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Ausgabe:

1925 Nr. 1

Spalte:

3-5

Autor/Hrsg.:

Friedrich u. a., J.

Titel/Untertitel:

Stand und Aufgaben der Sprachwissenschaft. Festschrift für Wilhelm Streitberg 1925

Rezensent:

Dibelius, Martin

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Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 1.

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säcker, Wellhausen einerseits und Kahler, v. Orsingen, Pütt, Zahn anderseits. Dieser Ruhm, Gelehrte aus
allen Lagern und Richtungen zu vereinigen, ist der Theologischen Literaturzeitung geblieben, wenn auch zeitweilig, wenn
die Wellen der theologischen und kirchlichen Bewegungen hoch gingen, dieser und jener sich zurückgezogen hat, weil es
bei aller Unparteilichkeit der Redaktion doch unverkennbar war, daß diese Zeitung der freien wissenschaftlichen
Theologie gehört. Diese hat es immer abgelehnt, sich als „liberale" bezeichnen zu lassen, da diese Bezeichnung so
unpassend ist wie die einer „liberalen Botanik"; allein vielleicht ist es angezeigt, heute diesen Namen als Ehrennamen aufzunehmen
, da evangelische Theologen vom „Bankerott" der „liberalen" Theologie sprechen. Man braucht die Sache nicht
tragisch zu nehmen; denn sie wissen nicht, was sie tun, und werden selbst bald Wasser in ihren Wein gießen oder aus
der wissenschaftlichen Theologie ausscheiden. Was sie uns lehren konnten und gelehrt haben, konnte minder anspruchsvoll
, bescheidener und in den gewohnten Formen wissenschaftlicher Aussprache geschehen.

Die Theologische Literaturzeitung ist, wie jüngst, so in allen Jahrzehnten auf der von Sch ürer vorgezeichneten Bahn
unbeirrt, bald schneller, bald langsamer, geschritten. Viele Jahre hindurch hat er selbst die Redaktion geführt — auf ein paar
Jahre hatte ich sie übernommen, dann trat er wieder ein —, hierauf wechselten die Redaktionen, aber der Geist der Zeitschrift
blieb unverändert; denn die theologische Eigenart und Farbe des jeweiligen Redakteurs war ja nur wilkommen und
bedeutete prinzipiell keinen Wechsel.

Was hat die Theologische Literaturzeitung in den 49 Jahren ihres Bestehens geleistet? Man kann es mit einem Worte
sagen: sie hat nach innen und nach außen den Gehalt und das Ansehen der theologischen Wissenschaft gestärkt und
sich also um ihren Aufschwung aufs kräftigste verdient gemacht. Theologe zu sein ist keine Schande mehr wie vor
fünfzig Jahren!

Blicke ich rückwärts, so sind es fast nur noch Schatten, die vor meinen Blicken aufsteigen. Von den 53 Mitarbeitern
des Jahres 1876 leben nur noch fünf (oder vielleicht noch sieben?). Ich grüße den Ältesten unter uns, Prof. Zahn in Erlangen;
er wird über alles Trennende hinweg den Gruß freundlich aufnehmen; ich grüße die Berliner Freunde, Grafen v. Baudissin
und Kaftan und den Halle'schen Freund Kattenbusch; die übrigen sind entschlafen, aber nicht vergessen.

Blicke ich vorwärts, so macht mir für die Zukunft der Nachwuchs Sorge, weil ihm die theologischen
Richtlinien verblassen und unsicherer werden und weil die wirtschaftliche Not ein ausreichendes wissenschaftliches Studium
unmöglich zu machen droht. Unter sieben Jahren hingebender Arbeit kann auch der Begabteste heute nicht die Höhe
ersteigen, auf welcher die Aufgaben der wissenschaftlichen Disziplinen liegen; wie wenige aber sind in unsrer Zeit in
der Lage, nach dem 18. Jahr eine so lange Zeit hindurch ohne eigenes Einkommen zu leben! Aus drohender Verwirrung
der Geister müssen wir die Jugend zur Schlichtheit ernster Wissenschaft und zur Einfalt des evangelischen Glaubens
führen. Dazu kann auch, wie bisher, diese Zeitung helfen. Die andere Aufgabe liegt außerhalb ihres Vermögens; aber
ihre Mitarbeiter sollen nicht müde werden, die „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft" und private Hilfe zur
Förderung des Nachwuchses anzurufen.

Stand und Aufgaben der Sprachwissenschaft. Festschrift für
Wilhelm Streitberg. Von J. Friedrich, J. B. Hofmann, W.Horn
u.a. Heidelberg: Carl Winter 1924. (XIX, 683 S.) gr. 8°.

