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Ausgabe:

1925

Spalte:

374

Autor/Hrsg.:

Willrich, Hugo

Titel/Untertitel:

Urkundenfälschung in der hellenistisch-jüdischen Literatur 1925

Rezensent:

Dibelius, Martin

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 16.

374

Aner, Priv.-Doz. Lic. Dr. Karl: Das Vaterunser in der Geschichte
der evangelischen Frömmigkeit. Tübingen: J. C. B. Mohr
1021. (48 S.) gr. 8". *= Sammlung gemeinvcrst. Vorträge u.
Schriften aus d. Gebiet d. Theologie u. Rel.-Gesch. 100.

Rm. 1 — ; Subskr.-Preis —00.
Vorliegende Studie ist eine .frömmigkeitsgeschichtliche
' Untersuchung. Sie will also einen Überblick geben
nicht über die gelehrte Vaterunsererklärung, sondern
über die Vaterunserbewertung in der evangelischen
Frömmigkeit. Gemeinsam ist dieser seit Luther .der
Gegensatz gegen die kultische Formelhaftigkeit, die
seinen Gebrauch in der katholischen Kirche kennzeichnet'
(S. 5). Es ist ja in der Tat eine kirchengeschichtliche
Ironie, ja vielleicht ein compendium der großen Ironie
der Kirchengeschichte, daß das Gebet, das Jesus als
Gegenmittel gegen alles ßctrrokoyelr, gegen alle
noAvloyia empfahl, selber diesem Schicksal anheimfiel.
Aner gewinnt nun 4 .Typen', von denen je einer im Ablauf
der Zeitabschnitte vorherrscht, ohne einen andern
immer auszuschließen. Der .katechistische Typus' betrachtet
das Vaterunser unter erzieherischem Gesichtspunkt
, nicht bloß als Gegenstand des kirchlichen Unterrichts
, sondern als Unterricht in sich selbst, wodurch sich
Christus nach Luther als ,cter fruin, trew Schulmeister'
erweist. Mit dem stärkeren Hervortreten dieser erzieherischen
Auffassung hängt es wohl auch zusammen, daß
Luther bei der Brotbitte von der geistigen Erklärung
zur leiblichen überging und bei der Willensbitte mehr
die Ergebung in den göttlichen Willen, als das Handeln
nach ihm betonte. Natürlich ist Luther in diesen Deutungen
nicht neuschöpferisch, sondern schöpft aus der
ihm vorliegenden Überlieferung. Zugleich aber dient
ihm das Vaterunser als Ansporn zur Gebetsbetrachtung.
Dieser Typ beherrscht nun die Orthodoxie des 16.
und 17. Jahrhunderts, aber ebenso auch den Pietismus.
Ein neuer Typus kommt erst im zweiten, dem .neologischen
Stadium der deutschen Aufklärung', also .zwischen
dem Wolffianismus und dem eigentlichen Rationalismus
' auf: es ist der .symbolistische', der das
Vaterunser .geradezu in die Stellung einer regula fidei
rückt'. Er ist im Zeitalter der Aufklärung auch bei
ihren orthodoxen Gegnern vertreten. Übrigens lehnt A.
eine Verurteilung der Aufklärung in Bausch und Bogen,
wie sie sich immer noch bei protestantischen wie bei
katholischen Theologen findet, mit Recht ab. Wo das
Vaterunser als Glaubensbekenntnis betrachtet wird, stellt
sich sofort die Gefahr ein, die eigenen religiösen Anschauungen
hineinzudeuten, wie das denn auch in dem
aus der Aufklärung erwachsenen deutschen Idealismus
in vollem Maße geschehen ist: damit kam der .spekulative
Typus', der das Vätererbe nach den eigenen Gedanken
umdeutete. In der Gegenwart aber herrscht der
.monumentalische Typus' vor. Ihm ist das Vaterunser
,ein Denkmal von Klassizität und Einzigartigkeit', ein
.Letztes, Höchstes, Unüberbietbares, zu dem unser Gebet
aufsteigen soll'. Ans solcher Auffassung heraus beanstandet
beispielsweise Otto Baiungarten seine jetzt übliche
Verwendung beim evangelischen Gottesdienst, als
.Anhängsel' aller Gebete. Es ist ein fesselnder, lehrreicher
Überblick, den Aner in seiner Studie gibt. Man
denkt zum Schluß unwillkürlich an den .eschatologischen
Typus'. Aber dieser gehört eben nicht zur Geschichte
der Frömmigkeit, wiewohl v. Harnack kürzlich seine Anhänger
zu .schwachen Brüdern' gestempelt hat.

