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Ausgabe:

1924 Nr. 2

Spalte:

525-526

Autor/Hrsg.:

Bredt, Viktor

Titel/Untertitel:

Neues evangelisches Kirchenrecht für Preußen 1924

Rezensent:

Sehling, Emil

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Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 23/24.

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stimmten Buch wahrlich andere Beispiele finden lassen; doch hat
W die Texte hier wenigstens nicht übersetzt.

Bei den Lutheranern sind die in der Union lebenden mitgezahlt,
bei den Reformierten aber nicht! 203 sagt die Belegstelle aus Calvins
institutio nicht das, was W. hier belegen will. Nicht zu pedantisch
möge es erscheinen, daß ich vor solchen Wendungen warne wie: „Der
von Luther übernommene wichtige Gedanke Calvins". W. meint, daß
Luther ihn gehabt und Calvin ihn von Luther übernommen hat;
manche Leser werden das Gegenteil annehmen. 232 heißt Zwingiis
Abendmahlsauffassung „vollendet oberflächlich". Und wenn nun Jesus
selbst bei jenem Abschiedsmahl keine darüber hinausgehenden Gedanken
gehabt hätte? Er würde das Urteil des Rostocker Theologen
zu ertragen wissen. Und wie ungerecht ist es, hervorzuheben, daß aus
der reformierten Grundanschauung von Gott, Welt und Leben oft Abneigung
erwachsen sei z. B. gegen Krankheiten natürliche Mittel anzuwenden
und aus dem reformierten Biblizismus viele Sonderbarkeiten
mancher Sekten hervorgegangen seien, aber die Energie des Calvinismus
gegenüber den sittlichen Schäden der Welt nicht recht zu
würdigen! 289 heißt es, der Neucalvinismus habe „einen Lebensstil
gebilligt, der das Geld und das Verdienen über alles stellt und auch
vor der himmelschreiendsten Härte und dem grauenvollsten Kriege
keine Scheu mehr kennt, wenn dadurch Profit zu erzielen ist". Was
heißt hier „gebilligt"? Und was haben lutherische Hofprediger nicht
alles „gebilligt"!

In der ausführlichen Erörterung der lutherischen Rcchtfertigungs-
lehre argumentiert W. z. T. scharfsinnig mit Melanchthonschen Distink-
tionen. Solchem Verfahren gegenüber wird aber stets ein Bedenken
sich erheben. Was Melanchthon im Grunde will, ist deutlich; seine
religiösen Hauptmotive sind unverkennbar. Aber mit den Distink-
tionen, deren Zweck doch Klärung ist, kommen stets die Zerreißungen
des Zusammengehörigen, die Vergewaltigungen, Unklarheiten, Widersprüche
. Z. B. heißt es S. 370: „Wenn er" (Melanchthon) „von der
erstmaligen, mit der Rechtfertigung eintretenden Wiedergeburt oder
Lebendigmachung redet, so muß er doch etwas anderes als die Um-
schaffung zu einem aktiven sittlichen Leben meinen. Denn dieses
leitet er doch von der Verleihung des hl. Geistes her; die erstmalige
Wiedergeburt aber setzt er vor die Geistesmitteilung". Müht sich Melanchthon
hier nicht in ähnlicher Weise wie Luther bei der Taufe?
Taufe ist für Luther Wiedergeburt und Erneuerung durch den hl.
Geist, Geistesmitteilung; Taufe setzt aber Glaube voraus; kann man
jedoch Glauben haben noch ohne den hl. Geist zu haben? W. erklärt
schließlich die iustificatio schon in der Apologie stärker im Sinne der
Gerechterklärung, als mir sachlich zutreffend scheint, und bestreitet,
daß die Konkordienformel „hinsichtlich der Rechtfertigung von den
älteren Bekenntnissen sachlich abweicht". Was soll 405 Anm. der
Satz, daß Troeltsch die Berliner Volksausgabe der Werke Luthers benutzt
habe? Meint W., Troeltsch habe nicht viel weiter von Luther
gelesen? 414 wird Luthers tatsächliche Abneigung gegen den Handelsstand
nicht genügend anerkannt.

Seltene oder minder bekannte Bücher sollten mit der Jahreszahl
des Erscheinens zitiert werden. Eine Anzahl störender Druckfehler
sind schon S. 478 berichtigt. Ich füge hinzu: S. 81 Mitte 1.: die
andere gesetzt werden. S. 154 Z. 17 v. u. I. Verheißungen. 457 Z. 9
v. u. 1. Konkordienbuch st. Konkordienformel.

Kiel. Hermann Mulert.

Bredt, Prof. Dr. Victor: Neues evangelisches Kirchenrecht

für Preußen. 2 Bde. (1.: Die Grundlagen bis zum lahre 1018;
2.: Die Rechtslage nach 1918.) Berlin: O. Stilke 1921. (623 u.
822 S.) gr. 8°.

Wer heutzutage ein Recht der evangelischen Kirche
schreiben will, befindet sich in einer schwierigen Lage.
Das landesherrliche Kirchenregiment ist gefallen; die
ev. Kirche mußte nach den richtigen Händen suchen, in
welche sie dies Regiment legen sollte. Bisher mit dem
Staat eng verbunden, ist die ev. Kirche jetzt selbständig
geworden und muß sich selbst ihr Recht schaffen. In
wie weit will sie das überkommene Recht beibehalten
oder ändern? Alles ist im Flusse.

