dies Gesetz der Masse. Wir leben alle von der Gemeinschaft
, weil wir am Andern unser selber inne werden
und von ihm und in ihm mehr leben als wir ahnen.
Das wird näher ausgeführt in dem zweiten Abschnitt,
der von dem Individuum und der Gemeinschaft handelt.
Jenes ist eine Richtungsvariante von dieser, und diese
ist ein Gefüge von gegenseitigen Diensten. Jenes wird
zu einer Persönlichkeit, wenn es sich den Werten, die in
der Gemeinschaft gelten, hingibt. Auch an der Natur
und der Kultur wird der Mensch zu dem, was er werden
soll, wie an den andern Menschen. Nur daß der Zwang
dazu gehört, um an den Gütern der Kultur teilzunehmen
. Im Wechselspiel mit all diesen Faktoren setzt
die Entwicklung ein, die aber nicht ein Fortschritt im
sittlichen Sinn sein muß. Der Reifevorgang der Jugendlichen
bedarf der eindringenden Erkenntnis, wie aus Umwelt
und Anlage in schöpferischer Synthese auf äußere
Reize hin der Jugendliche sich selber findet. Diese Entwicklung
wird von der Erziehung unterstützt, die, anders
als die auf Zuführung von Wissen individualistisch gerichtete
Bildung, den Vorgang der Anpassung und des
Hineingelebtwerdens in die Gemeinschaft zu fördern hat.

Wie müssen die Gemeinschaften beschaffen sein,
in denen sich die Persönlichkeit soll entfalten können?
Das Verhältnis dieser beiden zentralen Begriffe wird
nun in sehr wertvollen Ausführungen untersucht, die die
Wirtschaft, den Staat, die Kirche, das Volk als die
Reiche der Lebensnot zum Gegenstand haben. Das
wirtschaftliche Leben hat gar keine fördernden Momente
für das persönliche Leben, wenigstens nicht
in seiner gegenwärtigen Form. Es bekommt sie
erst, wenn es sich in einer an das Mittelalter erinnernden
Weise, nämlich gildenförmig organisiert,
also zum Zweckverband die Lebensgemeinschaft
fügt; das ist auch das Ziel für das Leben der
Schule. Der Umweltfaktor des Staates wirkt unbedingt
verhängnisvoll auf die Erziehung ein, wie in scharfen,
starK politischen Ausführungen dargelegt wird. Darum
weg mit der Staatsschule mit ihrem Zwang und ihrer
Erziehung zur Korrektheit; dafür die freie Volksschule
als eine Korporation öffentlichen Rechtes gleich der
Kirche! Diese selber taugt auch nichts für die Aufgabe
der Erziehung; denn sie will Macht und keine wirkliche
christliche und menschliche Gestaltung. Alles Heil liegt
beim Volk, wenn es im Unterschied von der Nation als
die Gemeinschaft gleicher Werte verstanden wird, die
ihm im „Blut" sitzen und in der Sprache ihren Ausdruck
finden. Nach eingehenden Erörterungen über
die Struktur des Volkes, die Führer, Tätige und Autnehmende
umfaßt, wird das Programm für die Zukunft
im Sinn Dörnfelds entwickelt: Volkserziehung ist die
neben der unbewußten Einwirkung der Umwelt einhergehende
absichtsvolle Bemühung, das Einleben in das
Ganze des Volkslebens zu fördern, und zwar in einer
Schule, die eine freie, wenn auch vom Staat betreute Veranstaltung
ist, die die Familie und die Gilde der Erzieher
zu ihren Trägern hat.

Das an zweiter Stelle genannte Buch bestätigt
durch den weiten Abstand seiner ganzen Haltung von
dem ersten den Eindruck von der Bedeutung dieses. Es
enthält sehr lehrhaft ein System der Pädagogik zum
Studium. Wesen und Ziel der Erziehung, Erziehungswerte
und Bildungsgüter, der Zögling, die Erziehungs-