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Ausgabe:

1924 Nr. 3

Spalte:

66-67

Autor/Hrsg.:

Girgensohn, Karl

Titel/Untertitel:

Religionspsychologie, Religionswissenschaft und Theologie 1924

Rezensent:

Ritschl, Otto

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Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 3.

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Seite im Lebenswerk des großen Theologen bekannt macht. Die Staatsauffassung
Schleiermachers wird in ihrer ganzen Entwicklung lichtvoll
dargelegt, wird dazu stets als organischer Ausdruck seiner philosophischen
Gesamtanschauung und im idccngeschichtlichcn Zusammenhang
des protestantischen Staatsbewußtseins überhaupt und des deutsch
idealistischen im besonderen betrachtet. Alle nur in Betracht kommenden
Schriften des Meisters sind herbeigezogen, auch die Predigten und
die Akadcmicabhandlungcn, selbst die Glaubensichre ist nicht vergessen
, - nur aus den Briefen ließe sich vielleicht noch die eine oder
andere wertvolle Stelle ausfindig machen. Mit Recht wird die Gewinnung
des organischen Staatsgedankens (der übrigens auch Luther
eigen war!) schon vor das Jahr 1800, ja 1802 gelegt, mit Recht wird
er schon in Reden und Monologen wahrgenommen. Die übliche Unklarheit
, die meist Fichte zugute kam, als sei dieser der erste philosophische
Verfechter des nationalen Gedankens gewesen, ist hoffentlich
nun für immer überwunden. Es ist ein erster Höhepunkt in der
Schrift Holsteins, wenn er (K. VIII) zeigt, wie mit Schleicrmachers
in Halle beginnender politischer Predigt „die aus dem Luthertum hervorgehende
Staatsgesinnung in die zweite Epoche ihrer weltgeschichtlichen
Wirksamkeit eintritt". „Erst jetzt kann die ganze religiöse
Motivkraft ihres ursprünglichen Inhalts in Erscheinung treten; in dein
organischen Gedanken und durch den organischen Gedanken vermag das
religiöse Gefühl der lutherischen Staatsgesinnung als belebender Atem
auch in das Daseinsgefühl des modernen Staates einzuströmen." Das
alles ist um so bedeutsamer, als das anschließende Kapitel den Beweis
erbringt, daß unter den Denkern jener Tage Schleicrmachcr wirklich der
erste gewesen ist, „der aus dem organischen Gedanken heraus systematisch
den für das neue Staatsgefühl notwendig gewordenen philosophischen
Aufbau eines neuen begrifflichen Gesamtbildes in seinem
ganzen Umfang . . . vollzogen hat".

Auch sonst ist H.s Auseinandersetzung über Schleiermachers ro

daß die Staatslehre „der Methode nach eben in der Mitte zwischen der
rein spekulativen Politik des älteren Idealismus und der in erster
Linie historisch orientierten des kommenden Zeitalters steht" (S. 108),
in der Mitte also zwischen der Methode der Ethik und einer bloß empirischen
Betrachtung! In der Tat kann die Methode der Politik
nicht einfach empirisch sein, so wahr Schleiermacher eine „wissenschaftliche
Staatenbeschreibung" bieten will. Andrerseits gehört sie
doch auch nicht zu jenen vermittelnden Disziplinen, die nach der Ethik
von der Spekulation zur Empirie überzuleiten haben: hier haben wir
gerade den Versuch, in der Realität des Lebens die Idee zu finden! Es
ist gegenüber dem Hauptzug der Ethik (zumal von 1810) eine Neuorientierung
, es ist gegenüber der deduktiven idealistischen Spekulation
ein modernes Beginnen, das doch nicht der empirischen Flachheit
verfällt. Was bedeutet aber nun diese Doppelheit, läßt sich ein
Ausgleich finden, oder weist das Phänomen, in sich unausgleichbar, über
sich hinaus? Diese Frage liegt schon jenseits des Holsteinschen Buchet,
dessen Verdienst darin besteht, uns darauf aufmerksam gemacht zu
haben. Es ist eine Frage, die uns wieder vor die Problematik der
Schleiermacherschen Methode überhaupt stellt, wie sich denn auch
z. B. in der Dialektik ein deduktives und ein reduktives Verfahren
kreuzen.

