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Ausgabe:

1924 Nr. 20

Spalte:

448-449

Titel/Untertitel:

Jahrbuch des Evangelischen Vereins für westfälische Kirchengeschichte. 25. Jahrg. 1924 1924

Rezensent:

Hashagen, Justus

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Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 20.

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zelne mehr oder weniger ausgeführte Porträts der führenden Persönlichkeiten
: der erste Band von Novalis, Tieck und den Brüdern
Schlegel, der zweite von Brentano, Achim und Bettina von Arnim und
Oörres. In diesen biographisch-charakterisierenden Abschnitten liegt
der eigentliche Wert der Bücher, die über Fr. Schlegel und vor allem
über Brentano doch manches Eigene und Gute bringen; da liegt
gründliche Arbeit vor, und der Verf. beweist auch bei der Beurteilung
solcher Werke und Perioden, die ihm nicht „liegen", einen anerkennenswerten
Takt; auf die inneren Widersprüche in Brentanos
Wesen und Wirken legt St. den Nachdruck, ohne es freilich zu einer
abgerundeten Charakteristik im modernen Sinne zu bringen. Nicht befriedigend
sind die einleitenden, allgemeinen Abschnitte, auch nicht
da, wo sie die religiösen Fragen besprechen, mit denen St. doch am
besten Bescheid weiß. Oberflächlich genug sind z. B. „Sehnsucht,
Organismusgedanke und Ironie" aneinander geschlossen, ohne daß es
St. gelänge, die romantische Ironie als Kehrseite der romantischen
Sehnsucht recht verständlich zu machen. Gar nicht gerecht wird er
einem Wilhelm Schlegel oder gar Goethe, den er (S. 11) mit zwei
willkürlich herausgegriffenen und noch dazu schief gedeuteten Zitaten
abtut. Die Literaturverzeichnisse der beiden Bände werden auch
unsern Lesern erwünscht sein.

Streng wissenschaftlich angelegt und sauber durchgeführt, freilich
für unsre besonderen Zwecke weniger ergiebig ist Herbert Levins (3)
ansprechendes und vom Verlage hübsch ausgestattetes Büchlein über
die Heidelberger Romantik. Die Darstellung der äußeren Beziehungen
überwiegt bedeutend den Versuch, das geistige Leben des Kreises in
seinen Hauptrichtungen zu charakterisieren. Immerhin tritt das nationale
Interesse der kleinen Schar deutlich genug hervor.

Auf viel breitere, geistesgeschichtliche Grundlagen stellt diese
Dinge das Buch von Salomon (4), das freilich das Wesen der
ganzen Romantik am liebsten in eine Formel pressen möchte. Er
knüpft in gewissem Sinne an Nadler an, deutet aber die ostdeutsche
Bewegung im Gegensatz zu ihm nicht als die Wiederaufnahme einer
fremden, sondern der eigenen Tradition. „Die Bewegung, die im Sturm
und Drang anhob und in der Romantik ihren Höhepunkt hat, nahm
anstelle der griechischen die deutsche Vergangenheit zum Vorbild; wie
die italienische Renaissance war sie eine Erneuerung des eigenen geschichtlichen
Besitzes" (S. 20). Er geht also von dem Geschichtsideal
des Mittelalters aus, in dem die Romantiker verschiedenster
Schattierung ihre tiefste Sehnsucht gleichsam symbolisch vergegenständlicht
haben: das Paradies liegt nicht nur in der Zukunft, es war
schon da; aber nicht im Anfang aller Dinge, sondern am Ende einer
langen Entwicklung, als ein schon erreichter Höhepunkt, dessen die
Menschheit dann erst durch einen erneuten Sündenfall wieder verlustig
ging. Je mehr die Romantik im katholischen Fahrwasser anlangt, desto
schärfer wird der „Sündenfall" mit .der Reformation gleichgesetzt.
Vom Standpunkt der Romantik, ja des deutschen Idealismus und vielleicht
der deutschen Art aus gesehen, erscheint eine solche Kanoni-
sicrung einer vergangenen Geschichtsepoche (sei es nun das klassische
Altertum oder das Urchristentum, die Renaissance oder das Mittelalter
, die Reformationszeit oder späterhin das Barock) als eine Art
Denknotwendigkeit oder als eine unumgängliche Forderung der Phantasie
, von der sich auch das wissenschaftliche Denken nicht leicht
befreien kann. Jedenfalls hat Salomon recht damit: Das Geschichtsideal
des Mittelalters ist seit den Tagen der Romantik, wie sie sich in Literatur
und Kunst, in Rechts- und Wirtschaftsauffassung geltend machte,
eine der Leitideen der Geisteswissenschaften des Jahrhunderts geworden
. Und indem S. sich anschickt, zu einer eigenen Anschauung
von der Geschichte und Geschichtsschreibung des Mittelalters vorzudringen
, sieht er sich zu einer historisch-kritischen Betrachtung jener
Idealvorstellung in ihrer Entwicklung genötigt; bei ihrer ungemeinen
Zähigkeit und mannigfachen Verzweigung bedeutet das zugleich einen
vorläufigen Oberblick über die ganze Bewegung, eine neue eigenartige
Deutung und Bewertung zahlreicher ihrer Manifeste. Natürlich kann
von einer vollständigen Geschichte der Romantik hier keine Rede sein,
aber es gelingt dem Verf., unter seinem sicherlich bedeutsamen, nur
mit einer gewissen Eigenwilligkeit überbetonten Gesichtspunkte eine
überwältigende Fülle von Erscheinungen zu betrachten und in wesentlichen
Zügen zu erklären.

