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Ausgabe:

1925 Nr. 10

Spalte:

236

Autor/Hrsg.:

Pfannmüller, Gustav

Titel/Untertitel:

Goethe und das Kirchenlied 1925

Rezensent:

Smend, Julius

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235

Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 10.

236

stärksten theoretisch und systematisch, auch organisatorisch
mit der Erziehung beschäftigt. Bei Schiller
tritt die Jugendbildung stark zurück hinter dem Gedanken
der „ästhetischen Erziehung", den L. als Mittelpunkt
der ganzen Lebensarbeit des Dichters kräftig
herausarbeitet, ohne hier so viel Neues, Haltbares zu
bringen, als in den andern Abschnitten. Den Höhepunkt
seines ganzen Buches aber bildet der Abschnitt
über Goethe. Hier noch viel mehr wie bei Schiller
müssen wir uns die wichtigsten, geschlossensten, auch
in der Darstellung geklärtesten Bekenntnisse aus den
Kunstwerken herausholen; vor allem ist es der „Wilhelm
Meister", dem L. eine eingehende Analyse widmet,
dessen Gedankenwelt er im Zusammenhange mit
Goethes ganzer persönlicher, künstlerischer und philosophischer
Entwicklung vor unsern Augen ausbreitet
und an dem er in unübertrefflicher Weise zeigt, wie gerade
die erzieherischen Fragen sich kraft der Goethe
innewohnenden Polarität immer schärfer dialektisch entfalten
, zur Fortführung des Werkes drängen und seine
Komposition, zuletzt sehr zum Schaden der künstlerischen
Vollendung, nachhaltig beeinflussen. Es war
keine Kleinigkeit, die Basis für diese Betrachtungen
in den Grundzügen von Goethes Persönlichkeit und
seiner Weltanschauung zu schaffen, ohne vom Thema
abzukommen und ohne eine bloße Menge unzusammenhängender
Beobachtungen darzubieten. Dieser ganze
Abschnitt ist ein Muster des künstlerischen Aufbaus
wissenschaftlicher Arbeiten und wird die Grundlinien
der neuen Auffassung von Goethes pädagogischer Problematik
und Theorie nur um so stärker nachwirken
lassen. Es sind ja auch Probleme, um die kein Pädagog
der Gegenwart herumkommt, die Goethe in der Folge
seines Lebens mit unbeirrbarer Sicherheit ergriffen und,
soweit das überhaupt möglich war, einer Lösung im
Sinne seiner Lebensstimmung entgegengeführt hat: die
Frage der Selbsterziehung in ihrem Verhältnis zu der
Leitung von außen her, der Gegensatz von bloßer Entwicklung
und bewußter Höherbildung, das Problem des
Ausgleichs zwischen den individuellen Bestimmungen
und den Forderungen der Allgemeinheit. Der Begriff
der „Ehrfurcht", zu dem sich Goethe zuletzt emporschwingt
und den er mit größter Liebe herausarbeitet,
soll als inneres Band zwischen Freiheit und Gesetz
gelten. Wir sind mit L. durchaus der Ansicht, daß
Goethe, trotz einiger scheinbar entgegenstehenden Äußerungen
, in dieser Ehrfurcht einen selbständigen Trieb der
Menschenseele gesehen hat, der freilich nicht unmittelbar
im empirischen Leben sich äußert und durch das
Schwimmen im Strome der Welt geweckt und genährt
wird, sondern ein Tiefergraben, ein Aufdecken verborgener
Seelenschächte erfordert. In diesem Sinne
spricht der alte Goethe, im Hinblick auf die in diesem
Boden wurzelnde Religion, die von L. leider nicht herangezogenen
Worte: „In unsres Busens Tiefe (!) wogt ein
Streben, sich einem neuen, reinem Unbekannten aus
Dankbarkeit freiwillig hinzugeben, enträtselnd sich dem
ewig Ungenannten — wir heißen's fromm sein."

