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Ausgabe:

1925 Nr. 8

Spalte:

187-188

Autor/Hrsg.:

Eucken, Rudolf

Titel/Untertitel:

Ethik als Grundlage des staatsbürgerlichen Lebens 1925

Rezensent:

Thimme, Wilhelm

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187

Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 8.

188

dem nur einer, Lissauer, gerecht zu werden vermag. Hier dürfte der
Lissauer angewiesene Platz zu beanstanden sein. Ich glaube, daß
man diesen starken und reifen Künstler, bei dem Oehalt und Form,
Qeist und Sinn ausgeglichen erscheinen, nicht zu den Expressionisten
zählen sollte, für welche doch eine Uberbetonung der aus
dem Innern formlos ausbrechenden Kräfte charakteristisch ist — so
wenig wie etwa Stephan George, Rilke u. a., die vom Verf. in
diesem Zusammenhange nicht, bezw. überhaupt nicht erwähnt werden.

Liest man gleichwohl diesen Abschnitt mit Dank, so den letzten
vom Wesen des Lebens und dem Problem der Gegenwart nur mit
gemischten Gefühlen. Zwar sind seine fein charakterisierenden Bemerkungen
über die um Stephan George, Steiner, Graf Keyser-
l'nSi Jon- Müller sich bildenden Kreise recht interessant. Aber
daß damit ein bedeutsamer Beitrag zur Soziologie geliefert sei,
kann ich nicht finden. Vollends die Empfehlung der Soziologie als
der eigenartigen und einzigen Wissenschaft, die Gegenwart und
Leben zu erfassen imstande sei, scheint mir von einiger Unklarheit
zu zeugen. Vielmehr meine ich, daß die Soziologie, die gar nicht
grundsätzlich auf die Gegenwart eingestellt ist, als eine historische
Hilfswissenschaft zu gelten hat, und daß Biologie und Psychologie
wohl ebensoviel Licht in des Lebens dunkle Gründe fallen lassen
als sie. Denn für das Leben ist seine Gebundenheit an den Leib
und seine Entfaltung von innen her nicht minder wesentlich als
der Austausch, die Beziehung zum andern.

Iburg. W. T h i m m e.

Schulze, Karl Ernst: Ethik der Dekadenz. Eine natürliche
Ethik auf psychologisch-biologischer Grundlage. Leipzig: Lehmann
& Schüppel 1925. (VIII, 305 S.) 8°. geb. Gm. 6.50.
Die vorliegende Ethik baut sich auf zwei nicht weiter begründeten
, anfechtbaren Voraussetzungen auf. 1. Der Mensch — das kranke
Tier. Auf diesen Gedanken Nietzsche's kommt des Verfassers Theorie
von der Dekadenz des Menschentums hinaus. Die Ethik wird dann
zur Medizin, die dem kranken Triebleben Heilung bringen soll. Wie
sollen sich aber aus dem kranken Triebleben die Kräfte oder auch
nur die Grundsätze für seine Gesundung ergeben? Dies wäre doch
höchstens von dem Ideal eines gesunden Trieblebens aus möglich. Das
leitet zur 2. Voraussetzung über. Die ethischen Forderungen sollen
sich der Sphäre des Trieblebens einfügen. Es soll nicht von einem
Standpunkt über dem Niveau der Triebe regelnd in dieses Leben eingegriffen
werden. An Stelle des kategorischen muß ein biologischer
Imperativ — zu deutsch Sollen — treten. Damit enthüllt sich an
einem prinzipiellen Punkt der Widersinn des ganzen Unternehmens.
Entweder ist dieses Sollen wirklich ein biologisches, dann ist es
aber ein Müssen und Ethik wird sinnlos, oder dieses Sollen ist wirklich
ein Sollen, dann kann es aber nicht biologisch, sondern nur
kategorisch ein. Neue, wisssenschaftlich interessante Gesichtspunkte
werden bei der Begründung der schon zum so und so vielten Male versuchten
naturalistischen Ethik nicht verwendet.

In der Durchführung kommt sie darauf hinaus, dem Einzelnen
das Recht auf Ausleben seiner Triebe innerhalb einer Mindestgrenze,
die durch das gleiche Recht der übrigen festgelegt ist, zu höchstmöglicher
Lustgewinnung sicherzustellen. Zum Naturalismus kommt
wie meist der Individualismus und Eudämonismus.

Heidelberg. Robert W i n k 1 e r.

Eucken, Rudolf: Ethik als Grundlage des staatsbürgerlichen
Lebens. Langensalza: H. Beyer u. Söhne 1924. (56 S.) 8°. =
Fr. Manns Pädagog. Magazin, 985. Heft. Gm. —80.

