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Ausgabe:

1925 Nr. 9

Spalte:

214-215

Autor/Hrsg.:

Stange, Carl

Titel/Untertitel:

Christliche und philosophische Weltanschauung 1925

Rezensent:

Lüttge, Willy

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213

Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 9.

214

Weber, Hans Emil: Das Geisteserbe der Gegenwart und die
Theologie. Leipzig: A. Deichert 1925. (X, 163 S.) gr. 8°.

s Rm. 5.80; geb. 7.80.

Das Buch ist in doppeltem Sinn kein gemachtes,
sondern ein gewachsenes. Einmal, weil sein Gegenstand
in der eigentümlichen Geisteslage der Gegenwart
sich aufdrängt. Nachdem in weitesten Kreisen erkannt
war, daß die Theologie durch voreilige, ungeprüfte Verbindung
mit dem modernen Bewußtsein sich um ihre Wahrheit
betrüge, ist es verständlich, daß man in der rücksichtslosen
Betonung des Gegensatzes das Heil sieht, sei es,
daß man dabei auf irgend welchen Wegen zu einer Re-
pristination der Vergangenheit gelangt, sei es, daß man,
viel eindrucksvoller, in Paradoxien und Antinomien
schwelgend, die Prophetie eines ungeheuren Neuen, ganz
Anderen wagt. Man kann für diesen Sturm und Drang
als für ein luftreinigendes Gewitter viel Verständnis
haben; aber man wird doch sagen dürfen, schon wieder
wächst, zumal in der Stille, die Schar derer, die,
im Innersten unbefriedigt, von diesem gewaltsamen Weg
sich abwenden und einen wirklich gangbaren, mit klaren
Worten zu bezeichnenden suchen. Solche begrüßen es,
wenn die vorliegende Schrift ohne jede Zweideutigkeit
erklärt: Die Flucht in die Vergangenheit, die doch nie
einfach Gegenwart sein kann, ist kein Ausweg; und
(jener andere Versuch) die Vorspiegelung einer reinen
Überzeitlichkeit bleibt ein Trug. Es ist ein reiches
Geisteserbe, das die Theologie aus der allgemeinen
Geisteslage empfängt; sie kann und soll auf dieses geschichtlich
gewordene Erbe eingehen, sie soll die Wahrheit
der Prinzipien anerkennen, an deren Ausbildung das
Christentum als geschichtliche Geistesmacht mit seinen
Anregungen und seiner Geisteserziehung mitbeteiligt
ist. Aber sie muß auch die Vereinseitigung und Verzerrung
sehen und aufdecken, muß klaren Blick haben
für die Krise, in welche das Geistesleben durch seine
Prinzipien hineingerissen wird. Dann darf sie sich berufen
wissen, in ihrer Art die Wahrheit frei zu machen,
wenn anders von dem Glauben gesagt werden darf, daß
er in seiner Art auch die Geistes- und Lebenskrise der
Moderne löst. So bekommt die Auseinandersetzung der
Theologie mit dem Geisteserbe der Gegenwart ihre
spannungsvolle Bewegung, ihre eigentümliche Dialektik,
ihren Rhythmus. Die Theologie des Glaubens hat die
Wahrheit in den Einstellungen des modernen Geistes
aus den Verwicklungen, aus der Unwahrheit zu befreien
. Eine Vergleicnung mit Eiert einerseits, mit Karl
Barth andrerseits legt Weber in leiser und vornehm
würdigender Andeutung von selbst nahe. Und eben diese
persönliche Haltung des ganzen Buchs muß hervor-
ehoben werden zum Beweis des vorangeschickten
atzes, daß es auch in dieser Hinsicht kein gemachtes,
sondern ein gewachsenes ist. Wie es einem Zeitbedürfnis
entspricht, so ist es ein durchaus persönliches.
Deutlich ein langsam gereiftes, ein in umfassender
Kenntnisnahme aller andern Standpunkte gefestigtes.
Die offenbar absichtlich sparsamen Verweise zeigen
eine ungewöhnliche Belesenheit und werfen oft schlagendes
Licht auf die verhandelten Probleme. Besonders
erfreut die parteilose Gerechtigkeit. Manche Abschnitte
wie etwa über die Gebrochenheit des Lebens, die praktisch
-ethische Irrationalität (S. 125 ff.) haben stärkste
Überzeugungskraft. An einzelnen Punkten wünscht wohl
der Leser noch deutlichere Belehrung, wird aber auch
da die Größe und Schwierigkeit des Gegenstandes in
Rechnung nehmen.

