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Ausgabe:

1924 Nr. 16

Spalte:

348-349

Autor/Hrsg.:

Schwartz, Eduardus

Titel/Untertitel:

Acta Conciliorum Oecumenicorum. Tom. I: Vol. 5, Fasc. I et II 1924

Rezensent:

Koch, Hugo

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Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 16.

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thode verpflichtet den Referenten doppelt, zu prüfen,
wie die Gleichzeitigkeit gewonnen und ob bei aller
richtigen Einstellung auf die Zeit nicht innerhalb dieser
der soziologische Ort des Objektes verfehlt wird.

B. versucht zumeist das griechische Wort in die jüdische
Atmosphäre zu transponieren, indem er etwa auf
ein Vorkommen des Wortes in der LXX hinweist, daraus
das hebräische Äquivalent gewinnt und nun nach
Belegen für dieses im rabbinischen Schrifttum sucht. Das
ist gewiß ein Verfahren, das der Exeget experimentell
anzuwenden hat; ob es aber als die einzige Methode
gelten darf, die erwünschte „Gleichzeitigkeit" zu erreichen
, das möchte doch ernstlich zu bezweifeln sein.

Typisch für die unrechtmäßige Monopolisierung dieser Methode
scheint mir folgende Erklärung zu sein: Das Zürnen Mt. 5,22 wird
auf dem Umweg über Jak. 1,19. 20 in Verbindung gebracht mit
Hillel, der nach Aboth 11,5 gesagt hat: der Aufbrausende kann
nicht lehren. Von da aus gelangt man zu Hilleis Konkurrenten,
dem zornmütigen Schammai, der den nach dem Inhalt der Thora
fragenden Heiden anschrie. Dieses Anschreien heißt nasaph, nesipha
ist aber der geringere Qrad des Bannes; daß Jesus Bannformeln
kennt, wird durch Mt. 7,23 wahrscheinlich. Der Sinn des fraglichen
Verses ist also der, daß Jesus das Bannen, auch das der leichtesten
Form, aus dem Kreise seiner Jünger verbannt hat (S. 62—67). Nicht
ganz so abenteuerlich, immerhin aber noch anfechtbar genug erscheint
mir die Erklärung von tiuqextos Xöyov nopvdag Mt. 5, 32 :
in Anlehnung an das Gebet des Tobias Tobit 8,7 wird nopveia
hier auf „wilde, vielleicht perverse Sinnlichkeit in der Ehe" gedeutet
.

Man sieht an solchen Interpretationen, inwiefern
die Illustration der Bergpredigt mit jüdischen Zeugnissen
ihre Schranke hat. Ich will davon ganz absehen
, daß diese Belege meist aus späterer Zeit stammen
und daß die in der Mischna scheinbar vorausgesetzten
Verhältnisse oft konstruiert sein mögen; aber es fragt
sich auch, ob der korrekte Nomismus der Mischna
wirklich einen Maßstab für die Deutung des ganz
atheoretischen Evangeliums abgibt. Vielleicht lagen die
Verhältnisse in Galiläa gar nicht so korrekt, und mindestens
wußten die Hörer Jesu über das, was Rechtens
war, gewiß nicht so gut Bescheid wie die Rabbinen.
Wenn B. S. 70 sagt: „wenn doch auch wir das alles
wüßten, was die Schriftgelehrten lehrten, so wie die
Jünger und die Hörer seiner Rede es wußten", so ist
eben dies letzte zu bezweifeln.

Es ist mir durchaus nicht sicher, ob Jesu Hörer bei den Sanftmütigen
gleich den Gegensatz zu harten und hochmütigen Lehrern
im Auge hatten, das Wort also auf die Freundlichkeit des Lehrers
bezogen (S. 32). War für sie ivoyog riy xoiaei Mt. 5, 21 wirklich
ein Problem, weil nach M. Sanh. 1,4 Lebensstrafsachen vor dem
Gericht der Dreiundzwanzig, nicht vor der unteren Instanz des
Dreimännergerichts gerichtet werden? Und mußten sie erst auf
dem Umweg über Sir. 31,25 f. das qmvsvciv mit dem Vorenthalten
des Tagelohns identifizieren (S. 63); war nicht am Ende l'i'oyog xft xpiaei
für sie einfach eine Umschreibung von „Mörder" (Orig. hom. IX, 3
in Jos. homicida est)? Auch daß ihnen die Perlen, die nicht vor
die Schweine geworfen werden sollen, durch den rabbinischen Bildgebrauch
gleich auf köstliche Lehrsätze gedeutet wurden (S. 172),
will mir nicht einleuchten.

