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Ausgabe:

1925 Nr. 13

Spalte:

305-306

Autor/Hrsg.:

Plaut, Paul

Titel/Untertitel:

Der psychologische Raum. Ein Beitrag zur Beziehungslehre 1925

Rezensent:

Titius, Arthur

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305

Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 13.

306

habe, falsch ist. Hier härte also eine neue Auflage Manches
nachzuholen. Wir lernen bei Blumhardt II. ein
Herz voll Liebe kennen. Die Kranken jeder Art, namentlich
auch Gemütskranke, allerlei Elende und Gedrückte
sind es, welche ihn beschäftigen. Der auffallende Anschluß
an die Sozialdemokratie erklärt sich nur daraus,
daß er in ihr die Vertreterin der Enterbten und Notleidenden
sah, während er sich klar wurde, daß die antireligiöse
Haltung der Sozialdemokratie der gerade
Gegensatz zu seiner religiösen Überzeugung war und
ihm den Anschluß hätte verbieten müssen. Seine Gedankenwelt
ist im Großen und Ganzen die seines Vaters.
Ihr Kern ist die Hoffnung auf den Sieg Jesu in der
Welt. Aber seine Eschatologie ist fern vom Chiliasmus.
Ungemein groß ist das Vertrauen, das er fast noch in
höherem Maß als sein Vater beim Volk und bis in die
höchsten Kreise hinauf genoß.

Der dritte Teil „Die Botschaft" verdiente eine
genauere Prüfung durch gelehrte Theologen. Was hier
geboten wird, ist keineswegs streng theologisch erwogen
und durchgefeilt. Es spricht hier das Herz und Gemüt.
Jäckh macht folgende Abschnitte: 1) Gott ist die
Liebe. 2) Jesus siegt. 3) Gottes Volk, halt deine Treu.
4) Jesus kommt.

Für die württembergische Kirchengeschichte bilden
die beiden Blumhardt höchst eigenarte Charakterköpfe.
Stuttgart °- Bossert.

Plaut, Paul: Der psychologische Raum. Ein Beitrag zur
Beziehungslchre. Stuttgart: J. I'üttmann 1924. (33 S.) 8°. Rm. 1.50.

Die rein programmatisch gehaltene kleine Schrift
behandelt nicht etwa die Fragen der optisch-räumlichen
Wahrnehmung, sondern im Sinne der heutigen
Strukturpsychologie wird nach dem Räume d. i. nach
der Daseinsform gefragt, die das geisteswissenschaftliche
Denken seinen Erlebnissen verleihen muß. Raum
ist hier in dem Sinne der neueren Mathematik als ein
bloßes Bezugs- oder Koordinatensystem gemeint, zugleich
in dem Sinne, in dem man von „historischem Raum"
oder von „soziologischem Raum" redet; immer spielt in
solchen Fällen eine topographisch meßbare Raumwirklichkeit
mit bestimmten Dimensionen und Grenzen mit,
aber der entscheidende Tatbestand ist vielmehr in einem
bestimmten teleologischen Verhältnis, in einer Absicht,
in der die Personen auf einander bezogen werden, gegeben
. Die Soziologie insbesondere, an der sich das
Problem am besten deutlich machen läßt, faßt das Individuum
in einer bestimmten Einstellung, in der es sich
als Mitglied einer bestimmten Gruppe und Träger des
Gruppeninteresses findet; als soziologische Kategorie
gedacht, erscheint es nur in einer bestimmten typisch-
rationalen Beziehung, eben als Gruppen-Glied, während
das Individuelle hier nur als krankheitsbildender Fremdkörper
wirkt. Wenden wir uns von hier zum psychologischen
Ich zurück, so hat schon Spranger gesehen,
daß zu dem Ich-Kreise eine besondere „Gegenstandsschicht
" gehört, das isolierte Individuum also eine
Fiktion ist. Alles Individuelle ist nur verständlich als
Ergebnis einer Beziehung zweier Größen auf einander
in der gleichen Atmosphäre (im „psychologischen
Raum"). Die Individuen sind Zentren, die ihre Wertigkeit
erst aus den überindividuellen Sphären erhalten.
Der psychologische Raum (der mithin ausschließlich
symbolischen Charakter erhält) ist nichts andres als die
Variationsbreite des Individuums und seiner ganzen seelischen
Entwicklungsfähigkeit und Entwicklungsmög-
ichkeit. — Auf alle Fälle bietet die gedankenreiche
Untersuchung — leider in augenverderbendem Kleindruck
— ein interessantes Zeugnis von den heute Soziologie
und Psychologie bewegenden Gedanken, die von
der Idee der Psychologie als Gesetzeswissenschaft weit
abliegen. Zutreffend ist wohl sicher, daß man Individuelles
nur erkennt in der ganzen Breite seiner Reaktionsfähigkeit
gegenüber anderm Individuellen, mithin in
seiner Sphäre. Aber die aufgeworfene Frage nach der

Daseinsform (Struktur) der psychischen Erlebnisse ist
damit doch erst zu einem Teile beantwortet, nämlich hinsichtlich
des (individuellen) Ausgangspunktes.

