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Ausgabe:

1925 Nr. 13

Spalte:

308-310

Autor/Hrsg.:

Litt, Theodor

Titel/Untertitel:

Die Philosophie der Gegenwart und ihr Einfluß auf das BIldungsideal 1925

Rezensent:

Schuster, Hermann

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Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 13.

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bildet den wahren Ausgangspunkt, sie wird hier nicht
eingeklammert, gerade sie soll nach ihren Grundlagen
verstanden werden. Auch ist nicht eine normative Disziplin
gemeint, nicht eine ethische, sondern eine logische
Grundlegung der Kulturerfahrung ist beabsichtigt, das
Begreifen auch des Irrtums, auch der fragwürdigen und
verfehlten Akte: die transzendentale Notwendigkeit geistigen
Gemeinschaftslebens überhaupt, äußere es sich nun
sinnvoll oder sinnwidrig, soll aufgedeckt werden. Eine
solche Erörterung stößt schon auf gewisse Grundwahrheiten
von metaphysischem Gehalt, ohne die es keine
Geisteswissenschaften gibt, wobei die Frage einer Metaphysik
auf Grund des konkreten Wertgehaltes dieser
Geisteswissenschaften ganz offen bleibt. Um eine Grundlegung
handelt es sich, nicht um Abschluß und Krönung.

Das Recht dieses Verfahrens in seinen leitenden
Gesichtspunkten muß anerkannt werden. Wir schwankten
allzulange zwischen den deduktiven Spekulationen der
romantischen Philosophie und der naturalistischen Psychologie
der Folgezeit. Hier bildet die geistige Erfahrung
den Gegenstand neuer fruchtbarer Fragestellungen,
die uns von jenen Einseitigkeiten befreien. Wenn mich
nicht alles täuscht, besteht doch eine gewisse Verwandtschaft
zwischen Litt und G. Class, der freilich dem Gesichtskreis
des Buches ferngeblieben zu sein scheint.
Litt dringt in seiner Strukturanalyse noch weiter zu den
elementaren Faktoren (Ich-Du, Leib-Seele usf.) vor, aber
die Erörterung von Kap. V und besonders VI über
Lebensbewegung und Sinngefüge reicht doch den Untersuchungen
zur Phänomenologie und Ontologie des
menschlichen Geistes von Class deutlich die Hand
hinüber. Beide bleiben bei einer polaren Doppelheit
stehen, die nicht mehr zugunsten eines Gliedes beseitigt
werden kann, Litt bei der polaren Doppelheit einer
personalen Sphäre und einer Sinnhphäre, Class bei der
Kongruenz des Ich und des herrschenden Gedankensystems
, wie er sich denn bereits gleichmäßig über die
naturalistische und spekulative Denkweise erhebt. So
erscheint die Weiterbildung der phänomenologischen Methode
bei Litt geeignet, jene allzu schnell abgebrochene
wichtige Linie philosophischer Forschung aufzunehmen.

Individuum und Gemeinschaft, — Gemeinschaft ist
hier nicht eine Lebenseinheit, die im sittlichen Sinn
ihrer Glieder nähere Gestalt gewinnt, sondern eine
solche, die diesen Sinn und seine Tat ermöglicht; Gemeinschaft
drückt lediglich die ursprünglich wesenhafte
Zusammengehörigkeit aus (vgl. S. 263). Über den
in konzentrischen Kreisen sozusagen erfolgenden Aufbau
müssen einige Andeutungen genügen. Gleich das Kapitel
„Ich und Du" gibt Gelegenheit, in der Aufdeckung
der Ichbezogenheit als der Voraussetzung aller Erlebnisse
das geübte Verfahren von der empirischen Psychologie
zu unterscheiden oder das Verhältnis des
Ich zu seinem Leib in seiner unauflöslichen Einheit
gegenüber den Theorien sowohl des Parallelismus
als der Wechselwirkung zu beleuchten. Litt
selbst faßt einmal (S. 164) den hauptsächlichen
Gang so zusammen: „Wir hatten sowohl in der
Betrachtung der zwischen Ich und Du obwaltenden Beziehungen
als auch in der Betrachtung des Verhältnisses
von Leib und Seele, Erlebnis und Ausdruck jede Vorstellung
abzuweisen, die hier eine äußerliche Abhängigkeit
vor sich zu haben glaubt. In dem phänomenologischen
Aufweis einerseits der Reziprozität der Perspektiven
, andrerseits der leiblich-seelischen Lebenseinheit
wurde diese Einseitigkeit der Betrachtung überwunden
. Die Lehre von der sozialen Verschränkung steht
zu diesen beiden Thesen in dem Verhältnis, daß sie
zwischen den durch sie fixierten Strukturen eine Weise
des Bezogenseins sichtbar macht, die ihrerseits nicht
weniger über jede äußerliche, womöglich einseitige Abhängigkeit
hinausführt: die Möglichkeiten des Werdens
einer geisterfüllten Welt, eines sinndurchdrungenen Personallebens
... treten erst vermöge des Ineinandergreifens
beider in die Wirklichkeit." Wenn in dieser Ausführung
die Wechselbezogenheit von Kundgeben und
Verstehen (S. 84) oder der Zusammenhang von Verstehen
und Wesensbildung feinsinnig heraustritt, so erwachen
zu unserer Freude Gedanken aus den Monologen
Schleiermachers zu neuem Leben. Wertvoll in der
ganzen Darlegung ist überhaupt die Betonung der
Aktiyität der Seele bis in den (überkommenen) Ausdruck
hinein und wieder selbst im Verstehen des anderen;
ebenso wertvoll, obwohl nicht einfach neu — man
denke an Eucken —, die gründliche Aussprache über
die Schranken der rein organologischen Betrachtungsweise
, umsomehr, als von den Tagen der Romantik her
bis heute (s. S. 156 ff. „Moderne Erneuerungen") mit
der Verwendung des Bildes vom Organismus sich viel
Unklarheit und Einseitigkeit verbindet; wie überhaupt
der Gebrauch von Begriffen biologischer Provenienz für

