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Ausgabe:

1924 Nr. 7

Spalte:

128-129

Autor/Hrsg.:

Wilamowitz-Moellendorff, U. von

Titel/Untertitel:

Staat und Gesellschaft der Griechen und Römer bis zum Ausgang des Mittelalters. 2. Aufl 1924

Rezensent:

Jülicher, Adolf

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Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 7.

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ihm wohl bald der Atem ausgegangen. Aber auch so gelingt
ihm sein Unternehmen nur, weil er unzulässig
schematisiert und für Paulus Antithesen behauptet, die
für ihn nie bestanden haben. So verbindet er die Stücke
Rom. 5, 12—21 und 1. Kor. 15, 20—28 und erfreut sich
nun einer „strengen Systematik": „wie sich der Anfang
in drei Etappen vollzog, der Schöpfung Adams, dem
Sündenfall und dem Gesetz, so auch das Ende: Auferstehung
Jesu, Lebendigwerden des Menschen, Rückgabe
des Reiches" (11). Weder den Korinthern noch
den Römern konnte die Gesetzmäßigkeit der zweimal drei
Etappen zum Bewußtsein kommen; das ist dem modernen
Strukturanalytiker vorbehalten, der 1. Kor. u. Rom. neben
einander studiert. Immerhin kann man hier noch zur
Not mit L. gehen, wenn man alles ins Innenleben des
Apostels verlegt und ihm die erforderliche Unempfind-
lichkeit gegenüber den Verständnismöglichkeiten seiner
Leser zutraut. Völlig jedoch scheiden sich meine Wege
von denen des Verf., wenn er im Interesse ausgeprägter
Gegensätzlichkeit den Christusglauben des Pls dahin
interpretiert, daß dem Herrn der Herrlichkeit ein ganz
und gar irdischer Jesus mit reiner Fleischesnatur, „auch
mit Sünde" gegenübertritt (26). Das heißt doch den
Apostel einer vorgefaßten Meinung zu liebe gröblichst
mißverstehen. Daß Jesus ein Sünder sei, hat Pls ausdrücklich
bestritten (2. Cor. 5, 21), und der unumwundenen
Erklärung, daß er aus Fleisch bestünde, ist er — eben
um der engen Beziehung zwischen Fleisch und Sünde
willen — ausgewichen. Er sagt gerade nicht, Christus
sei ev oaQxi äiiagriag erschienen, sondern gebraucht
wiederholt den eigentümlichen schwebenden Ausdruck
h huotduceti oaQ/.ög (Rom. 8, 3. Phil. 2, 7). Und die
Meinung gar, der Herr auf Erden wäre nichts als
Fleisch und alles Geistes baar gewesen, nur damit der
fleischliche Christus in sein absolutes Gegenteil umschlagen
kann, ist alles andere eher als die Überzeugung
des Apostels.

Noch ein Wort zu Gunsten der von L. recht abfällig
behandelten sog. religionsgeschichtlichen Forschung
. Sie bemüht sich, die Verkündigung des Paulus
nach Inhalt und Form so weit möglich zu begreifen, indem
sie auf Entlehnungen und Analogiebildungen hinweist
, überhaupt die Umwelt des Apostels für ein tieferes
Verständnis seiner Predigt fruchtbar zu machen sucht.
Die Originalität des Paulus wird von ihr, soweit sie ernst
zu nehmen ist, nicht angezweifelt. Daß er sein „System"
aus „Bestandteilen anderer Religionen aneinandergeleimt
habe" (25), wird, so weit ich sehe, nirgends behauptet.
L. verachtet das subalterne Fragen nach religionsgeschichtlichen
Parallelen. Er weiß, daß bei Pls. alles aus
dem Inneren strömt und daß ihn eine bestimmte Denkrichtung
das überkommene Begriffs- und Ausdrucksmaterial
souverän handhaben läßt. So zerbricht sich
z. B. lediglich „der nur mit Aneinanderreihung von Parallelen
arbeitende Philologe" den Kopf darüber, wie
Pls. zu dem Begriffspaar «5«« xpvxiv.ov und owua
nveviiarLY-öv l.Cor. 15, 44 ff. kommen konnte (23). Wer
die geistige Struktur des Apostels erfaßt hat, weiß, daß
er zu einem solchen Gegensatz einfach kommen mußte,
und das genügt ihm. Was auch immer in den gewaltigen
Mechanismus des paul. Denkens hineingezogen worden
sein mag, es erlebt dort eine derartig radikale Veränderung
, daß es kaum mehr einen Sinn und Nutzen haben
kann, nach seiner ursprünglichen Bedeutung und seiner
Herkunft zu fragen.