Aber der Welt der Rabbinen fehlt auch noch eines,
das für das Evangelium höchst bezeichnend ist; die
aktuelle Spannung eines starken Endglaubens. Und
dieser Glaube ist gerade das für die Worte Jesu entscheidende
. Weil Jesus über die Grenze der Welten
hinweg spricht, darum kann man seine Worte nicht
nomistisch verstehen. Sie sind nicht einfach ein strengeres
Gesetz, aber auch gewiß keine Interimsethik und
ebenso gewiß kein bloßes Ideal, denn sie sollen im
Gottesreich Wirklichkeit werden. Nur nicht „Wirklichkeit
" im Sinn des Getanwerdens — denn manches
wird dann gar nicht mehr zu „tun" nötig sein — sondern
im Sinn einer Verwirklichung des Lebensgrundes,
aus dem sie hervorgehen, den anzudeuten, mitzuteilen,
neuzuschöpfen sie überhaupt gesprochen sind. Ich bin
allerdings mit B. der Meinung, daß wahrscheinlich jeder
Satz der Bergpredigt mit jüdischen Parallelen belegt
werden könnte, wenn wir das vollständige Material
härten, so wie auch jede Vaterunserbitte „jüdisch" sein

kann. Der Unterschied ist dieser, daß Jesu Worte nur
Ausstrahlungen des neuen Seins vor Gott und zu Gott
hin darstellen, das er für die Weltverwandlung schaffen
will, die entsprechenden jüdischen Worte aber ihren
Selbstzweck im Wortlaut und dessen Erfüllung durch
Tun haben.

Da bei der Methode B.s der eschatologische Gesichtspunkt
ganz zurücktritt, muß er das gleiche Problem
anders lösen. Den Unterschied zwischen Evangelium
und Rabbinenlehre sieht er in der Abgrenzung
des Personenkreises, für den die Forderung bestimmt
ist (S. 93). Die Liebespflicht gilt nicht nur dem Genossen
, sondern ist über die ganze Menschheit ausgedehnt
(S. 56), auch vor dem Bösen macht sie nicht
Halt, denn Mt. 5, 39 will das Prozessieren auch mit dem
Bösen verbieten. Die Angeredeten aber sind in jedem
Fall die Jünger Jesu; denn obwohl B. im Mt.-Text der
Bergpredigt Einfügung anderer Jesus-Sprüche durch den
Evangelisten anerkennt und obwohl er auch die Sprüche
der Lk.-Form nicht hintereinander predigtmäßig gesprochen
sein läßt, sieht er in dieser Form doch Ergebnisse
von Lehrgesprächen eines Tages und gewinnt
aus dem Rahmen die Überzeugung, daß es sich um eine
Lehre für die Apostel handelt. Auch heute dürfe man
also nicht die Imperative der Bergpredigt gedankenlos
auf den Staatsbürger oder „das bloß christianisierte
Mischvolk in unseren Volkskirchen" übertragen — die
würden überfordert sein —; vielmehr sei bewußtes
Christentum überall die Voraussetzung, und für dieses
heiße das Problem nicht: kann man so etwas fordern?
sondern: vermag Gott zur Erfüllung solcher Weisungen
zu befähigen? (S. 112). Dann aber seien die Forderungen
der Bergpredigt, recht interpretiert, zwar „unbequem
..., aber ausführbar" (S. 100).

Wem die oft berufene Unausführbarkeit der Bergpredigt
nicht zum Anlaß wird, sich achselzuckend von
ihr zu dispensieren, sondern zum Anreiz, die Spannung
zwischen der Sache des ewigen Gottes und unserem
tausendfach bedingten Dasein immer aufs neue zu empfinden
und immer wieder aus dieser Welt in jene einzutauchen
, der wird von dieser Versicherung der Ausführbarkeit
gar nicht mit besonderer Befriedigung
Kenntnis nehmen. Aber das dürfte für das wissenschaftliche
Urteil nicht entscheidend sein. Bedenklicher erscheinen
gewisse Modernisierungen in der Interpretation.

Mt. 5,28 wird so gedeutet: „ihr sollt das Weib eures Mitapostels
sehen können (und wenn es das reizendste wäre), ihr sollt
mit ihm reden, verkehren können, ohne daß es zur sinnlichen Begierde
kommt." (S. 75). Mt. 6, 25 verbietet die Arbeit, nicht
sorgende Gedanken, aber verbietet sie nur den Aposteln und macht
diese damit frei für den Dienst des Herrn. (S. 151). Der Lohngedanke
muß im Rahmen des Vaterverhältnisses, nicht wie bei den
Juden in dem des Dienstverhältnisses verstanden werden (S. 116 f.).

Und vor allem darf man fragen, ob die Bergpredigt
hier nicht aus der Urkunde eines neuen Seins zur Darlegung
eines eigenartigen und nur in der Beziehung auf
einen bestimmten Kreis verständlichen S o 11 e n s wird
und wie das zum Inhalt des Evangeliums, zu den
Gleichnissen wie zu den eschatologischen Worten
stimmt. Im Ganzen scheint mir also die Deutung B.'s
grundsätzlich irrig, weil sie nomistisch ist. Das schließt
nicht aus, daß allerlei Gutes für die Exegese einzelner
Stellen in dem Buch steht, und vor allem, daß die Ausdeutung
der Bergpredigt im Rahmen des zeitgenössischen
Judentums, wie sie B. vertritt (nur unter Ein-
deutung rabbinisch-nomistischer Gedanken) die richtige
Methode darstellt. So wird die Lektüre des Buches
jeden Leser fördern, aber am meisten vielleicht gerade
den, der in den Konsequenzen B.'s vielfach schon die
Widerlegung seiner Exegese zu sehen vermag.
Heidelberg. Martin Dibelius.

Acta Conciliorum Oecumenicorum. Jussu atque mandato Socie-
tatis scientiarum Argentoratensis ed. Eduardus Schwartz. Tomus I:
Concilium universale Ephesenum vol. V. Parsprior.
Fase. I. u. II. Berlin: W. de Gruyter & Co. 1924. (144 S).
4°. je Gm. 11.—