j den Bereich sinnverknüpfter Erlebnisse mit Fug abge-

i lehnt und das Phänomen der Freiheit in seiner ganzen
Breite als Erhebung über die Nötigungen der rein vitalen
Existenz treffend charakterisiert wird. Der andere
weithin verbreitete Versuch einer Gesellschaftslehre vom
bloßen Individuum her erfährt nicht minder notwendige

i Kritik. Verf. steht, wie gesagt, zuletzt vor dem Geheimnis
dieses polaren Ineinandergreifens zweier Prinzipien,
eines personalen und eines überpersonalen, dem die
letzten Kapitel bis an die Grenze metaphysischer Deutung
nachsinnen. Gegenüber den immer noch mächtigen
rationalisierenden und naturalisierenden Tendenzen der
Gegenwart ist diese Herausarbeitung der irrationalen,
eine Zweiheit umspannenden, schaffenden Einheit des
geistigen Lebens mit Dank zu begrüßen. Fragen bleiben
gewiß auch noch übrig. Über die überphänomenologische
Bedeutung der Wertdifferenzen (S. 172 ff.) ist das
letzte Wort doch wohl noch nicht gesprochen. Ob nicht
gerade eine phänomenologische Untersuchung, die sich
nicht mit der physiognomischen Bedeutsamkeit begnügt
(vgl. S. 228 f.), von der Sache her zur übergreifenden]
Bedeutung von Ethos und Religion (gegenüber den einzelnen
Kulturgebieten wie Recht, Wissenschaft, Kunst)
kommen muß, ist auch noch die Frage. Euckens in
dieser Richtung gehende Erwägungen haben hier wohl
tiefer geschürft, wie sie nicht umsonst im geistigen
Leben des Zeitalters lebhaften Widerhall gefunden haben
. — Auch die Theologie wird gut tun, dieses wichtige
Buch zu beachten. Für unsere Zeit ist z. B. die klare
Einsicht in die Unterschiedenheit, aber auch zugleich

j Zusammengehörigkeit von Erlebnis und Sinn zu beachten
; geht es an, Erlebnis und Glaube so einfach aus-
einanderzureißen? In die von Litt hier unternommene
Arbeit, deren Tendenz dahin weist, das Wirkliche unvoreingenommen
reduktiv aus sich selbst zu verstehen,
mit einzutreten, scheint mir fruchtbringender als das
Unternehmen einer theologischen Prinzipienlehre auf
den Grundlagen etwa des Natorpschen oder sonst eines
neukantianisierenden Systems.

Münster i. W. O. Wchrung.

Litt, Theodor: Die Philosophie der Gegenwart und ihr Einfluß
auf das Bildungsideal. Leipzig: B. G. Teubner 192S.
(IV, 74 S.) 8°. Rm. 2.20.

Auf geringem Raum ein reicher Inhalt, eine Fülle
wertvoller Gedanken wird entwickelt oder wenigstens
angedeutet. In der Vorbetrachtung erörtert Litt die
Frage, ob und wieso trotz der verwirrenden Vielseitigkeit
der philosophischen und pädagogischen Richtungen
von der Philosophie und der Pädagogik und ihrer
gegenseitigen Beziehung gesprochen werden könne. Er
stellt dann die beiden extremen Thesen einander gegenüber
. Die eine hält dafür, daß die Pädagogik von aller
Philosophie gelöst und zur „reinen Erfahrungswissenschaft
" ausgebaut werden müsse. Sie merkt dabei nicht,
daß sie in Wirklichkeit doch auf eine bestimmte Weltanschauung
(positivistisch-naturalistischer Art) sich
gründet. Das andere Extrem, charaktervoll vertreten
durch Natorp's Sozialpädagogik, will die Pädagogik
auf eine Philosophie zeitloser Ideen begründen und hält