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Ausgabe:

1924 Nr. 19

Spalte:

426

Autor/Hrsg.:

Stirner, Max

Titel/Untertitel:

Der Einzige und sein Eigentum. Mit einer Einleitung hrsg. v. A. Schulze 1924

Rezensent:

Hirsch, Emanuel

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Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 19.

426

Freilich indirekt, wie man die Fiebermücken vernichtet,
wenn man den ganzen Sumpf trocken legt. Er kämpft in
breitester Front. Es soll die Welt der Dinge, die
Gegenständlichkeit überhaupt, und zwar nicht bloß die
des Sinnenfälligen, sondern auch die Gottes, ihres Nimbus
entkleidet werden, als ob sie etwas an sich sei, das
ernst genommen zu werden verdiene; und den Thron
soll der Mensch besteigen, dessen Adel nicht darin besteht
, daß er Gott verehrt, sondern daß Gott durch
ihn wirkt.

K. verwandelt die nüchternen, vorsichtig tastenden,
bohrenden, langsam Stein auf Stein zur Grundmauer
aufschichtenden Erörterungen Kants in Schlachtruf und
Sturmesbrausen. Vielleicht weil er für die Jugend
schreibt, oder weil er selbst Jüngling geblieben ist.
Aber was würde der stille Königsberger Denker zu
solchem Pathos gesagt haben? Auch dieser begeisterte
und laute Verehrer wäre ihm wohl unheimlich und
verdächtig erschienen. Jedenfalls hätte er größere Präzision
gefordert.

K. sieht die Kant'sche Philosophie durch die Brille der
Marburger neukantischen Schule und beruft sich insbesondere
auf E. Cassirers Schriften über Kant und das
Erkenntnisproblem. Doch zeigt er sich nicht nur im
Ausdruck selbständig, sondern vor allem auch da, wo
er den Leser aufruft, letzte Konsequenzen zu ziehen und
tiefste Durchblicke zu tun, und — begreiflicherweise —
da, wo er zwischen kritischer Philosophie und Jesu
Lehre die verbindenden Brücken schlägt. Ich bezweifle
es, ob wir durch K. den wirklichen Kant, der, wie mir
scheint, weit weniger radikal war, kennen lernen, doch
sollen die folgenden Bemerkungen nicht philologisch
historisch orientiert sein, sondern einige Ansätze zu
sachlicher Kritik darbieten.

Mit aller Macht verficht K. die These, daß die Weltwirklichkeit
als ein Produkt der im Menschengeist anschaulich und begrifflich,
mathematisch und logisch sich konstruktiv betätigenden Logoskraft aufgefaßt
werde. Eine andere Wirklichkeit als diese Logoswirklichkeit
anzunehmen sei Nonsens, da, wie immer wieder hervorgehoben wird,
„Wirklichkeit" doch nichts weiter ist als Gedanke. Hierzu ist zu
sagen, daß „Wirklichkeit" vielleicht — ich muß mich hier mit einem
Fragezeichen begnügen — ein apriorisches Denkschema sein mag.
Doch das ist von geringem Belang, und die eigentliche Frage lautet:
Was veranlaßt mich, dies Schema etwa bei stattfindender Sinnes-
affektion mobil zu machen? Geschieht das durch logischen Zwang
oder vielleicht gar willkürlich? Schwerlich. Dahinter steckt etwas
anderes. Eben das, was ich meine, wenn ich von Wirklichem rede.
Hier scheint K. das Wort „wirklich" und seinen Sinngehalt zu ver-
wechseln. Aber vielleicht würde er nun, um den verhaßten Realismus
abzuwehren, behaupten, daß das Wirkliche im Wirklichen die mathematische
Konstruktion sei (vgl. z. B. S. 23), müßte sich dann aber
darauf aufmerksam machen lassen, daß im Logos nur die Möglichkeit
der Mathematik gegeben ist. Mehr als Begriffsschemata und mathematische
Konstruktionsmöglichkeiten lassen sich im Logos (dem Logos
der Erkenntnistheorie) nicht entdecken. K. jedoch spricht im Unterschied
von Kant, dessen kühnste Formel bekanntlich lautete, daß der
Verstand der Natur Gesetze vorschreibe, vom schöpferischen Logos!

