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Ausgabe:

1924 Nr. 8

Spalte:

161-162

Autor/Hrsg.:

Michel, Ernst

Titel/Untertitel:

Kirche und Wirklichkeit. Ein katholisches Zeitbuch 1924

Rezensent:

Schian, Martin

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Seite 1

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Jjfjl Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 8. 162

vor und stellt ihnen die katholische Anschauung entgegen
. Er verteidigt nicht das Moralgebäude irgend
einer theologischen Schule oder eines Kasuisten, auch
nicht Aberglauben und Mißbrauche, sondern einfach die
Sittenlehre der katholischen Kirche, die er ganz harmlos
mit der Bergpredigt Jesu ineinssetzt und als eine von
Anfang an fertige und unwandelbare Größe betrachtet.
Da die Verteidigung ganz auf den Voraussetzungen des
Katholizismus beruht,' wonach jeder Zweifel gegen die
Lehre der Kirche ,sinnlos und beleidigend4 ist (S. 379
Anm.), so wird sie naturgemäß nur da vollen Erfolg
haben, wo diese Voraussetzungen geteilt werden. Der
aus Sismondis Vorwürfen sprechenden Zeitstimmung entsprechend
haben manche Ausführungen nur noch zeitgeschichtliche
Bedeutung, andere aber sind in der Tat
auch heute noch von Wert. Und auf alle Fälle sind sie
das Muster einer vornehm ruhigen, sachlichen, von
hoher Warte ausblickenden Auseinandersetzung, die auf
persönliche Angriffe und andere Apologetenunarten verzichtet
. Nach dieser Seite könnten unsere heutigen Apologeten
, auch an deutschen Hochschulen, von dem italienischen
Laien lernen.

Die Übersetzung von Arens habe ich in Stichproben mit der
Orsbachs und mit dem italienischen Text verglichen und finde, daß
sie, ganz abgesehen von der Vollständigkeit, einen Fortschritt darstellt
. Wenn es aber S. 17Q heißt: ,lch bemerke jedoch grundsätzlich,
daß, wo auch immer dieser Aberglaube bestehen mag, er sicherlich
niemals derjenige gewesen ist, der zu der Unterweisung der Kirche
im schärfsten Gegensatz stand', so ist damit der Gedanke Manzonis
(,non ci fu mai la piii contraria aH'insegnamento della Ohiesa') in
sein Gegenteil verkehrt, wie auch das aus dem Fortgang und dem
Schluß: . ..verfährt geradenwegs im Widerspruch zu ihrer Unterweisung
' hervorgeht (richtig Orsbach: ,es gibt nichts, was dem
Unterricht der Kirche mehr zu wider wäre'). S. 25 ,ein Charakteristi-
kon der Wahrheit' (un carattere) — warum nicht ,ein Kennzeichen'?
Zu S. 174: .Kliniker' hießen nicht die, die sich vornahmen, die Taufe
erst im Augenblick des Todes zu empfangen, sondern die Christen,
die die Taufe auf dem Krankenbett empfangen hatten. Die Stellen
aus Luthers Schriften hätten nicht mehr mit Manzoni nach der
Wittenberger Ausgabe von 1545, sondern nach einer neueren 'belegt
werden sollen

München. Hugo Koch.

Michel, Ernst: Kirche und Wirklichkeit. Ein katholisches
Zeitbuch. Jena: Eugen Diedcrichs 1023. (VII, 208 S.) 8°

Oz. 4—; geb. 5—.

