Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1924 Nr. 22

Spalte:

497-498

Autor/Hrsg.:

Odenwald, Theodor

Titel/Untertitel:

A. E. Biedermann in der neueren Theologie 1924

Rezensent:

Siegfried, Theodor

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

497

Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 22.

498

B. erliegt der jeden Entdecker bedrohenden Gefahr, die von ihm
aufgedeckten Zusammenhänge für die allein entscheidenden zu halten.
Das ,,Problem der ästhetischen Kritik" wird ihm zum „Urbild des
kritischen Problems überhaupt" (7); und zwar nicht in dem von
Windclband schon hervorgehobenen Sinn, daß erst in der Kr. d. U. der
innerste Zugang zur Systematik Kants offen liegt, sondern in dem
sehr viel „kritischeren" Sinn, daß hier erst die eigentliche „Kritik der
Kritik" erreicht ist, daß hier erst die z. B. in der „transzendentalen
Analytik" und in der Kr. d. pr. Vn. noch sehr folgenreiche „Gesetzeserkenntnis
" prinzipiell überwunden und damit der „Rationalismus
" endgültig erledigt sei. Der ästhetische Gegenstand kann als
individueller nur noch „beurteilt", ohne alle Theorie „verstehend erkannt
" werden. „Die Ästhetik ist die Vorläuferin der Historiographie
!" „Das Organ für das Selbstverständnis des Abendlands ist
die Oeschichte!" Das ist die Perspektive, die offenkundig zu Hegel
hinlenkt und damit Kant zum bloßen Wegbereiter der in Hegel sich
„vollendenden" philosophischen Epoche macht.

Diese in der „Einleitung" entwickelte prinzipielle Ansicht führt
dann am Schluß des Buches dazu, in der „reinen intellektuellen Syn-
thesis a priori", wo immer sie bei Kant noch auftritt, einen Rest des
Platonischen mundus intelligibilis zu sehen (s. d. Diss. v. 1770). Diese
Kritik der angeblichen Intcllektualphilosophie in Kant könnte fruchtbar
sein, wenn sie nicht das letzte Wort sein wollte. Die Urteilskraft
ist in der Tat der radikale Zugang auch in die Kr. d. r. Vn. und in
die Kr. d. pr. Vn.; ein losgelöstes a priori ist für immer außerstande,
die Beziehung auf das Besondere wieder herzustellen. Aber auf dem
Grunde dieser „kritischen" Erkenntnis: unlöslich in die Wechselbeziehung
des Allgemeinen und Besonderen eingeschränkt zu sein,
öffnet sich erst die eigentlich metaphysische Problematik, die die
Einheit, Wesenheit und Wirklichkeit dieser Wechselbeziehung
als gewisseste Basis alles Lebens und Philosophierens
behauptet und daher das Philosophieren vor dieser
Grenze alles Erkennens — vielleicht zum Schweigen bringt, aber
es jedenfalls an diese Grenze heranführt. Hier erst liegt der letzte
Schlüssel zur Kantischen Philosophie, ihre theo-logische, transzendental-
philosophische Basis. Über den Sinn des Wortes transzendental bei
Kant geht B. ebenso hinweg, wie er es versäumt, die theologische
Wurzel der deutschen Schulphilosophie von Leibniz her zu der ästhetischen
Entwickelung in Beziehung zu setzen. Die „Schule" vermittelt
Kant die ewige Problematik des abendländischen Philosophierens
. Erst wenn man auch diese transzendentalen Zusammenhänge
aus der deutschen Schulphilosophie sich wird deuten
lassen, wird man das ganze Verständnis Kants, den radikalen
Zugang zu ihm nicht mehr verfehlen können.

Bremen. Hinrich Knittermeyer.

Odenwald, Priv.-Doz. Lic. Theodor: A. E.Biedermann in der
neueren Theologie. Leipzig: J. C. Hinrichs 1924. (VII, 112 S.)
gr. 8°. Gm. 2—.

Die theologische Leistung A. E. Biedermanns neu
zu würdigen hat sich der Verf. zur Aufgahe gesetzt und
erfüllt damit eine Forderung, die in einer Zeit der Rück-
wendung zum metaphysischen Prohlemkreis und damit
auch einer Zeit der Abwendung von Ritsehl naheliegt
und geboten ist. Verf. geht aus von den landläufigen
Verdikten über Biedermann. Er faßt sie zusammen in
den zwei Vorwürfen, erstens: B. gehöre in die Linie der
Zerstörer einer aufbauenden Theologie, in die Linie
Strauß und Feuerbach, und zweitens: B. habe als bloßer
Epigone Hegels die Religion intellektualistisch vergewaltigt
. Verf. zeigt nun treffend, daß die Parallele zu
Strauß und vor allem Feuerbach nur eine äußere Anpassung
an das vorgefundene Begriffsschema ist, die
den Gehalt seines Denkens nicht berührt. Die innere
Einheit in der Wesensbestimmung der Religion ist bei
B. von den ersten Anfängen bis zum Abschluß seines
Lebenswerks gewahrt. Um das Verhältnis zu Hegel
klarzulegen, arbeitet Verf. mit besonderer Eindringlichkeit
und begrifflicher Schärfe Biedermanns Theorie vom
Wesen der Religion heraus. Es wird gezeigt, daß Biedermanns
allgemeine Voraussetzungen — Trennung der
Wesens- und Wahrheitsfrage, Fixierung des Wesensbe-
griffs, Ausgang von der Empirie, kein Sonderanspruch
des Christentums — in die Linie der religionspsychologisch
fundierten Theologie von Schleiermacher bis Wob-
bermin weisen. Freilich schon im methodischen Ansatz
werden sie durch logizistisch-hegelsches Erbgut durchkreuzt
und zwar durch die These, daß Gott als religiöser
Gegenstand und das Absolute als Objekt der Metaphysik
zusammenfallen. Unter den Motiven der Religion
werden von B. in wechselnden Schattierungen
theoretische und praktische, auch „theoretisch-praktische
" Bedürfnisse genannt. Das führt zur Synthese
der bei Kant, Schleiermacher und Hegel gegebenen
Momente: Religion ist Erhebung des Ich zu Gott in
einem einheitlichen, ganzheitlichen Akt, an dem alle
psychischen Grundfunktionen beteiligt sind. Dabei erhält
nach Odenwald das Gefühl eine Vormachtstellung, bei
der Hegel nach Schleiermacher berichtigt wird. Dies Ergebnis
wiederholt der Verf. in einer etwas langatmigen
Schlußausführung, die die flott geschriebene Einleitung
mit ihrer geschickten Charakteristik des geistigen
Umschichtungsprozesses in der Mitte des 19. Jahrhunderts
nicht ganz erreicht. Biedermanns Bedeutung
sieht Verf. erstens in der umfassenden Wesensbestimmung
der Religion, zweitens in dem (mißglückten) Versuch
aus der theoretischen Not herauszuführen, die
von Ritsehl fortdekretiert wurde.