Viel zu schaffen macht ihm die alte Crux des Idealismus, die
Tatsache, daß die Welt nicht uniform, sondern im Größten und
Kleinsten vielgestaltig, bunt und eigenartig ist, daß es nicht nur allgemeine
, sondern spezielle Naturgesetze, nicht nur ein transzendentales,
sondern auch ein psychisches Ich gibt, und er räumt ein, daß hier ein
Rekurs auf die entfaltete Logosgesetzlichkeit nicht genüge, sondern
daß man zu einem unendlichen Subjekt aufschauen müsse, — er
könnte auch von einem absoluten Logos reden — dem all dies Irrationale
sich rational darstellen werde, und in den unser Geist eingebettet
sei. Aber was heißt das? Wird hier nicht auf dem Fahrzeug der
Vernunftkritik spekulative Kontrcbande eingeschmuggelt? Dies ist doch
der scholastische Gottesbeweis, und zwar ohne Kant'sche Kautelen,
ohne das skeptische Vorzeichen der Als-Üb-Betrachtung. Dieser
Logos ist nicht der Kants, sondern der des 4. Evangelisten, und dies
unendliche Subjekt niemand anders als der von dem Ich der transzendentalen
Apperzeption toto gencre verschiedene Schöpfergott.

Solche Grenzüberschreitung könnte Wunder nehmen, da K. doch
unermüdlich betont, daß die Sphäre des Unbedingten nie Gegenstand
des Erkennens werden kann, daß von ihr nur Funktionsstrahlen ausgehen
, daß es ihr gegenüber keine Möglichkeit der Reflexion gibt, daß
das Unbedingte nur im Bedingten, aber nie neben und über ihm angetroffen
wird — sogar der doch genuin kantischen Betrachtungsweise
des Unbedingten als Grenzbegriffcs gegenüber zeigt K. bemerkenswerte

Zurückhaltung, weil er (nicht ohne Grund) Vergegenständlichung
fürchtet. Aber auch diese scheinbar rein kritische Gedankenlinie
kann nicht innegehalten werden, da K. zugeben muß, vielmehr mit
Emphase behauptet, daß das immanente Unbedingte unmittelbar,
intuitiv erfaßt werde, mehr noch, daß es als Ursprung menschlichen
Bewußtseins selbst Bewußtseins- ja Persönlichkeitscharakter trage, daß
es der lebendige Gott selber sei. Wieder stehen wir mitten in der
Vergegenständlichung. K. macht sich offenbar nicht klar, daß nicht
nur die Vorstellung, sondern auch das intuitive Erfassen sich im
Rahmen des Gegenständlichen hält. Nur die blinde Versenkungsmystik
vermag ihn zu sprengen, wenn sie an ihr Ziel, den Tiefschlaf der
Bewußtseinslosigkcit gelangt. Noch ein Wort zu dem Unbedingten in
der Ethik. Hier wird Kant von K. eigentümlich platonisicrt — was
übrigens auch sonst geschieht — insofern der kategorische Imperativ
nicht nur durch den Freiheitsgedanken, sondern auch die schöpferische
Idee des Guten unterbaut wird, und sodann nicht minder eigenmächtig
christianisiert, indem als Seele der Moral an Stelle des Kant'schen
Gerechtigkeitsprinzips — das sich ebenfalls keineswegs aus der formalen
Kategorie der Vernunftgesetzlichkeit ableiten läßt, wozu der
schöne Aufsatz von Nygren in Z. f. syst. Th. I 4 zu vergleichen ist —
der christliche Liebesgedanke eingesetzt wird.