Berlin. A. Titius.

Litt, Theodor: Individuum und Gemeinschaft. Griindlegiuii:
der Kiilturphilosophie. 2., völlig neubearb. Aufl. Leipzig: B. G.
Teubner 1924. (X, 260 S.) gr. 8". Rm. 7—

Diese zweite Auflage stellt, wie das Vorwort berichtet
, eine wirkliche und umfassende Neubearbeitung
dar. Nunmehr konzentriert sich das Werk, unter Ausschluß
aller praktischen Nebentendenzen, auf seine rein
theoretische Aufgabe und bemüht sich im Sinn einer
kulturphilosophischen Grundlegung um den Nachweis
der alle historische Erfahrung bedingenden Grundbeziehungen
, wie denn Verf. gerade in der Methode
dieses Nachweises seit der 1. Auflage zu größerer Konsequenz
und Klarheit gediehen zu sein sich bewußt ist.
Die Einleitung, die über die beherrschenden methodischen
Gesichtspunkte Aufschluß gibt, ist vielleicht das
schwierigste Stück des Ganzen; Verfasser scheint
selbst noch um den endgültigen Ausdruck zu ringen. Es
handelt sich um die Strukturgesetze oder Strukturformen
des gesellschaftlichen Lebens, die weder von der
Psychologie noch von der Soziologie aufgedeckt werden
können, die vielmehr von beiden vorausgesetzt werden
müssen, sollen sie auf sicherem Grund stehen. Also soll
die sog. phänomenologische Strukturanalyse, die sich
zunächst als Analyse des typischen sinnvollen Einzelerlebnisses
gegenüber der empirisch-induktiven generalisierenden
Psychologie das Feld erobert hat, hier für
einen breiteren Umfang, eben den Gesamtkomplex der
seelisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit, geübt werden.
Nicht nur die geistigen Akte fordern eine Erforschung
ihrer Aufbauprinzipien, sondern ebenso die Einheit des
seelischen Geschehens, worin sich die Akte zusammenfassen
, das, was wir Ich, Person, Seele nennen, was in
jedem Erlebnis enthalten ist, — Faktoren, die sofort
über die Grenzen des Individuums hinaus in die
zwischenmenschlichen Verflechtungen, in die gesellschaftliche
Sphäre hineinführen. Die hier einsetzende
Untersuchung läßt von vornherein die Scheidung von
Einzelwesen und sozialer Verbindung hinter sich, sie
ergreift eine einheitliche Wirklichkeit stets gewissermaßen
von zwei Seiten her, nicht so, als wären diese
äußerlich zusammengefügt und darum voneinander unabhängig
, sondern so, daß stets ihre strukturelle Polarität
gegenwärtig bleibt. Der Blick darf dabei nicht
lediglich am Inhalt der korrrelativen Urteile haften —
inhaltlich treten ganz verschiedene Größen nebeneinander
—, vielmehr muß die Entstehungsform der Urteile
, der Prozeß ihrer Gewinnung immerzu lebendig
vor Augen stehen. Warum das „nachträglich" ge-

! schehen soll, begreife ich nicht recht, es ist doch die
Hauptsache, und das andere ist vorläufige Auskunft.
Litt will ein solches seine eigene Bewegung festhalten-

! des Denken „dialektisch" nennen, vielleicht darf man zu-

| gleich an die von Fichte inaugurierte „genetische"
Methode erinnern; damit würde wohl Hand in Hand
gehen das alsbald genannte rekonstruktive Moment, das
rückschließend die lebendige, im Fortschreiten ' sich
polar differenzierende Einheit aufsucht. Da nun alle

: Gegensatzpaare sich nicht in eine einfache Linie ordnen,
sondern die mannigfachen Aspekte einer ursprünglich
einheitlichen Wirklichkeit sind, wird schön und mit
Recht von vom zyklischen Charakter der ganzen Arbeit

! gesprochen. Dadurch würde dort, wo es auf den letzten
< lehalt der sich emporkämpfenden geschichtlichen Wirklichkeit
ankommt, nicht wie hier auf die allem Kampf

| vorausliegenden gemeinsemen Grundlagen, ein drama-

I tisches, zu einer bestimmten Entscheidung drängendes
Verfahren (etwa im Sinne Euckens) nicht ausgeschlossen
.

Dieses Verfahren steht von einem deduktiv konstruierenden
Apriorismus ebensoweit ab wie von der em-
I pirisehen Psychologie. Die geschichtliche Wirklichkeit