Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1924 Nr. 6

Spalte:

114-115

Autor/Hrsg.:

Graf, Emma

Titel/Untertitel:

Die Pfarrergestalt in der deutschen Erzählungsliteratur des 19. Jahrhunderts 1924

Rezensent:

Schian, Martin

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

113

Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 6.

114

nicht im religiösen Erlebnis als solchem verwurzelt (das
St. im wesentlichen in der Art von James auffaßt), er
war nur eine „ästhetische Religion", war das Erzeugnis
des „unsicheren Herumtappens einer sich selbst kaum
verständlichen Sehnsucht". Dennoch war diese halb-
schürige Religiosität eine der mächtigsten Triebkräfte
der jungen dichterischen Generation, die zunächst keinen
andern Inhalt für ihre neue, dumpfe Innerlichkeit fand.
St. sucht sich diesen Tatbestand systematisch und geschichtlich
zu erklären.

Dabei geht es nicht ab ohne die heut beliebten synthetischen Konstruktionen
und Verallgemeinerungen, doch kommen auch sehr beachtliche
Ergebnisse zutage, die von dem Scharfsinn, der geistigen Selbständigkeit
und dem weiten Blick des Verfassers zeugen. Er möchte
den ganzen Kulturbereich in „zwei inhaltlich verwandte Gruppen teilen
und innerhalb jeder der beiden Gruppen den Kulturfaktor bestimmen,
der in den restlichen Gruppenliedern wesentlich enthalten ist". So erhält
er die beiden Reihen: I. Religion, Sitte, Philosophie, Kunst.
II. Wissenschaft, Technik. Wirtschaft, Politik. In jedem Gliede
der ersten Reihe ist also Religion, in jedem der zweiten Wissenschaft
noch mitenthalten, nur wird die Gemeinschaft um so loser, je weiter
die einzelnen Glieder jeder Reihe sich von dem Anfangsglied entfernen
. So hat die Kunst mit der Religion nur noch den formalen
Schönheitszug gemein, und Phantasie und Gläubigkeit weisen eine gewisse
Verwandtschaft auf. Dennoch bleibt der religiöse Faktor das
„größte gemeinschaftliche Maß" aller Kultnrfaktoren der ersten Reihe
So erklärt sich der Verf. die ungeheure Bedeutung der Reformation für
die weitere deutsche Kulturentwicklung, besonders bei den nördlichen
und östlichen Stämmen, die um 1800 ihre kulturelle Hochblüte erlebten
. Die Religion selbst aber war damals gerade in denjenigen
Schichten, welche als Träger der neuen Gesittung in Betracht
kamen, schon nicht mehr lebendig. So sieht St. in der religiösen Welle
der älteren Romantik eigentlich eine Dekadenzerscheinung, einen
Lückenbüßer für die vielen unbefriedigten seelischen Bedürfnisse in der
Folgezeit der Aufklärung: einer Zeit, wo nur vereinzelt, bei Winckel-
mann, Hamann und Herder, die Nachklänge einer wirklich gläubigen
Gesinnung auftauchten.

Ein neuer Idealbegriff aber bildet sich bei der Jugend
des neuen Jahrhunderts unter dem Eindruck der
großen geschichtlichen Ereignisse der Erhebungszeit
(Arndt, Jahn usw.). Das neue vaterländische Gefühl ist
viel näher verwandt mit religiöser Andacht, und in ihm
erfüllt sich die durch die Wiederbelebung des Pietismus
nach dem 7jährigen Kriege wieder entfachte religiöse
Sehnsucht des Volkes — obwohl schon damals die Warnung
am Platze war: „Wehe der Religion, wenn Religiosität
Mode wird". St. weist in den allgemeinen Ausführungen
hierzu vor allem auf Arnim, Fichte, Adam
Müller usw. hin. Für die Entwicklung der romantischen
Denkform mit ihrer ganz eigentümlichen
Vereinigung von Dichtung und Philosophie auf
dem Boden eines gemeinsamen Irrationalismus kommen
nun noch ganz besondere, zeitliche und persönliche Bedingungen
in Betracht, die ebenfalls zunächst zusammengefaßt
betrachtet werden.