Viel anders wurde übergangen. Stillschweigen soll
hier nicht Zustimmung bedeuten. Was praktisch überbleibt
, und wofür K. mit der Wucht seiner starken Persönlichkeit
wirbt, ist die Moral der helfenden Tat, geübt
in Gehorsam gegen Gott und der Kraft seines
Geistes. Doch halt, ist nicht eine weitere Reduktion
nötig? Darf man denn noch von Gott reden? Vergegenständlicht
man damit nicht das, was nur Funktion
sein soll — um dies von K. zu Tode gerittene, übrigens,
wie mir aufgefallen ist, nicht eindeutig gebrauchte
Wort noch einmal zu verwenden? Soweit reicht doch
K.s Konsequenz, daß er keinen Zweifel darüber läßt,
daß er alles Beten zu Gott unter allen Umständen als
götzendienerisch ablehnt. Also lieber: Moral sans
phrase! Und ist nicht selbst das noch zu viel? Doch,
leider. Auch die Ethik der Nächstenliebe droht sich,
wenn man K. folgt, im idealistischen Nebel zu verflüchtigen
. Denn seine Moral läuft letzten Endes darauf
hinaus, daß nachdem der Trug und Druck des
Materiellen abgestreift und alles Gegenüber verschwunden
ist, sich dem freien Menschen nunmehr eröffnet
das Schaffen und Gestalten aus der Fülle des göttlichen
Lebens, das dem künstlerischen Produzieren analog nicht
mehr unter die Rubrik des Ethischen sondern Ästhetischen
gehört, also mit K. ein Spiel (oder um auch hier
die christliche Retouche anzubringen, was K. glücklicherweise
unterläßt, ein Liebesspiel) genannt werden muß.
Iburg. W. Thimme.

Stirn er, Max: Der Einzige und sein Eigentum. Mit einer
Einleitung hrsg. von A. Schulze. Berlin: Rothgießer u. Possekel
1924. (429 S.) 8°. = Kassette d. neueren Philosophie 6. Gm. 2—.

Als Abweichungen dieses Neudrucks vom Urdruck v. 1845 habe ich
folgendes festgestellt: 1. Die bekannte Widmung an die eigne Frau
(„Meinem Liebchen Marie Dähnhurdt") ist weggelassen. 2. Die von
Stirner ehern durchgeführten Großschreibungen der Personal- und
Possessivpronomina 1. u. 2. pers. sing. u. plur. sind völlig beseitigt.
Das kommt fast einer durchgreifenden Sinnänderung gleich, wovon
sich jeder durch Proben leicht überzeugen kann. 3. Die Rechtschreibung
ist die jetzt geltende; leider sind der Umschreibung auch lautliche
Eigentümlichkeiten Stirners (z. B. „darnach") zum Opfer gefallen
; auch ist das Zahlwort Einer, von Stirner durch Großschreibung
markiert, vom unbestimmten Artikel ununterscheidbar geworden.
4. Die Fraktur des Urdrucks ist durch eine noch dazu häßliche und
charakterlose Antiqua ersetzt, die diesem Erzeugnis eigenwilliger Verschrobenheit
nun wirklich ganz übel zu Gesichte steht. 5. Es finden
sich, trotz allgemeiner Sorgfalt in der Wiedergabe des Wortlauts, doch
auch schlimme Errata; ich notierte: S. 167 Z. 1 v. o. lies seliger st.
selbiger; S. 349 Z. 12 v. u. lies realisiert statt realisierbar.

Nimmt man hinzu, daß die Seitenzahlen der Uraufl. nicht angegeben
sind und die Einleitung recht mäßig ist, so wird das Bedauern
komplett; ein Stirner ablehnender Gelehrter hätte diesen Anhänger
Stirners als Herausgeber an Pietät um ein Beträchtliches übertroffen.
Trotz allem begrüße ich den Neudruck. Die Seltenheit der Schrift
hat es verschuldet, daß die Nietzscheforschung Overbeck's Satz,
Nietzesche's Philosophie sei von diesem Buche in weitem Umfange abhängig
, zu ihrem eigenen Schaden vernachlässigt hat; hoffentlich benutzt
sie nun die durch diesen Neudruck gewährte Leichtigkeit, das
Versäumte nachzuholen.

Göttingen. E. Hirsch.