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Ausgabe:

1924 Nr. 19

Spalte:

429-430

Autor/Hrsg.:

Cahn, Ernst

Titel/Untertitel:

Christentum und Wirtschaftsethik 1924

Rezensent:

Schian, Martin

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421)

Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 19.

430

Erlebnisse, um das bei ihr auftretende Depersonali-
sationsphänomen weiß und infolgedessen die naive Zu-
rückführung auf einen göttlichen Urheber nicht durchführen
kann. Sehr charakteristisch sagt sie: „je vois
trop Ies ficelles". Trotzdem kommt auch sie zu einer
religiösen Deutung, aber nicht auf Grund der Rätselhaftigkeit
des Wirklichkeitszusammenhanges, sondern auf
Grund der Werthaftigkeit des Erlebnisses. Die Ekstase
und der Verkehr mit dem „Freunde", der ihr erscheint,
sind die Kraftzentren ihres Lebens, sie gewinnt von daher
eine neue, höhere innere Haltung. „Die ekstatischen
Erlebnisse erhalten ihre Bedeutung als bestimmende Elemente
in einem Totalgefühl."

Nur andeutungsweise kann hier aufmerksam gemacht werden auf
die Fülle psychologischer Feinheiten, die der Verf. heranbringt, auf die
Diskussion, in die er mit Delacroix, dem bekannten Analytiker der
hl. Teresa, über deren siebentes mystisches Stadium eintritt, sowie auf
seine Auseinandersetzung mit Freud, dem er entgegenhält, nur sekundärerweise
werde durch die psychische Oesamterregung die sexuelle
Sphäre in das religiöse Erleben hineingezogen („organische Diffusion"),
zugleich allerdings mache das sexuelle Bedürfnis eine Metamorphose
durch und in der „Verschiebung" bewahre sich die erotische Energie.
R. Ottos Theorie vom Schematismus der Gefühle findet hier eine
eigentümliche Bestätigung.

Höffding bringt mit seinen Ausführungen in die religions-
philosophischc Diskussion über das religiöse Erlebnis außerordentliche
Klärung. Dieses ist ein sehr komplexes Phänomen, an dem
erst die Deutung den religiös-metaphysischen Charakter klarstellt.
Der bloße transsubjektive Ursprung des Erlebnisses weist auf das
Unterbewußte, nicht auf Gott. Das hat die religionspsychologische
Forschung schon längst aufgewiesen. Aber Höffding zeigt nun, wie es
unter Anerkennung dieses Tatbestandes dennoch zur religiösen Deutung
kommen kann. Nach zwei Seiten wird dies Ergebnis vom Vf. ausgewertet
. Erstens kann nach ihm die Deutung nunmehr nur eine
„poetische" sein mittelst unmittelbar sich anbietender bildhafter
Symbole. Wird man nicht besser tun von einer symbolisch-mythischen
Deutung zu sprechen, um den Anspruch der Deutung auf Wahrheitsgehalt
nicht zu verkürzen? Zweitens werden ekstatische und visionäre
Erlebnisse in eine Reihe gestellt mit den Augenblicken innerer Erhebung
, ohne die höheres Leben überhaupt nicht sein kann. Im
Grunde nicht weniger rätselhaft als die Ekstasen tragen auch sie für
uns den Charakter der „Gnade", sofern sie unwillkürlich kommen.
Höffding deutet diesen Sachverhalt nur an. Aber die Konsequenz
wäre: Religion ruht auf dem Erlebnis einer dem bloßen Dasein überlegenen
Wertwirklichkeit oder genauer auf dem Erlebnis der Überlegenheit
der Wertwirklichkeit in bildhafter Symbolik. D. h. es läßt
sich der Wahrheitsgehalt der Religion begründen, ohne vor der Religionspsychologie
in die Nacht des Mystizismus zu flüchten. Das
Werterlebnis ist das religiöse Wunder, nicht der psychische Automatismus
.

Jena. Theodor Siegfried.

Cahn, Prof. Dr. Ernst: Christentum und Wirtschaftsethik.
Rede, gehalten bei der Gründungsversammlung der Evang.-Soz. Arbeitsgemeinschaft
für Hessen-Nassau und Hessen in Frankfurt a. M.
am 12. Mai 1924. Gotha: F. A. Perthes 1924. (27 S.) 8°. =
Bücherei der Christlichen Welt 5. Gm. —80.

Im Frühjahr 1924 hat sich eine evangelisch-soziale
Arbeitsgemeinschaft für Hessen-Nassau und Hessen gebildet
. Bei der Gründungsversammlung hat C. diesen
Vortrag gehalten. Ich konnte, obwohl damals noch in
Gießen, der Tagung nicht beiwohnen und weiß nicht,
wie er aufgenommen worden ist. Stürmer und Schwärmer
wird er nicht befriedigt haben. C. lehnt den Sozialismus
ab, weil er in erster Linie nicht ein ökonomischer
, aber ein psychologischer Irrtum sei (22). Er
fordert bei Aufstellung einer christlichen Gesellschaftstheorie
„gründlichste und nüchternste Erkenntnis der
wirklichen Realitäten des Lebens" (19) zur Abwehr
dilettantischer Voreingenommenheit. Anderseits paßte
der Vortrag gut auf eine evangelisch-soziale Tagung,
weil er mit allem Nachdruck eine christliche Gesellschaftsethik
fordert. Nach dem Zusammenbruch der
großen Gesellschaftstheorieen des Thomas, Luthers und
Calvins fehle es an einer solchen. Sie ist nötig und
möglich, weil sowohl die Theorie von der Eigengesetzlichkeit
der einzelnen Gebiete des Gesellschaftslebens,
wie die Anschauung, nach der das Evangelium mit den
Ordnungen dieser Welt nichts zu tun habe, verfehlt sind.

