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Ausgabe: | 1924 Nr. 7 |
Spalte: | 140-141 |
Autor/Hrsg.: | Gruner, Paul |
Titel/Untertitel: | Das moderne physikalische Weltbild und der christliche Glaube 1924 |
Rezensent: | Titius, Arthur |
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Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 7.
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in der Stellung des deutschen Geistes zur Unsterblichkeitsfrage
, wie er philosophiegeschichtlich etwa durch die
sicheren rationalen Beweise und phantastischen Ausmalungen
der Wolffischen Schule als Anfangspunkt,
durch den Streit über die Unsterblichkeit innerhalb der
Hegelischen Schule als Endpunkt bezeichnet werden
kann. Oder, um es einfacher zu sagen: U. ist gefesselt
durch die idealistisch-romantische Anschauung vom ewigen
Leben und sucht sie nach ihrer Entstehung und
ihrem treibenden Grundgedanken von der literarischen
Seite her zu begreifen. Der äußere Faden geschichtlichen
Zusammenhangs, den er von Herder über Novalis zu
Kleist findet, wird ihm dabei zum Wegweiser. Romantik
und Idealismus suchen den Sinngehalt des geschichtlichen
Christentums in die neue Weltanschauung der
pantheistischen Immanenz hineinzunehmen und müssen
deshalb die christlichen Gedanken über Tod und Ewigkeit
von ihrer dualistisch-transzendenten Gestalt befreien. Der
lösende Begriff ist dabei der der Palingenesie, der
Wiedergeburt, wie ihn Herder zuerst konzipiert hat. Er
deutet den Übergang von diesem zu jenem Leben aus der
Innerlichkeit des schon hier erfahrbaren Mysteriums
„Stirb und Werde" heraus, zieht ihn damit in die Einheit
des gegenwärtigen Lebens herein und erschließt eine
neue Möglichkeit, den Tod in innerer Freiwilligkeit des
Erlebens zu überwinden, die in Novalis angedeutet, in
H. v. Kleist verwirklicht ist.
Mir hat die Durchdenkung der philosophischen
Bewegung der Zeit unter dem von U. für die literarische
herausgehobenen Gesichtspunkte einen Gewinn in meiner
Erkenntnis gebracht. Freilich hat sich mir dabei auch gezeigt
, daß weder die Frage nach der Genesis noch die
nach dem systematischen Wahrheitsgehalt bei einer Vereinzelung
der literarischen Erscheinungen (und auch
unter ihnen trifft U. je eine sehr knappe Auswahl) sich
wirklich auflösen läßt. Doch das ist auch nicht U.s Meinung
, der sein Buch ausdrücklich als Vorstudie bezeichnet
zu einer umfassenderen Vorgeschichte des romantischen
Geistes. So darf man sich der von ihm gegebenen Anregungen
freuen und neue Belehrung in der Zukunft von
ihm erwarten.
Oöttingen. E. Hirsch.
Stör ring, Prof. Dr. Oust.: Psychologie. Leipzig: Wilhelm Engelmann
1923. (X, 477 S.) gr. 8». Qz. 14—; geb. 17—.
Das vorliegende Werk darf als eine hervorragende
Leistung bezeichnet werden. Im Unterschied zu manchen
Lehrbüchern der Psychologie, die das Augenmaß
für das Interesse des Nichtfachmannes stark vermissen
lassen, ist die Ausführung vielfach knapp, manchmal
für den didaktischen Zweck fast zu knapp, dabei durchaus
anschaulich und lebendig und läßt den allgemein
menschlichen Wert des von der neueren Psychologie
Erarbeiteten sehr gut hervortreten. Überall hat man den
Eindruck, daß die Darstellung mitten aus der heutigen
psychologischen Forschung herausgewachsen ist; vielfach
kann sich St. auf eigne Untersuchungen stützen.
Charakteristisch für das Werk ist die starke Beziehung
auf Gehirnanatomie und Physiologie, wie auch namentlich
auf die psychopathologischen Erscheinungen, deren
Wert für die Psychologie St. in einem früheren Werk dargelegt
hat. Die Beziehungen zwischen Bewußtseinsvorgängen
und Körper deutet S. (was auch ich für richtig
halte) im Sinne einer modernen Wechselwirkungstheorie.
Den Beweis für einen in sich geschlossenen physischen
Energiebereich hält er auch durch die bekannten Versuche
von Rubner und Atwater nicht für erbracht (S.
