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Ausgabe:

1924 Nr. 7

Spalte:

144

Autor/Hrsg.:

Hobhouse, L. T.

Titel/Untertitel:

Die metaphysische Staatstheorie 1924

Rezensent:

Hirsch, Emanuel

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143

Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 7.

144

nologie zeigt, kann nicht näher eingegangen werden. Hingewiesen
sei noch auf die lehrreiche Analyse der New-
tonschen Grundprinzipien und auf die Kritik der Energetik
sowie der Einsteinschen Theorie (soweit sie nicht
nur mathematisch, sondern auch physikalisch gelten will).
Berlin. Titius.

Grub er, Max von: Der Anteil von Anlage und Umwelt an
der Persönlichkeit. Festrede geh. i. Akad. d. Wiss. München:
Verlag d. Bayer. Akademie d. Wissenschaften; G. Franzscher Verlag
in Komm. 1923. (27 S.) 4°. Gz. 2—.

G. entwickelt unter ausführlicher Darlegung der
Grundgedanken der neueren Vererbungslehre, daß die Persönlichkeit
des Menschen mit der Geburt so gut wie fertig
gegeben sei, daß ferner durch Erziehung erworbene
Eigenschaften für die Vererbung so gut wie bedeutungslos
seien, daß endlich jede Erziehung und Bildung an
der Anlage der Persönlichkeit eine feste und meist sehr
enge obere Grenze habe. Diese Entwicklung ist ihm die
Grundlage für die Feststellung einer Reihe sozial-philosophischer
Normen, die sich etwa unter folgende Gesichtspunktekurz
zusammenfassen lassen: 1) Die ethische
und intellektuelle Ungleichheit der Menschen, darum
auch der Unterschied von Führern und Masse, ist als unentrinnbare
Tatsache gegeben, und durch keine Erziehung
läßt sich das ändern. 2) Nicht Erziehung und Bildung,
sondern allein die Fortpflanzungsauslese läßt eine Steigerung
der geistigen und leiblichen Fähigkeiten der
Menschheit erhoffen. Der Erfolg der Fortpflanzungsauslese
wäre unzweifelhaft, wenn die Menschheit durch
ihre Führer den ernsthaften Willen zu ihr aufbringt. Umgekehrt
ist die heute in Deutschland vorherrschende
Ausscheidung der Bestveranlagten aus der Fortpflanzung
ein unfehlbares Mittel, die Rasse in absehbarer Zeit zu
ruinieren. Gesichtspunkt der Auslese kann aber nicht
Herauszüchtung einer der in der Blutmischung vorhandenen
Urrassen, sondern allein Verbindung und Steigerung
der besten vorhandenen Anlagen sein. 3) Solange
wir mit dem gegenwärtigen Zustande der Menschheit
rechnen müssen, ist eine starke staatliche Gemeinschaft
, die von einem Stand sorgfältig erzogener, gute
Anlagen durch Erbe besitzender Führer straff geleitet
wird, das Einzige, was eine völlige Zerrüttung der
Völker verhindern kann. 4) Eine Erziehung, welche dem
Menschen geistige und religiöse Inhalte vermittelt, ist
bei dem Anteil der Obervorstellungen am wirklichen
Handeln des Menschen sozial außerordentlich wertvoll
und neben der erwähnten straffen Führung das rechte
Mittel, die vorhandenen Erbanlagen für die Gesamtheit
möglichst nutzbar zu machen und so zu der bestmöglichen
Erhaltung der Menschheit unter den gegenwärtigen
Bedingungen beizutragen.

Die Ausführungen verbinden eine mit rückhaltlosem Ernst durchgeführte
naturwissenschaftliche Weltanschauung mit großem Verantwortungsbewußtsein
und einem Bemühen, dem Recht des Geistigen und
Religiösen gerecht zu werden. Eine philosophische und theologische
Kritik müßte einsetzen bei G.s Verhältnis zur Idee einer ewigen Wahrheit
und eines ewigen Guten. Beide sind nicht bestritten; aber praktisch
bricht immer wieder der positivistische Relativismus durch, dorn
auch die Wahrheit und das Gute nur Mittel zum Zwecke menschlicher
Kultur und menschlicher Wohlfahrt, nur Befriedigung eines vorhandenen
sozialen Bedürfnisses sind. Schon was Kant vom unbedingt
Guten sagt, genügt, um diese Schranke an G.s Denken zum Bewußtsein
zu bringen

Das hindert mich aber nicht, G. meine große Dankbarkeit
zu bezeugen, daß er mir für die 1., 3. u. 4. der
genannten sozialphilosophischen Normen zu meiner ge-

schichtsphilosophischen und ethischen Begründung noch
eine naturwissenschaftliche Stütze hinzugeschenkt hat.

Göttingen. E. Hirsch.