Im übrigen zeigt das Schlußkapitel mit seiner Verhältnishestimm-
ung des politischen Ideals Schleicrmachers zur Steinschen Reform und
dann seiner Staatslehre zu der Hegels und Stahls die Charakterisie-
rungskunst des Verfassers nochmals in hellem Licht.

Münster i. W. O. W c h r u n g.

iehen, Prof. Dr. med. et phil. Theodor: Grundlagen der Naturphilosophie
. Leipzig; Quelle u. Mever 1022. (VII, 123 S.) kl. 8°
=a Wissenschaft und Bildung 182.

mantische Zeit in ihrer Selbständigkeit erfreulich. Vortrefflich wird : Ucr Naturphilosophie weist Ziehen die Aufgabe zu, durch Elimi-

neben dem Individualitätsgedanken die andere „meist in den Hinter- i "ation der vom Nervensystem abhängigen subjektiven Elemente der

grund gedrängte" Hälfte der Botschaft, der Gemeinschaftsgedanke ge- Empfindungen die allgemeinen Grundbestandteile im Gegebenen festzu-

würdigt Es steht mir auch schon lange fest, daß Individualität und | stellen und das entsprechende allgemeine Weltbild zu entwickeln. Dem-

Gemeinschaft für den jungen Schleiermacher durchaus Correlatbegriffe j gemäß wird die Frage aufgeworfen, wieweit den Verschiedenheiten unserer

sind (vgl. jetzt E. Neubauer, die Begriffe der Individualität un'd Ge- 1 Empfindungen nach Qualität, Intensität, Lokalität, Tcmporalität ana-

meinschaft im Denken des jungen Schleiermacher. Theol. Stud. u. j loSe Verschiedenheiten der Naturdinge entsprechen und die Antwort in

Krit. 1923, Heft 1/2). Wenn außerdem für das Verständnis der Reden
und gerade des Individualitätsprinzips der Polaritätsgcdanke stärker
als gewöhnlich hervorgehoben wird (S. 44ff.), so ist das wohl zu beachten
, es ist etwas Richtiges daran. Doch darf nicht übersehen
werden, daß dieser Polaritätsgcdanke selbst inhaltlich-metaphysisch verschieden
bestimmbar ist und auch von Schlciermacher in seinen zwei
großen Hauptepochen verschieden bestimmt ist. H. freilich scheint eine

der Linie eines „qualitativen Monismus" d.h. einer nur quantitativen
Unterschicdenheit der Naturelemente gesucht. Das Gesamtbild der
Natur wird im Sinne der Energetik (unter Ablehnung des Substanzbegriffs
) gezeichnet; eine Sonderstellung der Biologie im Sinne des Nco-
vitalismus wird abgelehnt. Diese Grundanschauung hindert aber den
Autor nicht, vorhandene Schwierigkeiten offen anzuerkennen und so
wird von den heute die Naturforscher — und nicht nur sie — begeradlinige
Entwicklung Schleicrmachers von den Reden an, z. B. des ! wegenden Fragen ein sachkundiges und zur Einführung wohl geeig-
Religionsbegriffes, aber auch überhaupt, anzunehmen, was ja für die I netes Bild ergehen. Man wird danach dem „ausführlichen" Werk

Festhaltung des organischen Staatsbegriffes im großen und ganzen zutrifft
. Es ist zu erwidern, daß nach dem heutigen Stand der Schleiermacherforschung
jene Meinung nicht mehr aufrecht erhalten werden
kann. Aus herrnhutischen 'Anregungen wird der Polaritätsgedanke übrigens
kaum herzuleiten sein; soll irgend eine fremde Anregung für
Schleicrmachcr angenommen werden, so wäre am ehesten an Fr. Schlegel
zu erinnern.

über Naturphilosophie, das Z. ankündigt, mit lebhaftem Interesse
entgegensehen.

Berlin. Titius.

Ording, Hans: Untersuchungen über Entwicklungslehre
und Teleologie. Mit Rücksicht auf d. theol. Erkenntnis. Berlin-
Trowitzsch u. Sohn 1021. (106 S.) gr. 8° Gz. 3—.