Die ,,Tat" gab 1021—23 3 katholische Sonderhefte heraus z.T.
hier besprochen 1022, 333; s. auch 1024,102. Zahlreiche dort gebotene
Aufsätze sind in dieses Buch übernommen und mit neuen Beiträgen vereinigt
worden. Übernommen sind natürlich die zu der Absicht des
Herausgebers Ernst Michel am besten stimmenden; die neuen Beiträge
führen das „Ergebnis" der Tathefte „mit Entschiedenheit" weiter.
Das Buch will also „die katholische Kirche durch Aufhellung ihrer
Wirklichkeit unserer Zeit wieder sichtbar machen". Das soll durch
Zeugnis gegen zwei Fronten geschehen: gegen die innerkirchliche und
die innerweltliche Verhärtung; zugleich aber soll das Zeugnis ein
„Aufbruch aus der innerkirchlichen Verhärtung, eine Beendigung der
heidnischen Idealisierung der Kirche und der Verabsolutierung ihrer
Formwelt" sein. Der Preis solchen Zeugnisses ist die Gefahr, nicht
nur den „Heiden" eine Torheit, sondern auch den „Christen" ein Ärgernis
zu sein. 21 Aufsätze sind in 3 Rubriken gefaßt: Leben im Glauben
, Ausbreitung in der Hoffnung, Erneuerung aus der Liebe. 18 Verfasser
sind beteiligt: neben Michel selbst u. a. R. Guardini (die Sendung
der katholischen Jugend), Philipp Funk (die Geschichte des
christlichen Gebets als innere Geschichte der Kirche), der Benediktiner
Th. Michels (Leben aus liturgischer Gemeinschaft); W. E. Thormann,
die Aufgabe des katholischen Dichters in der Zeit; R. Groschc (Kirche
und Ketzer). Ein Stück (Von der Liebe als des Gesetzes Erfüllung)
stammt aus den „Grundlehrcn der Religion" des alten Johann Michael
Sailer. Bezeichnend ist, daß Laien reichlich zu Worte kommen; unter
ihnen sogar ein Nichtkatholik, Eugen Rosenstock, mit zwei Beiträgen:
„Die Welt vor dem Blick der Kirche" und „Das Herz der Welt. Ein
Maßstab der Politik". Diese Mitarbeit eines Nichtkatholiken wird manchem
schwer erträglich sein. Sic läßt auch in der Tat die Gesamthaltung
etwas mehr im Sinn des „Aufbruchs aus innerkirchlicher Verhärtung
" verstehen, als die Tatheftc zu wollen schienen. In diese
Richtung weist sehr deutlich auch der Schlußaufsatz des Herausgebers,
der u. A. das Verhältnis zu den Protestanten bespricht. Michel kritisiert
die Stellung der katholischen Kirche zur Reformation: es sei endlich
an der Zeit, die pharisäische Haltung gegenüber den Protestanten
abzulegen und das „Pater peceavi" zu sprechen. Und dann

finden sich doch wieder Ausführungen, die ganz katholisch sind:
„Die Kirche ist die Wirklichkeit, die sie ist, der Protestant kann sich
gegen sie oder für sie entscheiden, aber er kann sie nicht als „Problem
" behandeln, ohne sofort in Ideologie zu verfallen, er kann auch
nicht von „Kirchen" sprechen, ohne damit zu verraten, daß er die wirkliche
Kirche gar nicht sieht und meint" (S. 277 f.). Sehr bemerkenswert
ist, daß nach Guardini, der der Jugendbewegung bei möglichster
Einfühlung und Anpassung doch gut kirchliche Bahnen weist, sofort
Alfred Mirgeler zu Worte kommt, der für sich und seinen Jugendkreis
die entschiedene Ablehnung des Quickborn als der katholischen
Jugendbewegung ausspricht. Nach ihm ist die Jugendbewegung
entweder katholisch oder Bewegung; beides zusammen ist hölzernes
Eisen. Sonst seien von Einzelheiten nur noch K. Neundörferp
(Recht und Macht in der Kirche) Auseinandersetzung mit Sohin
(S. 53 ff.) und E. Rosenstocks Polemik gegen Hirschs Buch Deutschlands
Schicksal (S. 22dff.) erwähnt. Die Gesamthaltung ist betont
katholisch, aber in selbständiger und nicht unkritischer Haltung.
Wahrscheinlich wird man um dieser Haltung willen auf katholisch-
kirchlicher Seite die mehr kritischen Äußerungen in Kauf nehmen, ohne
sich allzu sehr zu ärgern. Auch die sonstige Art der Aufsätze trägt
dazu bei, das etwa Anstößige minder schlimm erscheinen zu lassen:
sie bewegen sich in großen Höhen des Gedankens, wählen eine mehr
geistvoll andeutende als konkret ausführende Ausdrucksweise und prägen
zugespitzte Sätze, deren Inhalt oft wenig greifbar ist. Vor allem
aber: die Tendenz! das Buch will doch eben die katholische Kirche
„als die Ur-Rcalität" sichtbar machen! Ein interessantes Zeitdokument!
Aber daß es den „Aufbruch aus der innerkirchlichen Verhärtung" bewirken
werde, — wer wagt das zu hoffen?

