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Ausgabe:

1925

Spalte:

202-203

Autor/Hrsg.:

Faye, Eugène de

Titel/Untertitel:

Origène, sa vie, son oeuvre, sa pensée. Vol. I 1925

Rezensent:

Soden, Hans

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Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 9.

■202

Bergpredigt zusammen. Dieses schwankt zwischen einer
historisierend beschränkenden Betrachtung, die in Jesu
Worten ein nur unter eschatologischer Voraussetzung
gültiges ehrwürdiges, aber antiquiertes Stück Überliefe- j
rang sieht, und einer noinistischen, die aus der Berg- i
predigt eine für die Kirche gegebene, im gesetzlichen |
Sinn zu erfüllende und auch erfüllbare Verordnung
macht. Es ist mir kein Zweifel, daß schon der Evangelist
dieses nomistische Verständnis gehabt hat; die
Sammlung der Jesus-Worte zur Rede mußte darauf hinführen
. Wer aber in diesen Redekompositionen Sprüche
erkennt, die einst zu besonderen Gelegenheiten gespro- j
chen sind, wird geneigt sein, in ihnen eher allgemeingültige
Motive in aktueller Ausprägung als allgemeine
.Vorschriften zu sehen. In dieser Richtung liegt m. E. das |
Verständnis der Bergpredigt, das der geschichtlichen
Situation Jesu wie dem übergeschichtlichen Hintergrund
seiner Worte gleichermaßen gerecht wird und den Ge- j
fahren der Modernisierung wie der Atomisierimg glei- j
chermaßen entgeht. Da es aber keine synthetische Betrachtung
historischer Stoffe ohne vorangegangene Ana- j
lyse gibt, so ist auch hier der sicherste Weg zur Sinndeutung
jener Worte die möglichst gewissenhafte Feststellung
dessen, was sie einst bedeuteten. Das ist aber j
nur möglich, wenn man die Sprüche Jesu in das Spruchgut
seiner Zeit stellt, damit aus der Gleichheit der Worte
und Formen wie aus der Verschiedenheit oder Ähnlichkeit
der Inhalte sich uns die richtige Akzentverteilung
ergebe und das Wesenhafte der Verkündigung Jesu deutlich
werde.

Ich mußte soweit ausholen, um dem Buch von
Fiebig gerecht zu werden; zumal da diese etwas umständliche
Art, zur Synthese zu gelangen, der heute
unter der Jugend beliebten Art der Wesensschau direkt
entgegengesetzt ist. Fiebigs Buch ist natürlich nur
Hilfsmittel und will trotz des anspruchsvollen Titels
nur ein solches sein. Es bietet rabbinische Texte zum
Verständnis der Bergpredigt und unterscheidet sich von
Strack-Billerbecks Kommentar — abgesehen von der
ausgedehnten Zitierung — durch Darbietung der Originaltexte
. Allerdings ist dem Fiebigschen Buch, das
1914 schon in ausführlicherer Gestalt fertig vorlag, in
jenem Kommentar ein beachtlicher Konkurrent zuvorgekommen
. Aber man kann nicht genug betonen, daß
hier jede Art der Verbreitung von Kenntnissen wünschenswert
und jede Darbietung von Stoff, zumal wenn
der beigefügte Urtext eine Kontrolle erlaubt, mit Dank
zu begrüßen ist. Man findet natürlich in dieser Sammlung
sehr viele bekannte Texte; aber auch manche
selten herangezogene Stelle, namentlich aus der Darech-
erez-Literatur, fällt angenehm auf.

Diese Betonung der Nützlichkeit und Verdienstlichkeit
des Buches möchte ich aufrecht erhalten trotz
einer Reihe teils geringer teils sehr erheblicher Bedenken
, zu denen das Buch Anlaß gibt.

Ich bin nicht zuständig, die Liste sprachlicher Irrtümer zu erweitern
oder zu korrigieren, die Heinrich Laible in seiner Anzeige des
Buches (Th. L. Bl. 1924, 213ff.) gegeben hat, möchte freilich auch
bemerken, daß er exegetische Meinungsverschiedenheiten ebenso bewertet
wie Flüchtigkeiten oder Fehler. Aber auch diese sind in F.s
Buch leider vorhanden. Die Lösung des Problems, ob uauoe als
griechisches Lehnwort im Aramäischen zu betrachten oder von dem
hebr. fTTlQ abzuleiten oder ob ein Einfluß auf die Bedeutung des

ersten von dem zweiten aus anzunehmen sei (S. 34 und in den Nachträgen
S. 151), ist nichtssagend und verrät eine große Flüchtigkeit,
die sich auch in manchen Zitierungen zeigt. Wenn Philo und Josephus
in diesem Buch „rabbinischcr Texte" überhaupt zitiert werden, dann muß
es wenigstens richtig, gleichmäßig und mit den üblichen Bezeichnungen
geschehen; nicht aber so: Altertümer 4, 4, 4 (Nr. 22ö) und im
Register contra Apion. (so!) IV, 4, 4, oder Philo bald nur mit
Mangeys Seitenzahlen (Nr. 227 ff.), bald nur mit Cohn-Wendlands
Paragraphen (Nr. 167 im ersten Teil, wo es aber statt II 224 ff.
heißen muß II 225ff.), bald mit beidem (Nr. 164), bald mit Mangeys
Kapiteln (!) und Seitenzahlen (Nr. 175). Beim Kapitel vom Frieden
(Nr. 42) fehlt eine korrekte Stellenangabe sowie der Hinweis auf
Parallelen. — Die Erklärung der Stellen ist mehrfach so gehalten, daß

