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Ausgabe:

1924

Spalte:

570-573

Autor/Hrsg.:

Häberlin, Paul

Titel/Untertitel:

Der Geist und die Triebe 1924

Rezensent:

Meyer, Joh.

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Seite 1, Seite 2, Seite 3

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findet die Ursache des Niedergangs darin, daß kein
Nachdenken über Kultur unter uns vorhanden war. Die
Philosophie hätte die Aufmerksamkeit auf das Problem
der Kulturideale lenken müssen; sie hat statt dessen an
der Aufstellung einer Totalweltanschauung gearbeitet.
Daneben haben allerdings auch andere Umstände kulturhemmend
gewirkt: die Unfreiheit, Ungesammeltheit, Un-
vollständigkeit des modernen Menschen, die Überorganisation
unserer öffentlichen Verhältnisse. Wie kommen
wir aus der Unkultur zur Kultur? Schw. stellt zunächst
fest, daß die ethische Auffassung der Kultur allein zu
Recht besteht (scharfe Polemik gegen den Wirklichkeitssinn
als Neigung, die Ideale der Wirklichkeit zu
entnehmen; aber wen trifft diese Kritik?). Stimmt
das, so gelangen wir wieder zur Kultur, wenn wir es
nur wieder zu Kulturweltanschauung und daraus sich ergebenden
Kulturgesinnungen bringen. Solche Kultur-
Weltanschauung muß optimistisch und ethisch
sein; darin wurzeln die treibenden Kulturenergieen. Also
hängt die Zukunft der Kultur davon ab, „ob es dem
Denken möglich ist, zu einer Weltanschauung zu gelangen
, die den Optimismus, d. h. die Welt- und Lebensbejahung
, und die Ethik sicherer und elementarer besitzt
als die bisherigen" (60). Soweit das Prooemium in
Bd. 1.

Der viel stärkere Bd. 2 prüft nun die Philosophien
aller Zeiten auf ihre Leistung zur Schaffung solcher
Weltanschauung. Er läßt die Philosophen von Sokrates
bis auf Keyserling und Haeckel Revue passieren: eine
knappe kritische Geschichte der Philosophie unter dem
genannten Gesichtspunkt. Ausführlich zu ihr Stellung
zu nehmen ist unmöglich. Sie zeigt große Beherrschung
des Gegenstands, höchst anregende Formulierungen (wie
das bei solchen Durchleuchtungen großer Strecken unter
einem Gesichtspunkt oft geschieht), aber auch recht
anfechtbare Aufstellungen. Für den Gedankengang des
Buchs bedeutet diese geschichtliche Abteilung ja nur
den Beweis für die von Bd. 1 aufgestellte negative Behauptung
. Soweit die Philosophie in Betracht kommt,
wird man in Schw.s kritischem Endergebnis von der
Agonie der optimistisch-ethischen Weltanschauung
manches Richtige finden. Aber jetzt geht Schw.
weiter; er zeigt einen „neuen Weg". Dieser führt
zunächst zum Verzicht auf Weltanschauung im alten
umfassenden Sinn, positiv aber zu einer Lebensanschauung
, die auf sich selbst gestellt ist. Das meint
Schw. so, daß er den Optimismus, den er will, aus dem
Willen zum Leben ableitet. „Die Erkenntnis aus meinem
Willen zum Leben ist reicher als die, die ich aus der
Betrachtung der Welt gewinne." Schw. glaubt, indem
er den Willen zum Leben erkennend ausschöpft, den
Optimismus der geforderten Lebensanschauung begründen
zu können. Er will aber auch ihre ethische Seite
von da aus sichern. Nach ausführlicher Betrachtung des
Problems der Ethik auf grund ihrer Geschichte statuiert
er die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben; sie entsteht,
indem ich die Weltbejahung, die mit der Lebensbejahung
in meinem Willen zum Leben natürlich gegeben
ist, zu Ende denke und zu verwirklichen versuche.
Schließlich werden die „Kulturenergien" dieser neubegründeten
Ethik aufgespürt. Dabei kommt Verf. u. a.
auch auf Staat und Kirche zu sprechen: sehr abstrakte
und theoretische Gedanken, die ich großenteils mit
Widerspruch begleite.

Nun sollen noch zwei weitere Bände folgen. Bd. 3
will die bisher nur skizzierte Weltanschauung der Ehrfurcht
vor dem Leben weiter ausführen. Bd. 4 soll vom
Kulturstaat handeln.

