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Ausgabe:

1924 Nr. 17

Spalte:

377-379

Autor/Hrsg.:

Schweitzer, Albert

Titel/Untertitel:

Aus meiner Kindheit und Jugendzeit 1924

Rezensent:

Hirsch, Emanuel

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Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 17.

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tums, auf sich wirken, so wird einem das oft verkannte
geschichtliche Recht der Union deutlich: sie ist in
Gegenden oder Provinzen, wo es die Selbstbehauptung
des evangelischen Christentums gegenüber dem Katholizismus
gibt und die evangelischen Konfessionen durcheinander
wohnen, einfache Lebensnotwendigkeit. y)
Wunderschön wird herausgearbeitet, daß das Aufblühen
nationaler Gesinnung und nationalen Geisteslebens im
Rheinlande seit der französischen Revolution mit starker
Ursprünglichkeit von dem evangelischen Bevölkerungsteile
getragen worden ist, und daß die einseitige Heraushebung
der Arbeit der Görres, L. Camphausen usw.
kein richtiges Bild von dem Vorgänge gibt. Das gilt
alles auch unter völligem Absehen von der Arbeit
erst nachträglich an den Rhein verpflanzter Männer.
Besonders schön ist dabei die Bedeutung des Philosophen
Fr. Heinr. Jacobi zur Geltung gebracht.

An für die engere rheinische Kirchengeschichte wichtigeren Punkten
wären noch hervorzuheben die sorgfältigen Nachrichten über die Fortsetzung
des Reversalienstreites im 18. Jahrh., und über den Kampf der rheinischen
Kirche für ihre Selbstverwaltung im 19. Jahrh., sowie der Versuch,
durch Zusammenstellung einzelner Nachrichten einer Oeschichte der
rheinischen Theologie vor allem in der Aufklärungszeit vorzuarbeiten

Ich würde es für Unrecht halten, gegenüber einem
solchen Buche die paar Stellen zu notieren, wo H. die
neuste Literatur entgangen ist oder sonst Errata mir aufgefallen
sind. Am schmerzlichsten ist wohl, daß er
unterlassen hat, Josef Nadler's Literaturgeschichte
der deutschen Stämme und Landschaften zum Gegenstaude
kritischer Ergänzung und Umbildung zu
machen. Daneben wünschte ich, daß das dritte Kapitel
, das über Toleranz und Intoleranz, etwas billiger
gegen die evangelische Kirche wäre. Es geht doch
z. B. nicht an, es als Intoleranz zu buchen, wenn rheinische
Calvinisten aus Kirchen, die in- ihren eignen Besitz
gekommen sind, Bilder und Crucifixe entfernen.
Auch ein Profanhistoriker dürfte, ohne damit parteiisch
zu werden, vorbehaltlos anerkennen, daß der Ausrottungswille
der Gegenreformation ganz und gar ohne
Entsprechung auf evangelischer Seite ist. Doch solche
kleinen Schönheitsfehler ließen sich bei einer zweiten
Auflage, die ich dem Werke von Herzen wünsche,
leicht beseitigen und nehmen nichts hinweg von der
großen Dankesschuld, zu welcher unsre kirchenhistorische
Wissenschaft und unsre evangelische Kirche H.
sich verpflichtet wissen müssen.

Göttineen. E. Hirse Ii.

Schweitzer, Albert: Aus meiner Kindheit und Jugendzeit.

München: C. H. Beck 1924. (I) (73 S. mit 1 Bild von Günsbach). 8".

Om. 2,80.

Schweitzer, Prof. D. Dr. phil. et. med. Albert: Zwischen
Wasser und Urwald. Erlebnisse und Beobachtungen eines
Arztes im Urwalde Aquatorialafrikas (II) 19.—25. Tausend. Konstanz
: R. Walther 1923. (153 S. m. Abb. u. Taf.) 8°.

Schweitzer, d., Dr. phil. et. med. Albert: Das Christentum
und die Weltreligionen. (iii) München: C. H. Beck 1924.
(60 S.) 8». Gm. 1.80.

Zwei von den anzuzeigenden Büchern sind überwiegend
erzählend. Mit einer Gegenständlichkeit, wie
sie nur sehr „schlichten" (das ist auch ein Lieblingswort
Schw.s) und dabei doch gesammelten Menschen
gelingt und von einer reichen Natur wie der Schw.s nur
durch große Zucht erworben sein kann, stellen sie
Menschen und Verhältnisse so dar, daß man es nie wieder
vergißt. „Zwischen Wasser und Urwald" hat, schon
rein als Beschreibung einer Afrikareise, wenig Ebenbürtiges
; der Missionshistoriker wird schon deshalb das
Buch sich nicht entgehen lassen. Aber nirgends erzählt
Schw. rein um des Erzählens willen; überall
wächst ihm aus den Tatsachen ein großes sachliches
Anliegen auf, — das ethische. So hat er (1) seine
Jugenderinnerungen gestaltet; alle entscheidenden Erlebnisse
sind ethischer Art und werden erzählt, um im
Leser Einsicht in die Aufgabe, ein lebendiger gütiger
Mensch zu werden, wachzurufen. Diesen Faden spinnt