aufsteigende Bedenken nicht beschwichtigt werden: ist der „Philosoph
" in der bekannten Geschichte vom bestechlichen Richter
Schabbath 116ab (Nr. 80) wirklich ein Judenchrist, nicht einfach
ein habgieriger heidnischer Sophist, der die Argumente für seine
schlechten Urteile nimmt, wo er sie findet? Ist die „schöne Gesinnung
" in R. Jannais Erklärung von Prov. 15, 15, Baba Bathra 145 b
(Nr. 36), wirklich auf das „frohe Genießen" zu deuten?

Die zuletzt erwähnten Ausstellungen hängen mit
einem Mangel des Ganzen zusammen. F. hat sein
Manuskript kürzen müssen, und dabei ist die „fortlaufende
Untersuchung", in die die Texte gestellt waren,
verloren gegangen. Was jetzt noch als Kommentar in
den Anmerkungen steht, ist oft so dürftig, daß es besser
ungesagt geblieben wäre. Vom „Heiligen des Namens
Gottes" — einem Ausdruck, den das Judentum in verschiedener
Richtung deuten kann — heißt es, daß „vor
allem auch Ethisches" dazu gehöre: „wie viele jüdische
Begriffe ist auch dieser prägnant und plastisch, sozusagen
stereoskopisch." Wenn dem so ist, sollte eine
inhaltliche Bestimmung nicht fehlen. Der Vergleich
zwischen Tefilla und Vater unser ist nicht mit den paar
Sätzen abzumachen, die Fiebig S. 111 dem Problem
widmet. Und was F. vollends S. 119 über das Vaterunser
sagt — daß Jesus aus den geläufigsten jüdischen
Gebeten „das ihm Wichtigste machtvoll kürzend und
kraftvoll modellierend herausgegriffen" habe —, das genügt
wirklich nicht, um das zwei Zeilen später folgende
Urteil „Jesus schuf Neues" zu beweisen. Hier muß man
tiefer graben oder die vergleichende Arbeit ganz unterlassen
.

Weil der Kommentar so dürftig ist, kann auch die
im Vorwort proklamierte Absicht auf formgeschichtliche
Untersuchungen nicht zur Ausführung gelangen.
Denn Konstatierungen wie „Sei-Spruch" oder dergl.
genügen natürlich nicht, und wenn der Leser ein Bild
von den Formen der rabbinischen Überlieferung erhalten
sollte, dürfte z. B. das Kaddisch nicht verkürzt zur
Aufnahme kommen. Am besten würde wohl eine selbständige
Untersuchung über die Art der rabbinischen
Behandlung einer Frage, über Spruchformen und ihre
Sammlung, über Anekdoten und ihre Verknüpfung dem
angestrebten Zweck gerecht geworden sein. Denn
Formgeschichte treiben heißt nicht ein paar Etiketten
aufkleben, sondern heißt von der Form den Sinn der
Formung ablesen und daraus Entstehung, Absicht und
Wesensart des Geformten erschließen.

Heidelberg. Martin Dibelius.

Faye, Eugene de: Origene, sa vie, son oeuvre, sa pensee.

Vol. I: Sa Biographie et ses ecrits. Paris: E. Leroux 1923. (VI, X
u. 243 S.) gr. 8°. = Bibliotheque de l'6cole des hautes etudes.
Sciences religieuscs, Vol. 37.

Über Origenes besitzen wir keine größere Monographie
seil Redepcnnig (1841/46), was sich wie bei
Augustin durch den Umfang und die Verwicklung des
Stoffes mehr erklärt als rechtfertigt. E. de Faye hat
sich, vorbereitet durch angesehene Arbeiten über Clemens
Alexandrinus (2. Aufl. 1906) und den Gnostizis-
mus ('1903, - 1913, eine neue Bearbeitung des vergriffenen
Werkes wird in Aussicht gestellt) daran gewagt
und legt ihren ersten Band vor. Er behandelt in
4 Kapiteln das Leben und in 10 Kapiteln die Schriften
des Origenes, während seine Lehre dem zweiten Band
vorbehalten bleibt. Erst nach dessen Erscheinen wird
man das Ganze werten können. Was wir jetzt empfangen
, ist eine flüssig, vielfach fesselnd, sorgfältig,
aber ungekünstelt geschriebene, in straffer Gliederung
auf ihren Gegenstand beschränkte, wesentlich referierende
Darstellung der äußeren Entwicklung des Origenes
sowie eine Charakteristik von Inhalt und Form
seiner Schriften, ohne daß deren Komposition und
Stilistik etwa in literaturgeschichtlichen Zusammenhängen
analytisch untersucht wird. A. v. Harnacks
Chronologie der altchristlichen Literatur und die kritischen
Einleitungen der Berliner Akademieausgaben
bieten dem Verfasser die wichtigsten Vorarbeiten, deren