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Ausgabe:

1924 Nr. 25

Spalte:

550

Autor/Hrsg.:

Cremer, Hermann

Titel/Untertitel:

Über den Zustand nach dem Tode 1924

Rezensent:

Steinmann, Theophil

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549

Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 25.

550

doxie vorzutragen; wohl um die Nachprüfung dieses
Anspruchs zu erleichtern, ist als Anhang ein Schema der
hergebrachten Loci mit Verweis auf die eignen Paragraphen
abgedruckt. Das ist umso erwünschter, als E.
nach Anordnung und Sprache mit Bewußtsein seine
eignen Wege geht; er will die alte Wahrheit in einer
Gestalt vortragen, in der sie den Zeitgenossen verstandlich
ist.

Wem Es größeres Werk, „Der Kampf um das
Christentum" 1921 (vgl. Th.L.Z. 1922, Sp. 281ff.), gegenwärtig
ist, wird sich freuen an der nachträglichen Erläuterung
,' die E. jetzt in der Vorrede der von ihm dort
geforderten „D i a s t a s e" gibt; die Diastase besteht ihm
fetzt in dem Bewußtsein, als Christ Bürger zweier
Welten zu sein, und dementsprechendem Verhalten. In
diesem Sinne sind wir, soweit wir es ernst nehmen, wohl
alle Diastatikcr; ich würde es aber für klarer halten,
mit E. selbst im 3. Teil statt von dem Vollzug der
Diastase vom Tragen einer hier auf Erden nicht aufheb-
baren Spannung zu reden. Auch einen andern Gesichtspunkt
in E.s Vorrede, den, daß die Versöhnung in
den Mittelpunkt des theologischen Systems zu stellen
sei, kann ich mir aneignen.

Ob diese Gemeinsamkeit in zwei letzten Grundsätzen
nun aber auch wirkliche Einheit in der theologischen
Gesinnung bedeutet, darüber kann nur die
konkrete Ausführung entscheiden. Und da steht nun
gleich in der Vorrede das, was mich bedenklich macht:
E. hebt als einen leitenden Gesichtspunkt hervor, daß
die Versöhnung Gott und Mensch als „zwei wenigstens
relativ selbständige Kontrahenten" voraussetze, und wendet
sich dementsprechend gegen „einseitige Betonung
des Erwählungsgedankens" und „der Absolutheit
Gottes". Er stellt sich also in dem Widerstreit von
Luther und lutherischer Orthodoxie auf Seiten der letzteren
; und die Durchführung im Systeme selbst denkt
alles vom ersten bis zum letzten Wort mit solcher Folgerichtigkeit
von der Willensfreiheit aus, daß die Grundstimmung
von der auch des Luthertums verschieden erscheint
. Der Glaube ist etwas, das wir auch verweigern
können, sodaß der an sich universale Gnadcnvville
Gottes vom Menschen eingeschränkt wird; die Erwählung
ist also mitbedingt durch ein freies menschliches
Ja zur Versöhnung; der Monergismus der Gnade wird
allein dadurch, daß Glaube Reaktionserscheinung ist,
gewahrt. Sogar von einer „Durchkreuzung des göttlichen
Rettungswillens" weiß E. zu reden. E. wird doch
wohl wissen, was Luther selbst zu solcher Theologie
gesagt hätte? Eine so ängstliche Durchgestaltung aller
theologischen Aussagen, unter dem Gesichtspunkte, daß
der Mensch auch „etwas" sei, hätte ich doch schwer für
möglich gehalten.

Ich komme nun zu Punkten, an denen E. mit seiner
Grundauffassung nicht nur mit Luther selbst, sondern
auch mit dem Luthertum in Widerspruch gerät. Er
läßt seine ganze Darstellung einsetzen mit dem Konflikt,
in dem unser unsre Lebendigkeit ausmachender Freiheitswille
mit den Lebenshemmungen steht, faßt diese
Lebenshemmungen dann unter dem Begriff Schicksal
zusammen, und setzt dann Gott mit diesem Schicksal
gleich; der Name Gott bezeichnet dabei am sichersten
die Hoheit, Freiheit und Lebendigkeit des uns beengenden
Schicksals. Das ist das, was bei E. der revelatio
naturalis entspricht, und wofür er die Zustimmung jedes
lebendigen Menschen in Anspruch nimmt! Wirklich?
Die ursprüngliche Beziehung auf Gott ist darin gegeben
, daß wir unser Leben nicht von uns selber haben;
und darin liegt, daß wir im Innersten des Lebenswillens
bedingt sind durch den Schöpfer, und ihm für seine
Gabe Dank und Dienst schulden. So dachten sich die
Väter unsrer Kirche die Sache. Eine Betrachtung wie
die E.s, nach der Gott nicht zuerst als der Geber und
das Leben nicht zuerst als seine Gabe empfunden wird,
ist mit ihnen im Widerstreit. Wohin E„ gewiß ohne
Absicht, von seinem unmöglichen Ausgangspunkte aus

gerät, zeigt seine vom Gewissen und dem Gebot Gottes
völlig abstrahierende Ableitung des Schuldbewußtseins;
es ist eine der größten Seltsamkeiten der Schrift, daß erst
vom begründeten Schuldbewußtsein aus die Frage nach
dem Inhalt des göttlichen Willens entsteht.