Gerade die größten ev. Kirchen Deutschlands, diejenigen
in Preußen, haben mit ihrer Verfassungsbildung
am längsten auf sich warten lassen, sie hatten auch die
größten Schwierigkeiten zu überwinden; erst durch das
Staatsgesetz vom 8. April 1924 ist diese Verfassungsbildung
vollzogen. Ob sie eine endgiltige sein wird,
bleibt abzuwarten. Ebenso ist der Zukunft überlassen,
wie sich das Verhältnis zum Staate gestalten wird. Auch
das sogen, innere Kirchenrecht, wie es für die alten
Provinzen im Allgemeinen Landrecht, für die Kirchen
im Gebiete des gemeinen Rechtes im corpus iuris canonici
und der Konsistorial-Praxis usw. niedergelegt ist,

bedarf der Auffrischung im neuen Geiste, der Modernisierung
.

Es war daher eine kühne Tat, wenn Bredt gerade
in diesem Augenblick ein „Neues evangelisches Kirchenrecht
für Preußen" herausgab. Freilich das Neueste
Kirchenrecht bringen die zwei bisher erschienenen Bände
noch nicht, die neue Verfassung ist in ihnen noch nicht
enthalten, und für das sogen, innere Kirchenrecht wird
schon jetzt größtenteils auf das bekannte Werk von
Schön verwiesen. Was enthalten somit die zwei bisher
erschienenen Bände?

Bd. I bringt die „Grundlagen bis zum Jahre 1918",
also eine Geschichte der ev. Kirche und ihrer theoretischen
und tatsächlichen Grundlagen. Da Bredt —
wie er selbst bekennt, als überzeugter Calvinist — den
Schwerpunkt der neuen Entwicklung in der Idee der
Selbstverwaltung erblickt, so legt er auf die Herausarbeitung
der reformierten Verfassungsgedanken ein besonderes
Gewicht. Ob freilich für die großen Verbände,
wie sie die preußischen Landeskirchen darstellen, in den
Gedanken der Selbstverwaltung das Heil wirklich gelegen
ist, muß doch noch erst bewiesen werden. Unter
dem landesherrlichen Kirchenregiment hat sich die ev.
Kirche einer sicheren Obhut und einer ruhigen Entwicklung
erfreut; mit Recht dankt Bredt in dieser Beziehung
den Hohenzollern; aber auch die bayrische ev. Kirche
z. B. gedenkt dankbarst ihres Herrscherhauses. Jedoch
wir wollen hier nicht kirchenpolitisch reflektieren, wozu
die Lektüre des Bredt'schen Buches allerdings leicht
verführen kann. Denn es ist in den „Grundlagen" ein
gutes Stück „Kirchenpolitik" enthalten. In Wahrheit
bringt der erste Band eine Reihe geistvoller Aufsätze
in breitester Form über alle möglichen Grundfragen
des kirchlichen Lebens. Von der üblichen Systematik
eines Lehrsystems wird völlig abgewichen. Mit Recht
nennt Bredt die Zusammenstellung seiner Essays nicht
Lehrbuch oder Lehrsystem oder ähnlich. Für jeden

I Gebildeten, der sich über die Grundlehren und Grundfragen
der ev. Kirche unterrichten will, sind die „Grundlagen
" ein treffliches Orientierungswerk, für den Kenner

| bieten sie eine höchst interessante Lektüre, weil sie
unter völliger Beherrschung des Materials, unter breitester
Heranziehung der Literatur den gesamten Stoff
unter einem einheitlichen Gesichtswinkel in geistvoller
Form zusammenfassen und beleuchten.

So weit über Bd. I. Nachdem dieser die theoretischen
und historischen Grundlagen bis 1918 gebracht
hatte, hätte systematisch der Bd. II das neueste Recht
zur Darstellung bringen sollen. Da aber, wie schon
erwähnt, die Verfassungsbildung erst im April 1924
zum formellen Abschlüsse gebracht worden ist, verweist
Bredt in dieser Hinsicht auf einen III. Band.
Noch mehr als Bd. I weicht dieser Bd. II von dem
üblichen System und den bisherigen Darstellungen ab.
Er bietet wieder eine Zusammenstellung von allgemeinen
, historischen, theologischen, rechtsphilosophischen
und auch rein juristischen Untersuchungen über die
wichtigsten Grundfragen; gelegentlich aber finden sich
auch Partien, wie über das Eherecht (hier wird sogar
das katholische Kirchenrecht gestreift), die mehr dem
praktischen Kirchenrecht angehören. Die Auswahl und
Gruppierung ist eine eigenartige. Wer also in dem Bd.
II eine Belehrung über das geltende Kirchenrecht im
streng juristischem Sinne, im Sinne der bisher üblichen
Lehrbücher sucht, wird nicht auf seine Rechnung kommen
; dagegen bietet auch der Bd. II mit seiner Fülle
geistvoller juristischer, (besonders auch staatsrechtlicher
), theologischer und rechtsphilosophischer Betrachtungen
eine Fundgrube gelehrten Wissens und
wertvollster Anregungen.

Möge das Werk als Impuls für den Aufschwung
der Wissenschaft des ev. Kirchenrechts wirken. Daß
diese Wissenschaft gerade in der heutigen Sturm- und
Drangperiode ein solches Werk gezeitigt hat, möge
für sie ein gutes Omen sein. —

Erlangen.__ _ Emil Schling.