Die Inhaltsangabe zeigt, daß der Darstellung eine
völlig scharfe Gruppierung fehlt. Was Bd. 2 (doch
schon nicht ganz knapp) skizziert, soll Bd. 3 ausführen:
dann konnten ganze Stücke von Bd. 2 fortbleiben. Was
Bd. 2 beweist, ist in Bd. 1 vorausgenommen. Auch
andere Einwendungen liegen nahe. Gewisse Grundvoraussetzungen
sind wohl für Schw. gegeben, aber nicht

für andere. Nicht jeder wird den Beweis für den
völligen Bankerott der optimistisch-ethischen Weltanschauung
für erbracht halten; nicht jeder wird so
selbstverständlich wie Schw. über die Frage der religiösen
Begründung dieser Weltanschauung hinweggehen
. Wir müssen in dem Buch, obwohl das nirgends
ausdrücklich gesagt ist, Schw.s, des Theologen, volle
Abkehr von aller Theologie bisheriger Form, ja vom
historischen Christentum erblicken; was II, 18f. über
die Aufgabe der Kirche gesagt ist, widerspricht dem
nicht. Natürlich fehlt also, vom Standpunkt des Christentums
aus gesehen, dem Buch das Wesentlichste: die
Auseinandersetzung mit diesem und seiner Begründung
der Weltanschauung. Es fehlt auch, wie mir scheint, der
Skizze der neuen Weltanschauung die überzeugende
Kraft; die Ableitungen aus der Ehrfurcht vor dem
Leben muten oft gewagt an; ja, die ganze Fundamen-
tierung erregt ernsteste Bedenken. Wie aus der Skizze
eine ausgeführte Ethik werden soll, das mag man mit
großer Spannung erwarten; wichtiger ist doch das Pro-
I blem des Ausgangs und der Begründung. Läßt sich eine
j optimistisch-ethische Lebensanschauung wirklich auf dem
Willen zum Leben aufbauen? Gelingt es wirklich, so
den Pessimismus und — von Schw. kaum recht beachtete
— andere Gefahren zu überwinden? Ich bin durch
Schw. nicht davon überzeugt worden. Die grundlegenden
Seiten 209—213 haben mich völlig unbefriedigt
gelassen. Was den Optimismus des Willens zum Leben
zu trüben, zu vernichten geeignet ist, das ignoriert der
Verf.; er sieht nur seine Kraft, nicht seine Unkraft. So
kann er ihn auf sich selbst gestellt sein lassen, ohne
daß er an sich selbst irre wird. Die Tatsachen des
Lebens sprechen gegen diese Theorie.
Brertau. M. Schi an.

Häberlin, Prof. Paul: Der Geist und die Triebe. Eine
Elementarpsychologie. Basel: Kober 1924. (VIII, 506 S.) gr. 8°.

Gm. 16- ; geb. 18-.
Der Umstand, daß der Vf., wie seine bisherigen Veröffentlichungen
zeigen, von der Pädagogik zur Psychologie
geführt ist, hat ihn doch nicht in den Bahnen
einer rein experimentellen, „exakten" oder pragmatischen
Psychologie gehen lassen. Vielmehr ist seiner
wissenschaftlichen Arbeit die grundsätzliche Einstellung,
die universale Behandlung und die scharfe begriffliche
Fassung eigen. Gerade dadurch wird die Beschäftigung
mit seinen Schriften so anregend, daß sie
das begriffliche Denken fördert und eine Klärung der
Begriffe veranlaßt. Es ist nicht zufällig, daß der Vf.,
der im allgemeinen polemische Auseinandersetzungen
mit fremden Auffassungen ganz meidet, um rein sein
eignes System aufzubauen, doch sich nicht enthält,
wiederholt auf die unscharfe Begriffsbildung hinzuweisen
, die den herrschenden psychologischen Auffassungen
zugrunde liegt. In der klaren, logischen Durcharbeitung
der Begriffe liegt in der Tat die Hauptstärkc
des Buchs.

Der Haupttitel „Der Geist und die Triebe" ist a
potiori zu verstehen und gibt die Probleme an, auf die
der Vf. im Wesentlichen hinaus will. Logisch vollständiger
ist der Untertitel. Der vorliegende Band knüpft
als „Elementarpsychologie", welche nach den eignen
Bekenntnissen des Vf. programmatischen Charakter trägt
und nur den Rahmen der psychologischen Darstellung
bietet, ihre Fortsetzung und Ausfüllung aber
in einer speziellen Psychologie finden soll, an die
früher veröffentlichte Monographie über den „Gegenstand
der Psychologie" an; eine Methodik der Psychologie
hätte ihren Platz zwischen dieser Monographie

i und dem vorliegenden Bande, doch hat der Vf. vorgezogen
, die Methodik erst später zu veröffentlichen,
wenn er in der ausgeführten Psychologie praktisch gezeigt
hat, wie er die Methodik handhabt. Es handelt
sich also um eine groß angelegte Serie psychologischer

I Publikationen, in denen die vorliegende Elementarpsy-