Leider wird die sonst schöne Sprache Aners durch viel Fremdwörter
entstellt, S. 3: ,Dic Sphäre der subjektiven Phänomene
zeigt eine vorherrschende Konstanz von Typen'. Ein .Dcteriori-
sationsprozeß' (S. 36) ist sprachlich so schlimm wie in der Sache.
S. 5 wird die Vorschrift der Didache, das Vaterunser dreimal täglich
zu beten, als Beleg dafür gefaßt, daß es .frühe schon der Praxis
mechanischer Andachtsübung verfallen war'. Dieselbe Vorschrift gibt
aber auch Luther, sogar mit dem Zusatz, daß der Hausvater sie bei
Kindern und Dienstboten allenfalls (bei Aner: .eventuell') durch
Hungerstrafen durchsetzen soll (S. 27). Und wenn sie bei Luther aus
erzieherischen Erwägungen erklärt wird, so kann dies auch bei der
Didache zutreffen. S. 28 ist auf ein .Diktum Tertullians' im ,Liber de
oratione' verwiesen, mit dem Wortlaut: breviarium totius cvangelii et

salutaris doctrinae compendium, in quo nihil praetermissum. Dieser
Satz, findet sich aber nirgends bei Tcrtullian. Er nennt allerdings de
or. c. I (I, 555 Oehlcr) das Vaterunser ein .breviarium totius evan-
gelli', und in c. () (1, 563) heißt es: compendiis paueulorum ver-
borum quot attinguntur edicta prophetarum etc. Ferner schreibt Cyprian
de dorn. orat. c. 0 (272, 9): ut nihil ommö praetermissum sit
quod non in preeibus atque orationibus nostris caelestis doctrinae con-
pendio conprehendatur. Jener Satz, ist also durch .Kontamination' aus
Tcrtullian und Cyprian entstanden. Übrigens geht auch die von Luther
aus der Anrede .Unser Vater' (nicht ,mein Vater') gezogene Lehre
(S. 16 f.) auf Cyprian zurück (de dorn. or. c. 8. 271, 4).

München. Hugo Koch.

Willrich, Hugo: Urkundenfälschung in der hellenistisch-
jüdischen Literatur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1924.
(6*, 100 S.) gr. 8°. Forschungen z. Rel. u. Literatur d. A. u.
N. Test. Neue Folge, 21. Heft. ' Rm. 5.60.

Die vorliegende Schrift enthält eine Reihe von interessanten
Einzel-Untersuchungen, die darauf abzielen, Urkunden
in den Makkabäer-Büchern, bei Jason und Jo-
sephus als Fälschungen zu erweisen. Unser Urteil wird
in der Tat durch ein wörtlich mitgeteiltes Aktenstück
noch immer suggestiv beeinflußt, und es gibt abgesehen
von Stemplingers bekanntem Buch wenig Grundsätzliches
und Belehrendes über diese Dinge; so ist das Buch
schon aus diesem Grunde zu begrüßen. Technik und
Zweck solcher Fälschungen werden klargestellt, und es
ergeben sich eine Reihe wichtiger geschichtlicher Folgerungen
. So ist nach der Publikation des neuen Claudius-
Briefes in London, die W. noch nicht berücksichtigt,
die Frage des jüdischen Bürgerrechtes in Alexandria
| wieder von besonderein Interesse; hierfür erbringt nun
W. den Nachweis, daß dem Kaiser Claudius gefälschte
I Aktenstücke über die Ansiedelung der Juden in Alexandria
vorgelegt worden sind. Abschließend scheinen mir
freilich diese Untersuchungen noch keineswegs zu sein,
schon darum nicht, weil unsere Josephus-Kritik erst am
j Anfang ihres Weges steht. Auch kann m. E. das Verhältnis
der Märtyrer-Legenden in 2. Makk. 6. 7 und der
Essener-Darstellung Philos in „Quod omnis probus
j Uber" zu der Erzählung von Ptolemaios Lathyros bei
Josephus 13, 345 ff. ohne Heranziehung stilistischer
I Argumente nicht klargelegt werden. Gelegentlich
| warnt auch der Zustand der Texte vor allzukühnen
I Schlüssen: so scheint mir der Nachweis, daß Aristeas
! § 98 mit der Erwähnung des prächtigen Gewandes des
Hohenpriesters erst seit Herodes möglich sei, nicht über-
j zeugend, weil die betreffende Stelle gar keine einwandfreie
Interpretation erlaubt. Auch manche der sehr weit-

fehenden geschichtlichen Folgerungen möchte ich mit
kepsis aufnehmen. Das gilt z. B. von W.s Kritik an
der Geschichtlichkeit der Bündnisse von Judas und
Jonathan mit Rom (an der Hand von Josephus Ant. 14,
§ 205: das Bündnis zwischen Juden und Römern sei
so alt wie die jüdische Herrschaft über Joppe d. h.
nicht älter als Simons Zeit). Aber alle diese historischen
und literarischen Fragen sind durch W.s energische,
wenn auch bisweilen einseitige Kritik in wünschenswertester
Weise neu in Fluß gekommen.

Heidelberg. Martin Dibe litis.

Raven, Charles F., D. D.: Apollinarianism. An essay on the
Cbristology of the Early Church. Cambridge: University Press 1923
(IX, 312 S.) 8°. 12, 6sh.

Dies Buch ist nicht nur ein schönes Zeichen für
den soliden wissenschaftlichen Sinn seines Verfassers,
es ist auch charakteristisch für die englische Art, dogmenhistorische
Probleme zu behandeln. Ich kann mir
kaum einen deutschen — auch nicht einen französischen
— Theologen unserer Tage vorstellen, der sein Buch
einleitet mit der Bemerkung, er sei beim Beginn seiner
Untersuchung Apollinarist gewesen und habe sich erst
im Fortschreiten seiner Arbeit überzeugt, daß der
Apollinarismus in seiner alten und seiner' modernen
Form — d. h. dem Glauben an die unpersönliche
Menschheit des Herrn — unhaltbar sei. Für die en<r-