Das scheint mir eine recht oberflächliche Beurteilung
des Wertes religionsvergleichender Arbeit. Und
außerordentlich unzulänglich ist, was auf S. 23 f. gegen
Reitzenstein, der zu der Karrikatur des parallelenwütigen
Philologen Modell gestanden hat, ausgeführt wird. Was
Paulus veranlaßt, den vergänglichen Leib, den er l.Cor.
15 dem unvergänglichen, pneumatischen Körper gegenüberstellt
, fftOjua xpvyixöv zu nennen, während man Odilia
oaQ/.ivov erwarten möchte, das erklärt keine „individuelle
Technik der Begriffsbildung und Gedankenführung
". Die Behauptung, diesen für griechische Ohren
ganz neuen Ausdruck hätte der durch die Spannung der
Antithesen in Betrieb gesetzte gewaltige Denkapparat
des Apostels das Überlieferte und Übliche zermalmend
und umknetend selbsttätig produziert, heißt auf den
Versuch einer Erklärung verzichten. Die seltsame Bezeichnungsweise
entstammt weit weniger einer besonderen
Denktechnik, als dem 15,45 ausdrücklich ausgesprochenen
Wunsch, einen Schriftbeweis für die Möglichkeit
der körperlichen Auferstehung zu liefern. Wie
Pls die beiden Adam in dem doppelten Schöpfungsbericht
der Schrift wiederfindet, so fällt ihm wegen Gen. 2, 7
der Begriff xpoxij auf den ersten, den irdischen Menschen.
Damit ist ihm der Gegensatz gerade von xpvxiyog und
/cveviiaTix/ig, den es begreiflich zu machen gilt, gegeben.
Daß der griechisch sprechende Apostel jedoch einen
derartigen Beweis überhaupt zu führen und seinen Lesern
zuzumuten vermochte, das hat uns erst Reitzenstein mit
seinen Parallelen einigermaßen verständlich gemacht.
Wir werden überhaupt für die Aufhellung von sehr vielem
auch in der Gedankenwelt des Paulus auf die opfervolle
und mühselige Sammel- und Nutzungsarbeit der
Religionshistoriker nach wie vor nicht verzichten wollen.
Die Anerkannten unter ihnen haben wahrhaftig keine
übertriebenen Vorstellungen von der eigenen Leistungsfähigkeit
und der Bedeutung der von ihnen erzielten
Resultate. Möchte man das doch auch von dem Strukturanalytiker
sagen können.

Göttingen. W. Bauer.

Staat und Gesellschaft der Griechen und Römer bis zum Ausgang
des Mittelalters. 2. Aufl. Von U. von Wilamowitz-Moellen-
dorff, J. Kromayer und A. Heisenberg. Leipzig: B. G. Teubner
1923. (VI, 437 S.) gr. 8°. -■ Die Kultur der Gegenwart, hersg. v.
P. Hinneberg Tl. II, Abt. IV, 1. Gz. geb. 9—; Hlbld. 26—.

Die 2. Auflage dieses Werkes präsentiert sich äußerlich
genau so stattlich wie die erste vom Jahre 1910,
und der Inhalt ist, was allerdings keine Spur im Vorwort
dem Leser verrät, noch reicher geworden. In der
ersten Hälfte hat zwar U. v. Wilamowitz-M. — erfreulicherweise
— an seiner glänzenden Darstellung des
Staates und der Gesellschaft der Griechen nur weniges
geändert; daß an Stelle von B. Niese für „die Römer"
J. Kromayer hat treten müssen, wird Alle, die den zu
früh Abberufenen zu schätzen wußten, wehmütig stimmen
. Aber der neue Guß ist wohlgelungen, durch Klarheit
besonders auch im Aufbau des Ganzen, kräftige
Heraushebung der großen Linien und Anleitung zu einem
gesunden Urteil ausgezeichnet. Ganz neu ist ein dritter
Abschnitt von August Heisenberg: Staat und Gesellschaft
des byzantinischen Reiches S. 364—414. Nur
über diesen wage ich ein selbständiges Urteil; er geht
den Kirchenhistoriker ja so nahe an wie möglich —
womit ich nicht sagen will, daß uns nicht auch die beiden/
andern willkommen wären.

H. ist mit seinem Stoff selbstverständlich vertraut
und würde wahrscheinlich gern mehr geboten haben,
wenn ihm größerer Raum zur Verfügung gestanden
hätte. Was seine Aufgabe so erheblich schwerer macht
als etwa die Kromayers, und vollends undankbarer
als die von Wil., brauche ich hier nicht auszuführen; an
darstellerischer Kunst läßt er es nicht fehlen. Aber seinen
Auffassungen vermag ich mich öfter nicht anzuschließen.
Ich denke dabei weniger an die Vorbedingungen, die er
in den letzten Sätzen seiner Skizze für die neue Größe
der Griechischen Nation festsetzt, oder an das der
russischen Kirche der Gegenwart und dem jungen griechischen
Staat S. 374 u. 378 gestellte Horoskop. Aber
ist das Christentum wirklich schon unter Konstantin
Staatsreligion geworden? Hat Johannes Chrysostomus
zuerst Freiheit der Kirche im Staate verlangt? Hat gerade
die Krönung Karls des Großen auch Italien aus
seiner Verbindung mit der griechischen Staatsgewalt losgemacht
? Durchweg scheint mir der Verf. im Gegensatz