Seine letzten Sätze geben wichtige, kurze, zu kurze Andeutungen
über die Selbständigkeit der religiösen Wahrheit. Biedermanns Leistung
in Hinsicht der Wahrheitsfragc fällt für den Verf. außerhalb
des Rahmens seiner Arbeit. Ihr Hauptwert liegt in der pünktlichen
und scharfen Analyse der Wesensfrage bei Biedermann. Auf dem
Boden einer rein religionspsychologisch fundierten Religionsphilosophie
muß hier der Schwerpunkt gesucht werden. So hat der Verf.
im Rahmen seines Standpunktes seine Aufgabe in der Tat gut und
scharf gelöst. Ob er für die Gegenwart das letzte Wort über B. gesprochen
habe, möchte Rez. bezweifeln. In der Wesensfrage bleibt
doch der Ertrag des Biedermannschen Denkens schließlich fragmentarisch
. Bald ruht die Religion auf dem bloßen Gefühl, einem „unmittelbar
zuständlichen Selbstbewußtsein" (bei Odenwald pg. 95),
bald ist sie durch ein theoretisches Wissen vermittelt (pg. 91),
zuletzt ist sie eine Selbstbetätigung im einheitlichen Zusammenwirken
aller Momente" des Geisteslebens (pg. 89). Für B. ist das
alles doch wohl nicht das systematische Ziel, sondern nur Vorbereitung
für die Entscheidung der Wahrheitsfragc Daß es ihm darum
ernst ist, weiß O. Aber die Lösung Bs. ist für ihn ohne Interesse. Sie
hat m. E. durchaus typischen Charakter sowohl in ihrem allgemeinen
Ziel, der grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen Metaphysik
und Religion wie in ihrer besonderen auf Hegel zurückgreifenden
Durchführung. Ihre Grundfrage ist auch unsere Frage: wie rechtfertigt
sich nach Abweisung des Zweiweltenschemas innerhalb einer
„monistischen" Weltanschauung die religiöse Vorstellungswelt? Wie
ist Beziehung zu Gott möglich, wenn er das Jenseits, der Ursprung
aller möglichen Beziehungen ist? Bleibt Gott Gott, wenn er das
Absolute ist? Aber kann er anderes sein? Bs. Antwort ist dialektisch:
Subsistenz-Einheit und Essenzgegensatz von Gott und Welt. Der
Essenzgegensatz begründet das Recht der religiösen Vorstcllungswelt,
an die die religiöse Beziehung gebunden bleibt. In der erkenntnis-
theoretischen Grundlegung möchte ich ebenso viel Zukunftsweisendes
und Entscheidendes suchen wie O. in der Wesensbestimmung. Vielleicht
steckt auch mir der Rationalismus im Blute.

Jena. Theodor Siegfried.

Drews, Prof. Dr. Arthur: Psychologie des Unbewußten.

Berlin: G. Stilke 1924. (XV, 664 S.) 8°. Gm. 11—; geb. 13—.

Was Drews gibt, ist kein Lehrbuch der Psychologie
in dem üblichen Sinn, kein Nachschlagewerk, aus dem
man sich in psychologischen Einzelfragen Belehrung
holen könnte, sondern eine Deutung und Zusammenfassung
der psychologischen Kleinarbeit unter einem
großen metaphysischen Gesichtspunkt, dem Weltbild
der Philosophie des Unbewußten von Hartmann, an
der das Wichtigste die Gesamtorientierung ist.

I. Die Psychologie ist nach Drews die wissenschaftliche
Erforschung der Seele. Seele aber ist nicht dasselbe
wie Bewußtsein. Dieses ist nur eine Oberflächenerscheinung
des Seelenlebens, das sich in unbewußter
Tätigkeit auswirkt. Nur die Ergebnisse dieser absolut
unbewußten Tätigkeit werden uns als Bewußtsein
bewußt. Das Innerste dieser Tätigkeit ist der
Wille, der als bewußter Wille nur im Spiegel des Gefühls
und der Empfindung erscheint. Gegenüber den
Reizen der Außenwelt behauptet er sich, daß er das mit
ihnen zugleich gegebene, an und für sich qualitätslose
Gefühl zur qualitätshaltigen Empfindung verdichtet. An
dem von ihm selbst geschaffenen Stoff betätigt er sich
weiter, in dem er über Anschauung, Wahrnehmung,
Vorstellung, Begriff, Urteil, Schluß hinaus seine Er-