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Ausgabe: | 1925 |
Spalte: | 207-208 |
Autor/Hrsg.: | Bredt, Joh. Victor |
Titel/Untertitel: | Der Geist der Deutschen Reichsverfassung 1925 |
Rezensent: | Sehling, Emil |
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207
Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 9.
vertretene Auffassung etwas ab und modifiziert sie in
der Richtung auf den Relativismus hin.
Die zweite Abteilung trägt den Titel „Ethik und
Geschichtsphilosophie" und setzt sich aus drei Vorträgen
zusammen. Zunächst wird die „Persönlichkeits- und Gewissensmoral
" in Betracht gezogen. Von Kant in den
Vordergrund gestellt, gipfelt sie in dem Ideal der Persönlichkeit
sowohl für das Individuum wie auch für das
überindividuelle Ganze. Sie ist übergeschichtlich und
überzeitlich, vermag den Strom des geschichtlichen Lebens
nie vollkommen zu meistern und zu regulieren und
kann immer nur approximativ verwirklicht werden. —
Etwas anders die „Ethik der Kulturwerte". Sie ist imstande
, einen größeren Einfluß auf die Gestaltung des
geschichtlichen Lebens auszuüben, bleibt aber durch die
zeitlichen Verhältnisse und Umstände bedingt, da die ;
verschiedenen Epochen der Geschichte bald diesen, bald
jenen Kulturwert als den höchsten einschätzen und in
den Mittelpunkt stellen werden. — Was endlich die Ethik
des „Gemeingeistes" betrifft, so gibt es eine Ethik des
üemeingeistes der Menschheit nicht, weil es wohl einen
Gemeingeist einzelner Gruppen, nicht aber einen Gemeingeist
der Menschheit gibt. Sie kann aber angestrebt
und geschaffen werden; zwar nicht durch die
Kirche oder die Kirchen, die dazu nicht fähig sind; jedoch
als eine Ethik, die, von einzelnen Kreisen ausgehend
, sich immer weiter verbreitet und, sowohl die
„Persönlichkeits- und Gewissensmoral" als auch die
„Moral der Kulturwerte" in sich schließend, auf einer
bestimmten festen metaphysischen Grundlage und einer
„neuen Liebe" beruhen wird. Eine solche Ethik könnte
wohl den Strom des geschichtlichen Lebens meistern und
regulieren, indessen dies auch niemals permanent und
nur unter einem ständigen Kampf. — Soweit in kurzen
Worten der Inhalt des Abschnitts, der es mit „Ethik und
Geschichtsphilosophie" zu tun haben will. Die drei Vorträge
zusammengenommen tragen echt Troeltsch'sches
Gepräge; sie erscheinen als ein Zeugnis stupender
Elastizität und Beweglichkeit des Intellekts, eröffnen
mancherlei Perspektiven, sind selbstverständlich voll
geistreicher Gedanken und Bemerkungen, anregend — und
oft auch kontrovers. So läßt sich nicht leugnen, daß es
leicht verwirrend wirken kann, wenn verschiedene Me- I
thoden oder Formen der Ethik gleichsam zu drei Ethiken
hypostasiert werden, während es doch als geltende
nur eine Ethik geben kann.
Die dritte Abteilung enthält dann wieder nur einen
einzigen Vortrag unter dem Titel „Politik, Patriotismus,
Religion", aber vielleicht den aktuellsten der Sammlung.
Er geht davon aus, daß zwischen Politik einerseits und
Stammes- oder Volksreligion anderseits keine Reibungen
möglich sind; wohl aber zwischen Politik einerseits und
universalistischen Religionen, gleich der christlichen, anderseits
. Mindestens zwei Möglichkeiten stellen sich da
ein: hier die mittelalterliche völlige Unterordnung der
Politik unter die Religion; dort die machiavellistische
völlige Emanzipation der Politik von der Religion. Der
Verfasser selbst tritt für das ein, was er einen Kompromiß
nennt: Anerkennung der Eigengesetzlichkeit der
Politik; daneben aber auch des Wertes der religiösen
Ideale; so zwar, daß diese die Selbständigkeit der politischen
Ziele gelten lassen, jedoch zugleich versöhnend
und ausgleichend'auf die durch die Politik geschaffenen
Gegensätze einwirken können. In diesen Zusammenhang
fällt noch eine Warnung davor, politischen Sinn und
politische Tätigkeit ohne weiteres mit Patriotismus zu
identifizieren — eine an sich gewiß berechtigte Warnung
.
Gießen. E. W. Mayer (Straßburg).
Bredt, Prof. Dr. jur. et phil. Joh. Victor: Der Geist der Deutschen
Reichsverfassung, Berlin: Georg Stilke 1924. (465 u. 8 S.) 8°.
Rm. 8—; geb. 12—.