Gm. 22—; geb. 24.50.

Es liegt weder innerhalb meiner Zuständigkeit noch
kann es in der ThLZ. meine Aufgabe sein, jeden einzelnen
Beitrag dieser reichhaltigen Festschrift zu würdigen
. Ich beschränke mich darum auf eine Kennzeichnung
des Inhalts und die Heraushebung einiger für die
Leser dieser Zeitschrift besonders wichtigen Arbeiten.
Bezeichnend für das Ganze ist, daß die meisten Aufsätze
in Referat, Kritik oder eigener Linienführung die
wissenschaftliche Lage des betreffenden Arbeitsgebietes
darstellen wollen. In diesem Sinn haben sich Hans
Reichelt (Indisch und Iranisch), Heinrich L. Zell er
(Armenisch), Johannes Friedrich (Hethitisch), Adolf
Walter (Griechisch), Joh. Bapt. Hof mann (Altitalische
Dialekte), Carl Karstien (Altgermanische
Dialekte), Victor Michels (Deutsch), Wilhelm Horn
(Englisch), Jorgu Jordan (Romanische Sprachen),
Franz Specht (Baltische Sprachen) und Karl H.
Meyer (Slawisch) betätigt. Außerdem haben Ferdinand
Sommer (Zum vedischen Sandhi), Josef Weisweiler
(Bedeutungsgeschichte, Linguistik und Philologie
. Geschichte des ahd. Wortes euua), Walter Porzig
(Aufgaben der indogermanischen Syntax) und
Alois Walde (6-farbige Rediktionsvokale im Indogermanischen
) Sonderfragen behandelt, während Heinrich
F. J. Junker den Band mit einem umfangreichen
Aufsatz über die indogermanische und die allgemeine
Sprachwissenschaft eröffnet. Diesen vom
Grundsätzlichen ins Einzelne gehenden Ausführungen
gebührt das Interesse der Theologen namentlich dort,
wo Junker im Anschluß an Bühler von den sprach-
psychologischen Leistungen des Menschen handelt. Die
biologisch „älteste" d. h. natürlichste Leistung ist die
„Auslösung" mit ihrem einphasigen Verlauf vom Sprecher
zum Angesprochenen; Befehl, Anruf sind Beispiele

dafür. Die nächste Leistung, von Bühler mit nicht ganz
eindeutigem Namen „Kundgabe" bezeichnet, stellt eine
soziale, zu einem Partner hin gerichtete Reaktion auf
ein Gefühl, eine Erkenntnis usw. dar, ist also zwei-
phasig; ein freudiges Aha bei einer geistigen Erkenntnis
ist ebenso ein Beispiel wie das Weinen des hungernden
Säuglings. Die biologisch jüngste Leistung ist die Darstellung
(Mitteilung, Aussage), deren Art keiner Erläuterung
bedarf. Von diesem Bühlerschen System führt
J. seine Leser zu dem „Dreischritt von 1. 2. und 3.
Person": das Du entspricht der „Auslösung", das Ich
der „Kundgabe", das Er der „Darstellung". In dieser
methodologischen Richtung bewegen sich P.s Ausführungen
auch sonst; denn „der Indogermanist ist Sprachforscher
, oder er ist wissenschaftlich überhaupt nichts".
— Weiter möchte ich die Leser auf das schon genannte
allgemein orientierende, im eigenen Urteil zurückhaltende
Referat von Walter über Griechisch hinweisen,
aus dem man auch für die Geschichte der Wissenschaft
(Streit Georg Curtius-Brugmann) einiges lernt. — Nicht
zuletzt interessieren uns die beiden Aufsätze über die
Schallanalyse. Eduard Sievers selbst hat zwei an
verschiedenen Orten gehaltene Vorträge über Ziele und
Wege der Schallanalyse beigesteuert, in denen er die bekannten
Rutzschen Unterscheidungen wesentlich differenziert
und vertieft und die Rutzsche Lehre, jedes
Individuum habe nur eine Stimmart, durch Beobachtungen
an seiner eigenen literarischen Produktion widerlegt
. Wenn S. damit recht hat (woran ich nicht zweifle),
so ist freilich die Begründung von Interpolationshypothesen
auf die Schallanalyse kein sicheres Beweismittel.
Fritz Karg führt in der Arbeit „Sprachwissenschaft
und Schallanalyse" die Ansprüche der Schallanalytiker
auf ein Maß zurück, das mir durchaus diskutabel scheint
und rückt so das ganze Thema auch für den durch
Schanzes Versuch am Galaterbrief mißtrauisch gewordenen
Theologen in ein neues Licht. Er berichtet
über Versuche, die er selbst auf Veranlassung von Streit-