Das seinerzeit von Naumann vertretene Ideal einer unmittelbaren
Ordnung aller Verhältnisse durch das Evangelium
wurde von ihm selbst aufgegeben (hier fehlt eine
ausdrückliche Auseinandersetzung mit dem religiössozialen
Programm von heut; an diese Seite der Sache
wird nur eben gerührt). Also ist ein Neubau nötig;
und zwar hält C. eine „geschlossene christliche Gesellschaftsethik
" für möglich und notwendig. Er will
den „Versuch einer neuen Art Programmaufbaus" geben
(19). Er charakterisiert, was er zu bieten hat, selbst
sehr bescheiden. Dennoch werden die 8 Seiten, die
diesem Versuch gewidmet sind, viele enttäuschen. Es
müßte doch wenigstens das Fundament einer „geschlossenen
" christlichen Gesellschaftsethik deutlich
werden Es wird aber tatsächlich nicht mehr deutlich
als die Forderung der Anwendung einiger christlicher
Grundgedanken auf die tatsächlichen Verhältnisse. C.
spricht sich für Bevorzugung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung
vor der sozialistischen um ihrer pro-
duktionsfördernden Wirkungen willen aus; ihre Schäden
sittlicher Natur sind, sofern ihre Antriebe dadurch nicht
ausgeschaltet werden, zu beseitigen. Maßgebend sind
als sittliche Leitideen der Gedanke der Bruderliebe und
der Glaube an den unendlichen Wert der Menschenseele.
Zu dem so sittlich regulierten kapitalistischen Wirtschaftssystem
muß eine christliche Berufsethik hinzutreten
; zur Veranschaulichung bespricht C. die Frage der
Preisbildung. Alles, was er sagt, ist beachtenswert;
sehr vieles m. E. durchaus richtig. Nur eben bleibt die
Frage, ob so eine „geschlossene christliche Gesellschaftsethik
" entstehen kann. Es handelt sich doch
immer um annähernde Anwendung, deren Maß
eben doch dem Gewissen des Einzelnen überlassen
werden muß. Wenn C. die Erwartungen weniger hoch
gespannt, zugleich freilich auch das bisher in Sachen
Gesellschaftsethik Geleistete weniger vernichtend kritisiert
hätte, würde er der Gefahr entgangen sein, von ihm
selbst erregte Erwartungen nachher unerfüllt zu lassen.
Dabei bleibt m. E. festzuhalten, daß der Weg, den er
zeigt, tatsächlich der ist, den wir gehen müssen.

Breslau. M. Schi an.

Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur. Herausgegeben
von Eugen Diederichs. Jahrg. XVI, Heft 4, Juli 1924.
Jena: Eugen Diederichs. (S. 241—322). gr. 8°. Gm. 1.20.

Den früher (1924 Nr. 8 Sp. 1G2) hier besprochenen katholischen
Sonderheften der Tat folgt nun ein evangelisches. Es scheint, daß
Carl Schweitzer es zusammengestellt hat; er schrieb ein Geleitwort
und eine Art Übersicht des evangelischen Schriftums, soweit
es den Tatleserkreis interessiert. Die Auswahl der Mitarbeiter ist
nicht einseitig: die Professoren Althaus (Rostock), Büchsei, Hirsch,
Holl, der Züricher Philosoph Medicus, die Pfarrer Ritter, Ohl, Schreiner
, Stählin, stud. theol. Vogelsang (als Glied der Jugendbewegung
über deren Verhältnis zum evang. Christentum), der Leiter der Fichte-
Hochschule in Hamburg Karl Witte (über Kirche und Volkshochschule
). Natürlich konnten auf keine Weise alle Schattierungen evangelischen
Denkens zu Worte gebracht werden. Ebenso wenig konnte
systematische Vollständigkeit erzielt werden. Fachliches blieb ausgeschlossen
; Weltanschauliches im Verhältnis zu Grenzgebieten steht
voran. Über die „Geistigkeit der Natur" hört man sonst bei uns
wenig; was Büchsei sagt, ist fein formulict und reizt zum Weiterdenken
; die Spitze kehrt sich wohl gegen den Materialismus; aber
er wird nicht bekämpft; über ihn ist entschieden. Tief greift
Medicus: die Geschichte ist nicht gerecht; dennoch gilt es an ihren
ewigen Sinn zu glauben. Er liegt in dem Glauben an eine allertiefste
Verpflichtung gegen die universale Menschheit. Dieser Olaube wird
geistvoll zu Luthers Rechtfertigungslehre in Beziehung gesetzt. Holls
Beitrag „Der Neubau der Sittlichkeit" ist aus seinen Oesammelten
Aufsätzen abgedruckt. Oanz aktuell ist H i r s c h s Auseinandersetzung
mit den kürzlich erschienenen 2 Bänden der Kulturphilosophie
Albert Schweitzers. H. kommt mit seiner Kritik darauf
hinaus, daß, was Schw. fordert, in dem nach seiner tiefsten Absicht
verstandenen reformatorischen Christentum einfache Wirklichkeit
sei. Ritter bespricht das Verhältnis von Protestantismus
und Aufklärung; er würdigt die Aufklärung geschichtlich-philosophisch
, um den Weg zu ihrer Überwindung im „dritten Reich" zu
weisen. In die Praxis führt Althaus mit einer Betrachtung über
die Kirche, die ins Weite und Große geht, aber in die Nähe zurücklenkt
. Zu dieser Betrachtungsweise wäre viel zu sagen: ich wünschte