Hier noch einige weitere Bemerkungen zu L.'s Goethedarstellung.
Stark unterschätzt ist durchweg Q.s Stellung zur positiven Religion, insbesondere
zum persönlichen Qottesbegriff (S. 254f.), der für Q. mehr
als bloß symbolische Bedeutung hatte. Nicht einmal nur hat Q. betont,
daß er dieses Qottesbegriffs für seine sittliche Persönlichkeit bedürfe
(Vcrgl. u. a. Maximen und Reflexionen ed. Hecker, Nr. 807), und
das persönliche Plus über der ungeheuren Kompliziertheit der lebendigen
„Natur" kann aus seinem Weltbilde nicht wohl getilgt werden.
Ebenso wenig kann ich mich L.'s Behandlung von Goethes Äußerungen
über die Unsterblichkeit oder über die Fortentwickelung der
Entelechie nach dem Tode anschließen. Ich darf hier auf'meinen Aufsatz
über „Goethes Stellung zur Unsterblichkeitsfrage" verweisen, der
soeben in meiner Sammlung „Gehalt und Form", S. 513 in verbesserter
Gestalt erscheint (Dortmund, Ruhfus 1925), und darf mich
ferner auf die vortrefflichen Ausführungen von H. Rick er t in der
„Deutschen Vierteljahrsschrift" Bd. III S. 65 ff. berufen. Der Präzisierung
bedürften auch die Ausführungen über das Dämonische,
261 ff., die übrigens in einer sehr bemerkenswerten Deutung der
„Urworte" ausklingen. Die Frage nach der „dämonischen" Anlage
führt weiterhin auf das Problem des „Irrtums", das ja noch für
die Fortführung der Fausttragödie beim alten Goethe so bedeutsam
wurde. Es gehört zu den hervorragendsten Verdiensten L.'s, auch in
dieser Frage bei G. starke Widersprüche nachgewiesen zu haben,
die mit der Polarität seines Wesens zusammenhängen. Bei der
Frage „Universalität und Totalität", die wiederum von L., im Anschluß
an Spranger, um ein gut Stück gefördert wurde, hätte Fausts
zweites Gespräch mit Mephistopheles herangezogen werden sollen.
Unter polarem Gesichtspunkt ist endlich jener Widerspruch zwischen
erzieherischen Ansichten des Abbe's und Nataliens, zwischen dem
Prinzip der freien Jndividualität und dem des Gesetzes zu verstehen.
Beide Begriffe stehen eben für Goethe in einer festen Korrelation,
die einer lebendigen Zwei-Einheit entspricht. Das Individuum findet
sich zu sich selbst erst im zunächst pathologischen Zusammenprall,
weiterhin in immer fruchtbarerer Auseinandersetzung mit dein Gesetz,
und das Gesetz entwickelt seine Ehrwürde und Schönheit erst in
steter, klärender Reibung mit den zunächst widerstrebenden, endlieh
sich ihm beugenden und es läuternden Persönlichkeiten.

L. betont am Schluß seiner Darstellung mit vollem
Recht die starken Übereinstimmungen der gegenwärtigen
Problematik der Erziehung mit derjenigen Goethes.
Wenn die moderne Bewegung über ihn hinweg an
Rousseau anknüpfte und aus seinem Denken nicht immer
die mögliche Anregung und Förderung schöpfte, so
ist eben der eigentümliche Vortrag Goethes schuld
daran. Ihm lag das Theoretisieren weniger als das
Gestalten — nicht zum wenigsten deswegen, weil er
beim Gestalten eben die Zwiespältigkeit, die Doppelseitigkeit
jeder gewonnenen Erkenntnis, die Kehrseite
jedes eingenommenen Standpunktes gleich mit zur Darstellung
bringen konnte.

Hamburg. Robert P c ts c h.

Pfannmflller, Prof. D.Gustav: Goethe und das Kirchenlied.

Ein Beitrag zum Streit um Goethes „Joseph". Hamburg: W.
Genie 1924. (99 S.) gr. 8°. Gm. 2—.

Der Verf. setzt mit Glück die Untersuchungen P. Pipers, M.
Schnitzers, Berendsohns fort. Daß das Frankfurter Gesangbuch von
1718 dem Dichter des in Altona aufgefundenen Epos „Joseph" gerade
in den Stücken vertraut gewesen ist, die der Frau Rat und ihrem
Sohne besonders wert waren, ist mit Sicherheit nachgewiesen. Und
daß gewisse Motive (Einsamkeit, Sorge) dem jungen Goethe genau
so eigen gewesen sind und ihn zu übereinstimmenden poetischen
Äußerungen veranlaßt haben wie den Verfasser des „Joseph", ist ebenfalls
vollkommen klargestellt. So gewinnt die Annahme, daß jenes
Epos mit dem seit 1767 verschollenen Jugendwerke Goethes identisch
sei, ganz außerordentlich an Wahrscheinlichkeit, wenn man auch vorsichtigerweise
den Ausdruck „Beweis" noch meiden sollte.

Münster i. W. J. Smend.

Vorländer, Karl: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk.
2 Bde. Leipzig: F. Meiner 1924. (XII, 430 S. u. VI, 404 S. u. 2
Bilder.) gr. 8°. Rm. 24—; geb. 30—.

Das Ziel V.s ist nach dem Vorwort „eine umfassende
, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende und
doch für alle wirklich gebildeten Deutschen lesbare
Biographie" Kants, „im Sinne der Darstellung seines
Lebens und seines Lebenswerkes". Er will nicht nur ein
Buch für die Gelehrten schreiben (verzichtet im Gegenteil
auf die Fülle des gelehrten und kritischen Apparats),
sondern den großen Philosophen als Menschen und
Denker in historisch treuer Weise für unsere Zeit lebendig
machen; er läßt „ihn daher auch mit Absicht möglichst
häufig selbst zu Worte kommen, anstatt mehr
oder minder geistreiche Gedanken über ihn zu äußern".
Das Werk soll V.s Lebensarbeit an Kant zum Abschluß
und zur Krönung bringen. So zeichnet er ein überaus
reiches Bild; überall spürt man, wie er aus dem Vollen
schöpft, und doch ordnet sich alles in übersichtliche,
einfache Linien; die Darstellung ist nicht nur wie verheißen
leicht lesbar, sondern auch eindrucksvoll. Da
bisher ein ähnliches umfassendes Werk fehlte, verdient
V. großen Dank. Sein Werk ist eine Schatzkammer soliden
Wissens, ein Führer durch Kants Leben und
Schrifttum; es ist für alle, die sich ernsthaft um Kant
bemühen, unentbehrlich und wird hoffentlich helfen,
auch mit dem Menschen Kant stärkere Fühlung zu gewinnen
. — Das Ganze gliedert sich in vier Bücher.