In einer ganzen Reihe von kürzeren oder längeren Abschnitten,
die oft wie selbständige Aufsätzchen wirken und in ihrer Stilisierung
stark essayistisch erscheinen, führt der Verf. seine These durch. Soviel
muß ihm zugestanden werden, daß er die außerordentliche Bedeutung
des mittelalterlichen Ideals für die Romantik scharf und überzeugend
herausgearbeitet hat, wenn auch die relative Bedeutung dieser Gedanken
innerhalb dieser Entwicklung genauer bestimmt werden müßte.
Die religiöse Seite der Verherrlichung des Mittelalters kommt natürlich
immer wieder zur Besprechung; u. a. zeigt S., wie Novalis mit
seinem vielberufenen Aufsatz „Die Christenheit oder Europa" dem
romantisierenden Katholizismus bis zum heutigen Tage das typische
Idealbild des christlichen Mittelalters geschaffen hat und zwar nicht
aus wirklicher Kenntnis, sondern aus rückwärts projizierter Ahnung
und Sehnsucht heraus. Dieser Aufsatz wird dann auch ausführlicher
analysiert. Um so kürzer, aphoristischer ist dafür der folgende Abschnitt
„Katholizismus und Romantik" gehalten, der die eingehendste
Behandlung erfordert hätte. Wenn der Verf. sagt: „Der romantische
Katholizismus ist eine Konvertitenbewegung, nicht eigentlich eine religiöse
, sondern eine künstlerische und denkerische Wandlung" (S. 60)
so gilt das doch sicherlich z. B. nicht für Eichendorff, dessen Vaterlandsliebe
denn freilich auch nicht auf das deutsche Mittelalter, dessen
tiefstes Streben auf die lebendige Kirche hin gerichtet ist. Nur durch
die Zurückdrängung solcher Erscheinungen gelingt es S., seine These
„durchzuführen". Aber auch wer von seiner Grundeinstellung nicht
überzeugt ist, wird sich reichlich entschädigt finden besonders durch
S.'s Ausführungen über Wackenroder und Novalis, über Fr. Schlegel
und Adam Müller.