Die französische Revolution bringt ein Gefühl starker Abhängigkeit
von einem unvermeidlichen Schicksal (dessen Wirksamkeit man
längst in der fatalistischen Umbiegung der Tragödie beobachtet hat)
und zugleich ein reges Sehnsuchtsgefühl nach besseren Zuständen in
einer nahen Zukunft. Beide gehen nach St. auf den gemeinsamen
Grund des religiösen Bewußtseins zurück (im Anschluß an G. Mehlis,
Logos Bd. VI, S. 58ff.); zum mindesten konnten sie aus den latenten
religiösen Antrieben neue Nahrung ziehen und ihre besondere Färbung
erhalten. Freilich, erst bei den jüngeren Romantikern kommt die innere
Verwandtschaft zwischen dem religiösen Genie und dem Künstler,
kommt auch die Problematik dieses Verhältnisses zutage. St. sieht die
Berührungen des Ästhetischen und des religiösen Verhaltens in der
starken Betonung der Persönlichkeit und in der Abwertung der
Offenbarung; er vergleicht freilich auch, ohne sich über diese etwas
gewaltsame Beziehung hier näher auszusprechen, „das religiöse Versöhnungsgebot
mit der künstlerischen Wertbedeutung des moralisch
tiefer Stehenden"; wir können eher davon reden, daß sich dem tieferen
Blicke hier wie dort noch Werte entschleiern, die dem Auge des
Durchschnittsmenschen verborgen bleiben, und daß in beide Einstellungen
die grundsätzliche Wertung des Gegenstandes eingeschlossen
ist; freilich redet auch die Wissenschaft von einer „Andacht zum Unbedeutenden
". Dem gegenüber klaffen dann tiefe Abgründe zwischen
Religion und Kunst: die letztere hat kein Interesse an der wirklichen
Existenz noch an der wesentlichen Bedeutung ihrer Gegenstände; auf
beides kann die Religion nicht verzichten. Einen weiteren bedeutsamen
Unterschied arbeitet St. gleich in den grundsätzlich-allgemeinen
Erörterungen energisch heraus, um dann späterhin wieder darauf
zurückzukommen. Der religiöse Erlebnisakt wurzelt in der positiven
Glaubensstimmung; von jeder Endlichkeit fühlt sich der gotterfüllte
Mensch auf das Unendliche zurückgewiesen. Die Unzulänglichkeit
der Erscheinung gegenüber dem Wesen, des Außenwerkes
gegenüber dem Zentrum kann dabei unberücksichtigt bleiben, soweit
nicht unberechtigte Ansprüche der Empirie zurückgewiesen werden
müssen. Wenn aber der Romantiker die Schönheit als eine Erscheinung
des Göttlichen in der Wirklichkeit definiert, so schwingt der
Gedanke der „eigentümlichen Nichtigkeit" der schönen Erscheinung
mit, ohne daß doch, wie wir hinzufügen müssen, der gestaltende Trieb
der Künstlernatur sich dabei beruhigen könnte. So geht es mit „romantischer
Ironie" von einem Versuch zum andern fort, nicht zum Schaden
des „religiösen Erlebnisses", das darüber stets befestigt und verfeinert
wird. Freilich wird damit die persönliche Note dieses religiösen Erlebnisses
noch nicht berührt. Und gerade hier setzt nun die neue Romantik
ein: hatten Luther und Zwingli das unbedingte, transzendentale
Glaubensideal mit dem persönlich-sittlichen vergeblich auszugleichen
gesucht, so „unternimmt die ostdeutsche Renaissance noch einmal
mit neuen Kräften einen ähnlichen Versuch". Dabei wächst ihr künstlerisch
-geistiges Lebensideal immer tiefer in den Irrationalismus hinein,
wie das denn St. an einer stattlichen Reihe von Künstlern und Theoretikern
und Denkern um 1800 zu erweisen sucht.

Wir können leider hier nicht des näheren auf
die scharf umrissenen Charakteristiken eingehen, die
St. dann besonders in den Abschnitten „Literar-
kritische" und „Philosophie - geschichtliche Analyse"
entwirft, wir empfehlen nur unsern Lesern etwa die
Abschnitte über Lavater und Hamann, Schleiermacher
usw. zu eingehendem Studium und zur Weiterführung
der gegebenen Anregungen von der theologischen
Seite her. Aber auch der große Schlußabschnitt
(„Ausdruck und Darstellung") streift immer wieder
die Beziehungen zwischen Kunst und Religion und
belebt die in den einleitenden Ausführungen gegebenen,
bisweilen etwas schematischen Darlegungen ganz außerordentlich
. Besonders auf die näheren Ausführungen
über Romantische Ironie (S. 271 ff.) sei im Hinblick auf
das oben Gesagte noch eigens hingewiesen. Der Hauptwert
des Buches beruht auf solchen Einzelstudien, die
dann immer wieder an die „romantische Denkform"
heranzuführen suchen, ohne daß es doch zu einer klaren
Formulierung käme. Im übrigen bringt es St's ganze
Einstellung mit sich, daß er die Trennungslinien
zwischen ,Klassik' und ,Romantik' allzuscharf zieht und
sich auch sonst von Konstruktionen nicht ganz frei hält.
Hamburg. Robert Petsch.

Graf, Dr. phil. Emma: Die Pfarrergestalt in der deutschen
Erzählungsliteratur des 19. Jahrhunderts. Eine ideengeschieht!.
Studie. Konstanz (Baden): Reuß & Itta 1922. (121 S.) 8°. Gz. 3—.

Ein historischer Teil will die Grundlage für den
literarischen schaffen. Eine sehr lobenswerte Absicht.
Aber die Ausführung läßt viel zu wünschen. Statt sich
energisch auf die Linien zu konzentrieren, die für die
Entwicklung des Pfarramts und des Pfarrers wichtig
sind, gibt G. auf 49 S. (von insgesamt 120 S.) einen
Abriß der Kirchengeschichte des 19. Jahrh. Sie zeigt dabei
viel Sachkenntnis, obschon böse Versehen nicht
fehlen (S. 9 Verwechslung von Lavater und Zschokke;
hoffentlich nur Druckversehen). Aber es findet sich ein
reichliches Quantum von Darlegungen, die für diesen
Zweck überflüssig sind; und es fehlt andererseits die
Heraushebung von Gesichtspunkten, die für das Thema
sehr wichtig sind. Der geschichtliche Unterbau mußte
ganz anders organisch auf den Oberbau berechnet werden
. Teil II gliedert die Romane, die für das Thema in
Frage kommen, in 3 Teile: 1. Dogmatische, 2. Individuell
-ethische, 3. Sozialethische Probleme. Dabei muß
mancher Roman mehrmals herangezogen werden; aber
das wäre auch bei jeder anderen Einteilung der Fall gewesen
. Vollständigkeit erstrebt G. nicht; sie stützt ihre
Ausführungen aber auf eine Fülle längerer oder kürzerer
Analysen von Romanen und Erzählungen des 19. Jhrh.s
und unserer Zeit. Nicht übergangen werden durfte Polenz
' Grabenhäger (dem Titel nach genannt, aber in-