In vielen großen und kleinen Schriften hat der
greise Jenenser Philosoph gelehrt und gepredigt von
dem naturüberlegenen, schöpferischen, in der Geschichte
wirksamen, in Vielgestaltigkeit einheitlichen Geistesleben
, welchem der Einzelne sich verstehend und handelnd
einfügen muß, um Würde der Persönlichkeit zu
erlangen. In unserm Schriftchen führt er aus, daß es
auch dem Staate zukommt, Träger dieses Geisteslebens
zu sein, daß er sich also nicht mit Aufrechterhaltung der
Ordnung und Förderung materiellen Wohlstandes begnügen
darf, sondern sich selbst zum gleichzeitig nationalen
und humanen Kulturstaat ausbilden soll. Er kann
es nur, wenn er sich gründet auf den freien und tätigen
Gehorsam der Bürger, wenn er nicht prinzipienlos bloße
Tagespolitik treibt, sondern konservativ und fortschrittlich
zugleich im Zusammenhang mit aller edlen Tradition
nach höchsten Menschheitszielen strebt, wenn er
die Wirtschaft, die sich in unseliger Verkehrung von
Mittel und Zweck zur Herrin aufgeschwungen hat, in
den Dienst der Wesensbildung stellt. Sodann ist von
den Hemmungen die Rede, die diese Aufgabe erschweren
, zumal uns Deutschen — nicht nur die Ungunst der
gegenwärtigen Lage, sondern deutsche Wesenszüge kommen
hier in Frage — die Zukunftsaussichten Deutschlands
werden abgewogen, und den Schluß bildet ein
Aufruf zur Tat.

Dem Kenner der Schriften Euckens dürften diese
Andeutungen genügen; dem, der ihn noch nicht kennt,
kann das genannte Büchlein als gute Einführung in
Geist, Wollen und Glauben des Meisters dienen.

Iburg. W. Thimmie.

Scheler, Max: Christentum und Gesellschaft. 2. Halbbd:
Arbeits- u. Bevölkerungsprobleme. Leipzig: Der Neue Geist-Verlag
1924. (175 S.) gr. 8". = Scheler: Schriften zur Soziologie u.
Weltanschatiungslehre, Bd. 3. Gm. 5—; geb. 7.50.

Wir haben hier einen Teil der 2. Auflage von
Schelers „Krieg und Aufbau" 1916 vor uns, in der alle
von den aktuellen Zeitproblemen der deutschen geschichtlichen
Lage der Erscheinungszeit dieses Buches
unabhängigen, also zeitlosen Erkenntnis- und Wahrheitsgehalt
in sich bergenden Aufsätze des Buches mit je
neuen teils in Zeitschriften veröffentlichten, teils unveröffentlichten
Aufsätzen und Abhandlungen in vier kleinere
Bände vereinigt werden sollten. Das ganze Werk
des hervorragenden Philosophen heißt bekanntlich: Zur
Soziologie und Weltanschauungslehre, i. Bd. Moralia

1923, 2. Bd. Nationen und Weltanschauung 1923, 3. Bd.
Christentum und Gesellschaft. 1. Hälfte: Konfessionen

1924, 2. Hälfte: Arbeits- und Bevölkerungsprobleme
1924. Wir können es dem Verlag nur danken, daß er
es auf diese Weise ermöglicht hat, die Aufsätze, welche
ja bereits viel Beachtung fanden, im Zusammenhang
lesen zu können.

Sch. stellt die Frage nach dem Sinn und Wesen der
menschlichen Arbeit und die Frage nach der religiös
und weltanschaulich differenten Sinngebung der menschlichen
Fortpflanzung und allen sie ordnenden und
regelnden ethischen und politischen Normen und Maßnahmen
.

In dem ersten Aufsatz „Prophetischer oder
marxistischer Sozialismus", Vortrag 1919,
veröffentlicht „Hochland" 1919, behandelt er das Problem
des „christlichen Sozialismus", besonders gegenüber
der verbreiteten Anschauung, als ob die katholische
Kirche vor anderen darin einen bedeutenden Vorsprung
hätte, ein solches soziales System in ihrer wissenschaftlichen
Literatur, zu besitzen. Das sei aber nicht
der Fall, die sog. München-Gladbacher Richtung nähere
sich doch sehr den Revisionisten. Es käme überhaupt
nur ein prophetisch-christlicher Sozialismus in Betracht,
d. h. ein solcher, der die zeitgeschichtliche objektive Predigt
der geschichtlichen Katastrophen sich zu eigen
mache. Hier allein seien die wahrhaften Prinzipien
der vernünftigen und christlichen Soziallehre (Naturrecht
, Ethik) zu finden, ihre Propheten also gegenüber
den marxistischen Glückspropheten ebenso wie die des
alten Testaments sozus. Unglückspropheten, woraus sich
eine im wesentlichen andere Einstellung auf Zeit und
Zukunft ergebe, als die deutschen Katholiken sie bis
jetzt hätten.

Der nächste Aufsatz „Arbeitund Ethi k", wurde
zuerst veröffentlicht in der Ztschr. für Philosophie u.
philos. Kritik 114 Bd. infolge der Anregungen von
Euckens „Kampf um einen geistigen Lebensinhalt";
der folgende „Arbeit und Weltanschauung",
Vortrag 1920/21 im Jahrb. kathol. Akademiker 1921.
Hier werden die besonderen Arbeitsbewertungen, welche
die verschiedenen christlichen Konfessionen und die
wichtigsten ethischen Systeme der Arbeit zu teil werden
ließen, beschrieben und einer Kritik unterworfen, welche
die Ethik Sch. zur Grundlage hat. Was insbesondere
den „neudeutschen preußischen Arbeitsgeist und Arbeitsbewertung
", aus Luthers „Überaktivität im Beruf" und
der „grenzenlosen Erwerbsarbeit des Kalvinismus" hervorgegangen
, betreffe, so seien diese Ausführungen noch