Aus dem Kapitel über Schleicrmachers Stellung in der Staats- j Ording prüft zunächst den Entwicklungsgedanken in seinen verphilosophischen
Entwicklung des deutschen Idealismus hebe ich noch | schiedenen Prägungen, seinen Grundclementen sowie seiner Anwenden
Hinweis auf die Möglichkeit einer gcw.ssen Beeinflussung Fichtes, ] dung in Ethik, Religionsphilosophie und Theologie mit dem Ergebnis
Sendlings, Hegels durch Schlciermacher hervor, ja die These vom posi- j daß Entwicklung und Freiheit bezw. Schöpfung einander aufheben und
tiven Einfluß Schleicrmachers auf die „Methode des akademischen Stu- , cjnc wirkliche Verbindung von „Naturalismus" und „Idealismus" durch
diums". Von solchen anregenden Wirkungen Schleicrmachers in jenen j inn nicht, auch in der Hegelschen Form nicht, erreicht werde. Dagegen

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Jahren bin ich schon lange überzeugt; dieser ganzen Frage sollte ein
mal gründlich nachgegangen werden, für die Philosophiegeschichte
scheint sie bisher nicht zu bestehen! Herzerfreuend ist im gleichen
Kapitel das Wort über Schiller: „wie sich überhaupt an keinem unsrer
Großen das Unverständnis einer ideenarmen Nachwelt schwerer versündigt
hat wie an ihm" (S. 112). Schiller ist (neben Novalis) von H. einleuchtend
als Vorläufer der Staatsgesinnung Schleicrmachers gewürdigt
; ich glaube noch andere Parallelen zwischen Schiller und Schlciermacher
zu sehen.

In den Abschnitten über die staatspolitischen Vorlesungen Schleicrmachers
laufen die Linien des Buches zusammen. Die schwierige Materie
findet auf mehr als 70 Seiten eine wirklich lesbare, zuverlässige
Erörterung, es ist förmlich ein fortlaufender Kommentar. Auch hier
scheint die Berichterstattung sofort zu einem gewissen Abschluß gebracht
, nur eine Einzcluntersuchung wäre in der Lage, genauer nachzuprüfen
. Wichtiger ist für uns, was über die Methode des Unternehmens
gesagt wird; denn das greift über das nächste Problcmgebict
hinüber und läßt nach der Obereinstimmung mit Schleiermachers Gesamtmethodik
fragen. Die einleitenden Bemerkungen in K. X sind
noch vorsichtig zurückhaltend, das letzte zurückschauende Kapitel gibt
bestimmtere Auskunft. Wir stehen vor der Tatsache, daß die Methode
der Ethik und die der Politik verschiedene Wege gehen. U. z. nicht insofern
, als die Politik das empirische Gegenstück zur Ethik böte, —
H. scheint zunächst dieser Ansicht, während er am Schluß feststellt,

ist die Teleologie, die als formale im Sinne Kants die Voraussetzung
der objektiven, in der Empirie nachweisbaren bildet und mit der
transzendentalen Gottesidee identisch ist (139), das geeignete Prinzip,
um die Eigenart des Christentums sowie seine Verankerung im allgemeinen
Geistesleben wie in der Natur festzustellen. Denn die „christlichen
Glaubenszeugnisse sind teleologische Urteile" (164), und in ihnen
ist zugleich die Freiheit mit der Notwendigkeit in eigenartiger Weise
verbunden (191). Die weitere Ausführung zeigt eine sorgliche Verarbeitung
der einschlägigen Literatur sowie eigne Gedanken; überzeugend
wirkt sie indes vielfach nicht, weil die Strenge der Beweisführung
zu wünschen läßt und vielfach subjektive Geschmacksurteile
den Ausschlag geben. Auch sind die Tatsachenreihen, die hinter
den einzelnen Prägungen des Entwicklungsgedankens stehen, zu wenig
gewürdigt. Gleichwohl zeigt die Abhandlung als Erstlingswerk bemerkenswerte
Vorzüge, so daß man wünscht, gereifteren Arbeiten des
Verfassers zu begegnen.

Berlin. Titius.

Girgensohn, Prof. D. Dr Karl: Religlonspsychologie, Religionswissenschaft
und Theologie. Antrittsvorlesung. I eipzig ■
A. Deichert 1923. (43 S.) 8° Gz. —60.

Der Verf. setzt sich in seiner Leipziger Antrittsvorlesung
mit den wichtigsten Einwendungen ausein-