Drei Grundrichtungen charakterisieren das Geisteserbe
der Gegenwart: der Subjektivismus in der Erkenntnis
wie in der praktischen Lebensgestaltung; die
Welteinstellung als immanenter Evolutionismus, speziell
als Historismus; der Irrationalismus als Sinn für das
Ubervernünftige und Vernunftwidrige. Wieder jeder dieser
Teile ist dreifach geteilt: die betreffende Grundrichtung
wird charakterisiert und auf ihre Stellung zur
religiösen Frage hinausgeführt; dann die theologische

Arbeit in ihrem Zeichen geschildert; endlich die Aufgabe
der Theologie in der Auseinandersetzung mit ihr
aufgezeigt. Letzteres bedeutet im ersten Teil die Aufgabe
der Glaubenstheologie, das Wesensverständnis des
Glaubens, seine Subjektivität und Objektivität; im zweiten
die Geschichtsmystik des Versöhnungsglaubens als
Gegenstand christlicher Geschichtstheologie; im dritten
die Wahrheit der Theologie in der Durchführung des
Irrationalismus. Es ist nicht möglich, den reichen Inhalt
dieser Abschnitte auch nur anzudeuten; ihr feiner
Parallelismus erleichtert die Einfühlung. Aber, so unentbehrlich
für das Ganze dieser theologischen Wissenschaftslehre
alles hier Gebotene ist, als die eigenste und
inhaltschwerste Gabe des Verfassers wird man doch
den dritten Abschnitt des zweiten Teils bezeichnen
dürfen. Hier wird zuerst der christliche Offenbarungs-
glaube in seinem besonderen Inhalt als Versöhnungsglaube
entwickelt und die Vertretung als Form der Versöhnungsoffenbarung
dargetan. Dann folgt die Zentralfrage
des ,,gegenwärtig-Werdens des Übergeschichtlichen
der Geschichte". Denn die Vergangenheit, die Geschichte
, hat bürgende Kraft, aber dieser Glaubensgrund
kann nicht einfach vergangene Geschichte sein.
„Was Jesus ist, ist er, weil er das war, was er war";
und „was er war, enthüllt sich gerade auch in dem,
was er dem Glauben ist und wird" (S. 85). Dieses
Einswerden von Geschichte und Gegenwart nennt der
Verf. die „Geschichtsmystik" des Christentums. Er
macht selbst lebhaft aufmerksam auf die scheinbar unlösbare
Paradoxie dieses Begriffs und löst sie durch
den Nachweis, daß die Anerkennung des Mystischen
auch in unsrer Religion deutlichen Inhalt und gewissen
Grund einzig und allein gewinne im Christusglauben;
christliche Glaubensmystik weist unmittelbar auf den
Lebensquell der Gottesoffenbarung in Christus. Auch
hier ist nicht mehr möglich als ein Hinweis auf diese
Ausführung; besonders beachtenswert dürfte es sein,daß
gerade auch das sittliche Wesen des Glaubens als Bestätigung
für die Wahrheit des Grundgedankens aufgerufen
wird (S. 89). Wertlos wäre ein doch nur flüchtiges
Urteil des Berichterstatters. Er muß und darf auf
den Anfang zurückgreifen, daß das Problem ein von
der heutigen Lage dringlich gestelltes ist. Auch die
bloße Nennung der vielen sehr verschiedenen dogmatischen
Mitarbeiter würde leicht nur verwirren. Lieber
j sei an die ernste und schon vielfach wirksame Aufforderung
erinnert, die in dem großen Lutherstudium der
Gegenwart liegt. Nur wenigstens der leise andeutende,
aber nur umso inhaltsreichere Bericht Steinmanns
in der Z. Th. K. 1905, 1 sei genannt und Katten-
buschs neueste 4. Bearbeitung seines „Von Schleier-
macher zu Ritsehl". Man mag daraus sehen, wel-
I che Fortschritte seit Kählers, vom Verfasser unsres
: Buchs mit berechtigter Pietät hervorgehobenen, „Der
; Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte"
| gemacht sind; ferner wie auch unser Verfasser Einwände
j gegen sein früheres Werk „Schriftforschung und Bibel-
I glaube"2, etwa die Formulierung „theologische Ge-
| Schichtschreibung", in dem jetzigen größern Zusammenhang
überwunden hat; namentlich aber, welche Freiheit
im einzelnen die Übereinstimmung mit seinem
! Grundgedanken gewährt. Möchte denn seine „Ausein-
j andersetzung mit dem Geisteserbe der Gegenwart der
I Theologie dazu dienen, ihr Eigenerbe zu ergreifen, da-
} mit durch alle geschichtliche Wandelbarkeit und alle
j individuelle Einseitigkeit das Ewige hindurchscheine,
! Gottes Wort, das ewig bleibt."

Tübingen. Th. Haering d. A.

I Stange, Prof. D. Carl: Christliche und philosophische Weltanschauung
. Gütersloh: C. Bertelsmann 1923. (136 S.) kl. 8°.

Rm. 2-.

In schlichter Form, für weite Kreise, ist die Frage
und Not des Gedankens, die in dem Thema sich birgt,
i aufgenommen. Behutsam ist alles umgrenzt. Keine
Übersteigerung in Thesis und Antithesis blendet den