Müller steht ja seit neuerer Zeit im Vordergrunde der Beschäftigung
mit dem romantischen Zeitalter. S. zeigt uns, wie weit
er sich bei seiner Schätzung der alten politisch-sozialen Lebensformen
von den junkerlichen Reaktionären doch unterschied und wie
wenig er eigentlich das Mittelalter um seiner selbst willen zurücksehnte
. Von Burke auf das nachhaltigste angeregt, forderte er die
Rückkehr eines organischen Gemeinschaftslebens im Gegensatz zu der
modernen Zerfaserung, an der auch er die Hauptschuld gern dem
Protestantismus zuschob. In der Emanzipation der Ökonomie von der
Moral sieht er die Ursache des Verfalls der Gemeinschaft und „aller
Streit um das Recht oder um das Menschenglück und um den Nutzen"
ist ihm „völlig sinnlos, wenn das Wesen aller dieser Ideen nicht
in heiligen Zusammenhang gebracht, ihr vorübergehender Zeitausdruck
nicht an den Weltausdruck, den uns vergangene Zeiten lehren,
angeknüpft und durch ihn verbürgt werde". Diesen „Weltausdruck der
Ideen" aber suchte er in der katholischen Kirche, in deren Schoß er
1805 zurückgekehrt war. Den „heiligen Zusammenhang" zeigt seine
Schrift „Von der Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der
gesamten Staatswissenschaften und der Staatswirtschaft insbesondere"
(1819). Wir haben allen Grund, einen Neudruck dieser bedeutsamen
Schrift zu wünschen. Die von Arthur Salz mit vielem Geschmack
und auf Grund solider Kenntnis veranstaltete Sammelausgabe (5) wäre
der rechte Platz dafür.

Einstweilen liegen uns zwei Bände dieser Sammlung vor, unter
denen besonders die „Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft
und Literatur" für die Erkenntnis von Müllers kulturphilosophischen
Gedanken von Bedeutung sind. Wir weisen heut nur auf die Reihe
hin und hoffen auf sie wie auf andre wichtige Veröffentlichungen
des Drei Masken-Verlages (z. B. die mehrbändige Auswahl der
Schriften Friedrichs von Gentz durch H. von Eckardt) später
zurückzukommen. Es ist von hoher Bedeutung, daß wir jetzt Veröffentlichung
von bisher schier unzugänglichen Materialien zur Geschichte
der Romantik erhalten, wie z. B. Amorettis kritische
Ausgabe von W. Schlegels „Wiener Vorlesungen" über das Drama
(6), deren hoher, nicht bloß literargeschichtlicher Wert längst bekannt
ist. Der Herausgeber zeigt als Ausländer einen scharfen Blick
einmal für die eigentümlichen Grenzen von Schlegels Richtung und Begabung
, andrerseits für seine erstaunliche Kenntnis des Gegenstandes
und endlich für die Nachwirkung der „Vorlesungen" im Auslande
. Andrerseits bleibt wohl auch ihm manches an der deutschen
Romantik verschlossen, aber seine Einleitung und seine Edition sind
gediegene wissenschaftliche Arbeit und müssen von der Forschung
eingehend berücksichtigt werden. — Nicht gelehrten Zwecken dient
die Sammlung von Novalis' Schriften (u. a. die „Hymnen an
die Nacht" in der handschriftlichen Fassung, unter den Gedichten
auch die „geistlichen Lieder", der „Ofterdingen" mit den Para-
lipomena, der wichtige Aufsatz über die „Christenheit"), den W. v.
Scholz (7) für die vielleicht ästhetisch schönste unserer neueren
Sammlungen, die „Diotima-Klassiker" des Verlags Hädecke veranstaltet
und mit einem den Dichter fein charakterisierenden Nachwort
ausgestattet hat. Wie sich bei dem früh vollendeten Friedrich
von Hardenberg der Todesgedanke und eine unirdische Lebens«
heiterkeit ablösen oder ineinander verschlingen, das ist vielleicht
noch nie so ausdrucksvoll gesagt worden. Wir wüßten kaum eine
Ausgabe des Dichters so gern in den Händen weiterer gebildeter
Kreise, die sich nicht gerade von Berufs wegen philologisch mit
seinen Werken zu beschäftigen haben.

Hamburg. Robert Petsch.

Jahrbuch des Evangelischen Vereins für westfälische Kirchengeschichte
. 25. Jahrgang 1924. Gütersloh: C. Bertelsmann
1924. (98 S.) 8°. Gm. 3—.

Daß der Protestantismus sich um Deutschlands Wiederaufbau
nach dem Dreißigjährigen Kriege große und
bleibende Verdienste erworben hat, ist schon öfters gewürdigt
worden. Sie können auch dadurch nicht gemindert
werden, daß die Kriegsnöte von den Zeitgenossen
gelegentlich übertrieben worden sind. Das vorliegende
Heft bringt aus der Feder von H. Rothert
lehrreiche lokale Beiträge zu diesem zeitgemäßen Thema