dann (2) das afrikanische Buch in seiner Weise fort;
die Selbstbesinnung darüber, wie in den Aufgaben und
Schwierigkeiten der in Kolonialafrika gegebenen Verhältnisse
sich das Ethos gestalten müsse (das, zu dem
der Neger erzogen werden muß, und noch mehr das des
Weißen, der dort arbeitet), und welche Pflichten wir
in Europa gegenüber denen in Afrika haben, schließt
die scheinbar formlos und lose sich aneinanderreihenden
Kapitel zu einem wohldurchdachten Ganzen zusammen.
Aber mächtiger als im ersten Buch klingt nun in dieses
zweite die religiöse Frage hinein, die Frage nach dem
Rechte des hohen Anspruchs, den die christliche Religion
erhebt, allen Völkern die Erlösung zu bringen. Die
Antwort gibt Schw., indem er die Bergpredigt und die
Worte des Paulus vom neuen Leben unterstreicht: daß
der Wille Gottes, von dem zu wissen eine Befreiung
aus der Angst des Heidentums ist, von uns Gütigkeit
und Reinheit haben will, diese ethisch-theistische Lebensanschauung
kann nur das Christentum dem Neger bringen
. Damit stehn wir denn (3) unmittelbar vor dem
Gegenstand der dritten Schrift, eines Vortrags vor indischen
Missionaren, der grundsätzlich gehalten ist: hier
ringt Schw. geistig mit den großen Religionen Indiens
und Chinas, um ihnen gegenüber die Überlegenheit der
christlichen Religion sich klar zu machen. Ich kennzeichne
seine Lösung mit einem Zitat (III 51 f.):

„Jede denkende Religion hat zu wählen, ob sie ethische Religion
sein will, oder Religion, die die Welt erklärt. Wir Christen
wählen das Erstere als das Wertvollere. Die logische, in sich geschlossene
Religiosität geben wir preis. Auf die Frage [die Schw.
als die Frage aller Religion hinstellt): Wie kann ich zugleich in der
Welt und zugleich in Gott sein? antwortet das Evangelium Jesu:
Indem du in der Welt lebest und wirkest als einer, der anders ist als
die Welt..."

Der Theolog wird von diesen drei Schriften wahrscheinlich
unmittelbarer ergriffen werden als von den
bisher erschienenen Bänden der Kulturphilosophie
Schw.s; dort muß man die letzte Stellung Schw.s zum
Christentum erraten, hier spricht er sie aus, und bejahender
, als mancher von dem entschlossenen ethischen
Rationalismus Schw.s vielleicht erwartet hätte. Ein
Rationalist, welcher (II, 134) das, was das Christentum
dem Neger bringt, in Paul Gerhardts Worte zusammenfaßt
: „Ich lag in schweren Banden, du kommst
und machst mich los", welcher darauf verzichtet, von
der inneren Erfahrung der Güte als der tiefsten Lebenswirklichkeit
aus die Welt zu erklären, ist keine alltägliche
Erscheinung. So möchte ich Schw. nicht nach
einem der üblichen Schemata abgeurteilt sehen; es wäre
schade, wenn wir nichts Besseres zu tun wüßten als
seine Schlichtheit mit den großen Worten messen, die
heut bei uns an der Tagesordnung sind.

Ich hebe deshalb zunächst heraus, was von Schw.
zu lernen ist. Da steht mir in erster Linie, daß ich bei
ihm eine religionsgeschichtliche Betrachtung
finde, die diesen Namen wirklich verdient, obwohl
sie mit dem vielfältig in Gegensatz steht, was heute
als religionsgeschichtlich kursiert. Wie Schw. 111,8 ff.
die „religionsgeschichtliche Phantasie, daß das Christentum
aus griechisch-orientalischer Religiosität zu begreifen
und herzuleiten sei", abtut und die Eigenart des
ersten Christentums als ethischer Religion herausarbeitet,
das zeigt, wie Schw. draußen über seine Schriften zu
Jesus und Paulus hinaus der Blick gewachsen ist;
so wie ers jetzt sagt, trifft es den Kernpunkt. Der
Kirchenhistoriker wenigstens, der auf die Deutung des
Urchristentums im anschließenden Begreifen der nachfolgenden
Entwicklung eine ernsthafte Probe zu machen
hat, wird sich hier auf Schw.s Seite stellen. Und er
wünschte sich, daß ein Forscher den kritischen Vergleich
der christlichen mit den Religionen, die in der alten
Kirchengeschichte mit dem Christentume konkurrierten,
ebenso ernsthaft und lebendig vollzöge wie Schw. seine
Auseinandersetzung mit den indischen und chinesischen
Religionen. Damit wäre ich dann beim zweiten:
Schw. bringt in die Frage nach der Absolut-