55). Zweifelhaft erscheint ihm, ob zu allen psychischen
Tatbeständen ein physiologisches Korrelat anzunehmen
sei (S. 56 f.). Die große Rolle des Gefühlslebens in
dem geistigen Haushalt wird in gebührende Beleuchtung
gerückt. Hier konnte St. den Ertrag seiner „Psychologie
des menschlichen Gefühlslebens" kurz und schlagend
zusammenfassen. Ob nicht aber seine eignen Prämissen
mit ihrer starken Beziehung der Gefühlszustände auf
Organempfindungskomplexe eine mehr voluntaristische
Auffassung des Gefühls nahelegen, scheint mir eine
offene Frage zu sein. Sehr zum Vorteil gegenüber andern
Darstellungen kommt auch die Beziehung der Psychologie
zur Logik voll zu ihrem Recht. Bemerkt sei, daß St.
die Einheit des Ich, die Beziehungen der Gleichsetzung,
ferner von Grund und Folge, die Zeitempfindung sowie
die Grundvoraussetzungen des Gewissens für ursprünglich
gegeben (apriorisch) ansieht (S. 300. 342. 348.
419 f.), während die Grundrichtung seines Denkens die
empiristische ist. Den Schlußteil bildet die Analyse der
ästhetischen, ethischen, religiösen Phänomene sowie der
Sprache. Die psychologische Anleitung zur Auffassung
historischer Persönlichkeiten ist zwar noch reichlich fragmentarisch
und bedarf der Vertiefung. Aber daß die
Linien von der experimentellen zur geisteswissenschaftlichen
Psychologie gezogen werden, ist auf alle Fälle
verdienstlich; auch hat St. Recht mit der Behauptung,
daß der heute erarbeitete Einblick in die Gesetzmäßigkeiten
des Gefühlslebens auch der Psychologie der historischen
Werte eine feste Fundamentierung gibt. Eine gewisse
Ungleichmäßigkeit der Bearbeitung ist dadurch
entstanden, daß mehrfach eigne Untersuchungen erstmals
publiziert sind, was eine breitere Ausführung erforderlich
machte; sie wird sich bei einer zweiten Auflage beseitigen
lassen; auch sollte der Druck dann nochmals
gründlich durchgesehen werden.
Berlin. Titius.
Gruner, Prof. Dr. Paul: Das moderne physikalische Weltbild
und der christliche Glaube. Berlin: Furche-Verlag 1922.
(30 S.) 8°. Gz. -40.
Gruners Vortrag ist auf der Deutschen Christlichen
Studentenkonferenz gehalten und beschäftigt sich vornehmlich
mit dem Verhältnis der Einsteinschen Relativitätstheorie
zum christlichen Glauben. Unter den physikalischen
Theorien, die den Materialismus überwinden
halfen, ist neben dem Druchbruch der von Boltzmann,
Poincare u. a. immer klarer formulierten phänomenologischen
Naturauffassung und der Begrenzung des
Atomismus durch die Elektronentheorie die Relativitätstheorie
von besonderer Bedeutung. Die Theorie, vorerst
„selbstverständlich eine bloße Hypothese", erweitert das
Galilei-Newtonische Prinzip der Relativität des Raumes
bei gleichförmiger Bewegung (die als solche unbemerkt
bleibt) auf die ganze Physik und involviert damit die
Nicht-Objektivität von Raum und Zeit, an deren Stelle die
Rechnung eine vindimensionale Mannigfaltigkeit setzt.
Damit führt sie zu Ausdrucksformen der Naturgesetze,
die vom raum-zeitlichen Bezugssystem des Beobachters
unabhängig werden und sich durch überraschende Einfachheit
auszeichnen. Es ergeben sich gewisse allumfassende
Grundgesetze, „eine Art mathematischer Weltformel
, aus der mit logischer Konsequenz der ganze Aufbau
der Welt vom Atomkern bis zum System der Milchstraße
aufgebaut werden kann". Die Geometrie wird zu
einem Teil der Physik, bezw. die Physik eine Wissenschaft
von der Art der Geometrie, gewissermaßen eine
„Logik der Welt", eine denknotwendige Erkenntnis der
möglichen Formen des Weltgeschehens. Aber eben auch
nicht mehr, denn von dem Inhaltlichen der unmittelbar
erfahrenen Wirklichkeit geht in die physikalische
Welt im Grunde nichts ein. Die „formale Verfassung
der Wirklichkeit", mit der es die Physik zu tun hat, hat
mit dem „Grunde der Wirklichkeit" nichts zu tun. Es
muß ganz andre Erkenntniswege geben, wenn die Wirklichkeit
von uns erfaßt werden soll. Die Relativität alles
Naturerkennens fordert nicht die Relativität aller Erkenntnis
, sie verlangt nicht einmal den Determinismus.
Die Schuldtrage als Anerkennung einer absoluten ethischen
Norm und das unbezähmbare Sehnen unserer
Seele nach absoluter Wahrheit weisen auf eine Wirklichkeit
hin, die vollständig außerhalb unsers naturwissenschaftlichen
Erkennens liegt, die sittlich religiöse, deren
„In die Zeit treten" an einem bestimmten Punkte der