Wie den Lesern dieser Zeitschrift bekannt ist,
schreibt der Verfasser ein Evangelisches Kirchenrecht
Preußens, in einer ganz neuen, eigenartigen Auffassung
des Stoffes. Ich habe darüber schon an dieser Stelle
Bericht erstattet. Jetzt war der dritte Band fällig, der
das neugeschaffene positive Recht der evangelischen
Kirchen Preußens bringen sollte. Aber der Verf. bietet
etwas ganz anderes. In seinem Vorwort erörtert er ausführlich
, warum er die erwartete und von ihm selbst angekündigte
Darstellung des ev. Kirchenrechts Preußens
trotz der Vollendung der Kirchenverfassungen und des
maßgebenden Staatsgesetzes noch nicht bringen, auch auf
eine Behandlung des Verhältnisses von Staat und Kirche
noch nicht eingehen könne. Als eine Art Vorarbeit und
Auftakt zu späteren Bänden des Kirchenrechtes bietet
er heute ein Buch, das er „Der Geist der Deutschen
Reichsverfassung" betitelt. („Der Geist der preußischen
Staatsverfassung" ist zwar ähnlichen Wesens; bedarf
aber doch auch noch der Beurteilung.) In der schon
früher geschilderten Eigenart bietet der Verf. eine Reihe
geistvoller Essays über den geistigen Gehalt und die
Grundideen der Reichsverfassung, unter dem Gesichtspunkte
der Kulturentwicklung. Für den Leserkreis
unserer Zeitschrift ist natürlich das Kapitel „Religion
und Reichsverfassung" besonders belangreich. Man beachte
die Fülle der Probleme, welche allein der Art. 137
wachgerufen hat. Wenn die Darstellung auch nur preußische
Verhältnisse im Auge hat — auf bayrische z. B.
trifft nicht alles Gesagte zu —, und wenn den Ausführungen
auch nicht in allen Punkten zugestimmt zu werden
braucht, so ist doch die Fülle der Gedanken, die
auch dieses geistvolle Buch enthält, höchst erfreulich
und zur Nachprüfung und weiteren Behandlung anregend
.
Erlangen. E. Schling.
Lenz, Dr. Georg: Die Bedeutung des Protestantismus für den
Aufbau einer allgemeinen Staatslehre. Tübingen: J.C.B.
Mohr 1024. (47 S.) gr. 8°. Sammlung genieinverst. Vortr. u.
Schriften aus d. Gebiet d. Theologie u. Rel.-Gesch.
Rm. 1—; Stibskr.-Pre;s —90.
Die Absicht des Verf. ist durchaus zu loben. Die
kleine Schrift bekämpft die heute die Wissenschaft beherrschende
Auffassung, daß „die Religion als Glaubenssache
aus der Welt der wissenschaftlichen Theorie
zu eliminieren sei" (S. 3) und wendet sich vor allem
gegen die Bestrebungen der Soziologie auf dem Gebiet
der allgemeinen Staatslehre, eine durchaus wert- und
ideenfreie Theorie des Staates zu begründen, gegen die
Unterscheidung von explikativen und normativen Disziplinen
, vor allem auch von Theorie und Politik im
Sinne Max Webers (S. 8, 11), um der Religion oder
vielmehr einer religiös aufgefaßten Ethik die Aufgabe
zuzuweisen, wieder die Grundlage der Staats- und Gesellschaftswissenschaft
zu werden. Das geschieht nur
leider mit recht unzulänglichen Mitteln. Religion und
Sittlichkeit werden nur als „Antriebe im Leben von
Staat und Gesellschaft" aufgefaßt und damit doch sofort
wieder in die Sphäre eines psychologischen Positivismus
herabgezogen. Es wäre aber zu zeigen, daß Staat und
Gesellschaft diese Grundlage haben müssen, daß sie
ohne sie gar nicht erfaßt werden können. Vollends unzulänglich
erscheint denn auch der Versuch des Verf.
eine Theorie des Staates zu entwickeln. Die Grundlage
ist individualistisch, der Verf., der das „eigene Gewissen
des Menschen" zum Ausgangspunkt nimmt (S. 18), ist
genötigt, ganz in der Weise des aufklärerischen Individualismus
des 18. Jahrhunderts, den contrat social zur
Grundlage der Staatsbildung zu machen (S. 21) und
verschließt sich damit natürlich von vornherein den
Weg, der ihn zur Erkenntnis des Wesens dieses über-
individucllen Gebildes führen könnte. Das Wesen der
transzendentalen Ideen und ihr Verhältnis einerseits zu
einander und anderseits zur Wirklichkeit ist ihm unbekannt
; so ist es kein Wunder, wenn er auf den sonderbaren
Gedanken verfällt, die Einheit von religiösem und
staatlichem Gesetz (S. 21 f.) und weiter die Einheit von
Staat und Kirche wenigstens in der Idee zu behaupten