Gießen. M. Schi an.

Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur. Katholische
Sonderhefte. 3: April 1023. Jena: Eugen Diedcrichs. Gm. 1.10.

Die bekannte, in theologisch-wissenschaftlichen Kreisen vielleicht
noch nicht genug beachtete Zeitschrift „Die Tat" hat seit 1021 drei
„Kothotische Sonderhefte" gebracht; das dritte (April 1023) ist als
vorläufig letztes bezeichnet. In ihnen wurde Katholiken Gelegenheit
geboten, von der Wirklichkeit der Kirche Zeugnis „abzulegen". „Nicht"
Anwälte der Kirche, sondern glaubwürdige Zeugen sollten zu Worte
kommen. Die Mitarbeiter stehen z. T. mitten im Leben der katholischen
Kirche: R. Guardini, Alois Mager O.S.B., Pfarrer J. Mum-
baüer, J. Weigcr, J. Wcrnlc; auch W. Liese, dessen Geschichte der
Caritas letzthin hier charakterisiert wurde, fehlt nicht. Der Letztere
ist nun ganz bestimmt doch ein „Anwalt" der Kirche; andere sicherlich
auch. Daneben stehen aber Beiträge anderer Orientierung, so
z. B die vom Herausgeber Ernst Michel (Zum „Kulturprohlem" der
„katholischen Kirche" u. a ), von Eugen Rosenstock (Die Welt vor dem
Blicke der Kirche). Die Absicht war, das Katholische vor einem
weiten Leserkreis darstellen zu lassen; Kritik wird daher kaum irgendwo
geübt; aber z. B. Michel stellt doch Warnungstafeln auf, um auf
die der Kirche drohenden (wirklich nur drohenden?) Gefahren hinzuweisen
; und in manchem Aufsatz klingen Stimmungen an, die der
offizielle Katholizismus als höchst bedenklich empfinden muß. Dennoch
begaben sich auch die Erstgenannten willig in die Umwelt dieser Hefte;
sie rechnen es ja der „Tat" zu hohem Verdienst an, daß sie den Mut
besaß, ihrem Leserkreis „die Wertuucllc des Katholischen zu öffnen"
(so A. Mager). Gemeinsam ist allen Beiträgen das Bestreben, auf
die letzten Prinzipien zurückzugehen; den meisten haftet ein spekulativer
Zug an; dem Programm entgegen wird die Wirklichkeit der
Kirche völlig beiseite geschoben; der Leser wird in die Welt hoher Gedanken
entnickt, und die Entrückung dient zugleich als Mittel der
Idealisierung. Auch die offiziell-katholischen Mitarbeiter verfahren so.
Man wird es Niemandem verdenken, wenn er seine Kirche der nicht-
kirchlichen Welt in der Umkleldung blendender Ideen vorführt; aber
das entstehende Bild ist natürlich ganz einseitig. Man lernt nicht
die Kirche, wie sie ist, kennen, sondern die Kirche, wie manche Neukatholiken
, Kulturkatholiken, Idealkatholiken sie sehen oder sehen
möchten, und wie offizielle Katholiken sie gern zeigen. Darin.liegt die
große Gefahr solcher Veranstaltungen. Für uns aber bieten sie zweifellos
viel des Interessanten und Anregenden. Der Katholizismus in unserer
Zeit ist eben wirklich ein „Kulturprohlem" ersten Ranges.
Gießen. m. Sc h i a n.

Dilthey, Wilhelm: Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey
und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg 1877 1897.

Halle: Max Niemeycr 1Q23. (XI, 280 S.) gr. 8°. =« Philosophie und
Geisteswissenschaften. Buchreihe. Bd. 1. Gm. 5—; geb. Ö.50.

Es kann sich nicht um eine Besprechung, sondern
nur um eine Anzeige dieses Briefwechsels handeln. Er
gewährt einen Einblick in Werden und Ziele von Dil-
they's Gedankenarbeit, der für das Verständnis dieser
ganz unschätzbar ist. In der Unbefangenheit der brieflichen
Äußerung tritt manches klar heraus, was in den