Ist so die Unmöglichkeit des Einsatzes erkannt, so
ist das Urteil über die ganze Schrift gegeben. Denn E.
eignet Geschlossenheit der Gesamtansicht. Man kann
nicht den Anfang verneinen, ohne daß man in Widerspruch
gerät mit Fortsetzung und Ende.

So verzichte ich darauf, zu andern Punkten meinen Widerspruch
geltend zu machen; es müßte beinah § für § geschehen; in manchen
Fällen kann meine Antithese aus Schlatter's Dogmatik von E. ersehen
werden. Nur zwei Beispiele noch, welche das Verhältnis E.s zur
Wissenschaft beleuchten. S. 15 behauptet er Überlegenheit der alt-
testamentlichen Berichte von Israels Geschichte als historische Quellen
im Verhältnis zu den Quellen für die gleichzeitige Geschichte anderer
Völker. Und dabei besitzen wir doch auf assyrisch-babylonischem
Boden sogar Urkunden, die uns die Daten des Alten Testaments
für die Geschichte Israels korrigieren helfen. S. 64 f. ferner zeugen
davon, daß E. das Wesen des Staats in der Rechtsgemeinschaft
aufgeht, daß er also mit den Problemen der neuen Staatslehre
außer Fühlung ist.

Gleichwohl wird es keinen gereuen, an der Kritik
dieses Buchs seiner eignen Ansicht bewußter zu werden.
Das bleibt der Vorzug E.s, daß er sich auf edle, eigenartige
Weise an den alten Fragen versucht.

Göttingen. E. Hirsch.

Crem er, D. Hermann: Über den Zustand nach dem Tode.

Nebst einigen Andeutungen über das Kindersterben und über den
Spiritismus. 8. Aufl. Gütersloh: C. Bertelsmann 1923. (121 S.) 8".

Gm. 2.50.

Diese achte Auflage ist ein unveränderter Abdruck der siebenten
des 1868 ersterschienenen Schriftchens. Von den Problemen und
Fragestellungen eines historisch- und religiös-kritisch eingestellten
Denkens unberührt, gibt es eine schlichte Verarbeitung biblischer Gedanken
unter Vermeidung gewagter Spekulationen und mit ernstem
praktischen Tenor. Allein der christliche Unsterblichkeitsglaube, der
als Auferstehungsglaube von allem bloßen Seelenglauben streng zu
unterscheiden ist, gibt eine wirkliche Sicherheit gegen das sonst unvermeidliche
Versinken in praktischen Materialismus. Der Unterschied
der Alttestamentiichen Jenseitsvorstellungen von den Neutestament-
lichen findet seine Erklärung in der Tatsache einer realen Veränderung
der Jenseitsverhältnisse durch den Erlöser. Die Apokatastasis
wird streng rigoristisch als unbiblisch abgelehnt. Angefügt sind Trostgedanken
über das Kindersterben und eine Warnung vor spiritistischem
Unwesen.

Herrnhut. Th. Steinmann.

Ed er, Hans: Kirche und Sozialdemokratie in Vergangenheit und
Gegenwart. Wernigerode: Verlag „Die Aue". (142 S.) 8°. Om. 2—.

„Die kirchliche Arbeit an der Sozialdemokratie"
ist der eigentliche Gegenstand der kleinen Schrift. Dieses
Thema wird geschichtlich (einsetzend 1845), prinzipiell
und praktisch behandelt. Daß der Gegenstand zeitgemäß
und sehr wichtig ist, daß eine umfassende Behandlung
noch fehlt, ist nicht zu bestreiten; daß Verf.
die Fragen, auf die es ankommt, in klarem Überblick
zur Erörterung stellt, ebenso wenig. Auch der Standpunkt
, von dem aus er die Sache anpackt, ist sympathisch
. Er wägt die Schwierigkeiten der Lage, verteilt
Licht und Schatten nicht einseitig, warnt vor vorzeitiger
Preisgabe der Sozialdemokratie und noch mehr davor,
Sozialdemokraten durch kirchliches Bourgeoistum vor
den Kopf zu stoßen; er gibt in manchem Einzelnen ganz
gute Ratschläge, die freilich nirgends neu sind (wichtig
ist ihm die Bildung von Kerngemeinden). Ich glaube
auch, daß manche Leser (auch Theologen) aus seinen
Ausführungen allerhand für sie Nützliches entnehmen
können; aber doch eigentlich nur, falls sie sich selbst
vorher wenig mit der ganzen Frage beschäftigt hatten.
Denn — in die Tiefe geht E. nicht; weder im Geschichtlichen
noch im Grundsätzlichen. Man wird sogar, ohne
ungerecht zu werden, sagen müssen, daß er oft recht
sehr an der Oberfläche bleibt. Der geschichtliche Teil
ist nur ein knapper, recht dürftiger Überblick; der