Hobhouse, L. T.: Die metaphysische Staatstheorie. Eine
Kritik. Übersetzt von Grete Beutin-Dubislav. Mit einem Vorwort
von Fritz Stier-Somlo. Leipzig: Felix Meiner 1924. (IV, 176 S.) 8°.

Gm. 4,40; geb. 6,50.

Einer der rührigsten englischen Hegelianer, B. B o -
sanquet (bekannt durch eine zweibändige Logic und
eine doppelte Reihe von Gifford-Vorlesungen, The Prin-
ciple of Individuality and Valae und Value and Destiny
of the Individual), hat wie schon vorher so auch während
des Krieges den Hegelischen Staatsgedanken vertreten
und von ihm aus sich sogar gegen das Projekt des
Völkerbundes erklärt. Außer der erstgenannten Reihe
der Giffordvorlesungen kommen vor allem The Philo-
sophical Theory of the State und Social and International
Ideals, letztere Schrift 1917 erschienen, in Betracht
. Das hat H. 1918 Anlaß gegeben, in einer Schrift
The Metaphysical Theory of the State, deren Titel schon
den Gegensatz zu Bosanquet verrät, sich mit Hegel's
und Bosanquet's Staatslehre auseinanderzusetzen. Diese
Schrift von H. wird uns jetzt in deutscher Übersetzung
vorgelegt.

H.'s Kritik bewegt sich wesentlich im Formal-
Logischen. Er bringt die „metaphysische" Staatslehre auf
drei Thesen (1. Freiheit ist Übereinstimmung mit dem
real will im Gegensatz zum actual will. 2. Der real will ist
identisch mit dem Gemeinwillen. 3. Der Gemeinwille
ist identisch mit dem Staatswillen) und sucht sie dann
durch kritische Zersetzung des Begriffs real will und
Auflösung der beiden Gleichungen zu zerstören. Dabei
kommt H. zu statten, daß er beim real will — der Terminus
ist von Bosanquet dem Hegelischen Begriff des
„wahrhaften Willens" nachgebildet — das real als wirklich
im gewöhnlichen, positivistischen Sinne mißversteht.
Das macht seine Kritik leicht, aber auch unfruchtbar. Der
Standpunkt H.s zum Staate ist der des gewöhnlichen englischen
Positivismus: der Staat als Organisation der Gesellschaft
zur Kontrolle gemeinsamer Interessen umfaßt
aus dem gesellschaftlichen Leben nur diejenigen Funktionen
, die wir als Gesetz und Regierung bezeichnen; er
ist im Augenblick, aber wahrscheinlich nicht auf die
Dauer, der Gesellschaft unentbehrlich, ist demokratisch
einzurichten und hat seine Anforderungen an den einzelnen
auf das mögliche Minimum zurückzuführen.
Eigentümlich ist dabei nur, daß er auch für diese Staatslehre
den Beinamen „organisch" in Anspruch nimmt;
der positivistische Begriff vom Organismus ermöglicht
das. Scharf aber wird —- in einer letzten skizzenhaften
Andeutung — vom Staate die Nation unterschieden; der
Staat ist weniger, die Nation mehr als die Summe ihrer
gegenwärtigen Glieder.

Das Ganze wird vorgetragen als die wahrhaft ethische und humane
Ansicht vom Staate. Als Unterstrom geht durch das Buch die
Absicht, England seine Moral und Humanität gegen die Verführung
des deutschen Idealismus zu erhalten. Die Verunehrung Deutschlands
und seines Staates, wie sie in England während des Kriegs üblich
war, kommt in gelegentlichen Bemerkungen zwar ohne eigene Leidenschaft
des Verf.s, aber doch unmißverständlich zum Ausdruck.

Die Übersetzung enthält ein paar leichte Verstöße gegen die
deutschen Sprachregeln. Das Geleitwort von Stier-Somlo stellt H.
als von Hegel beeinflußt dar und meint, sein Buch zeige „...die tiefe
Verwurzelung des geistigen Lebens in England in der Staatsidee". Dies
Urteil wäre auf ein Werk von Bosanquet bezogen zweifellos richtig.
Seine Anwendung auf H. aber macht es mir fraglich, ob Stier-Somlo
das von ihm so charakterisierte Werk mit Aufmerksamkeit gelesen hat.
Göttingen. E. Hirsch.

Die nächste Nummer der ThLZ erscheint am 19. April 1924.
Beiliegend ein Prospekt des Insel-Verlags in Leipzig und Nr. 7 des Bibliographischen Beiblattes.

Verantwortlich: Prof. D. E. Hirsch in Göttingen, Nikolausberger Weg 31.
Verlag der J. C. Hinrichs'schen Buchhandlung in Leipzig, Blumengasse 2. — Druckerei Bauer in Marburg.