Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1924 Nr. 15

Spalte:

325-327

Autor/Hrsg.:

Wolff, Ludwig

Titel/Untertitel:

Der Gottfried von Straßburg zugeschriebene Marienpreis und Lobgesang auf Christus 1924

Rezensent:

Müller, Günther

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

325

Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 15.

326

die „die Heiligenbiographie in der Literatur sowie auf
(lies: für) die Menschheit des 10. und 11. Jahrhunderts
gewonnen hat", ein besonderer Abschnitt zuzuweisen,
bei dem man freilich nicht behaupten kann, „daß man
sich einem erquicklichen Stoffe nähert". Die Dichtung
(Heiligenpoesie, geistliche Lyrik, Lehrgedicht) liegt im
behandelten Zeitabschnitt aus bekannten Gründen fast
ganz in der Hand des Klerus, auch wo sie mit weltlichen
Motiven arbeitet. Namen von Rang begegnen hier freilich
nicht.

Bei meiner Arbeit am letzten Teil der römischen Literaturgeschichte
von Schanz habe ich seinerzeit den ersten Band von
Manitius wiederholt zum Vergleich heranziehen müssen, da in dem
Grenzgebiet zwischen Altertum und Mittelalter einige wenige Abschnitte
in beiden Werken zu behandeln waren. Ich konnte mich damals
nicht davon überzeugen, daß die Anlage bei Manitius der von
Hosius und mir in Fortsetzung von Schanz befolgten vorzuziehen
sei, und muß bei diesem Urteil auch angesichts des zweiten Bandes
bleiben. Wer sich die Mühe nehmen will, die in beiden Werken als
, Zeugnisse" überschricbenen Abschnitte zu vergleichen, wird bald
sehen. was 'cn me'ne. Erstes Erfordernis für ein Nachschlagebuch
— und darum handelt es sich in beiden Fällen — ist die Übersichtlichkeit
. Was man sucht, muß man sofort finden können und — so
pedantisch das klingen mag — in jedem Abschnitt an ein für alle
Mal vorgesehener Stelle, sei es, daß es sich um „Zeugnisse" im
engeren Sinn, oder um Überlieferung, Ausgaben, vor allem um die
Literaturangaben handelt. Zumal in letztgenanntem Punkt macht es
Manitius seinen Benutzern nicht leicht. Man suche einmal in dem
Abschnitt über Radier nach der bibliographisch genauen Anführung
des grundlegenden Buchs von Vogel, oder suche sich im Abschnitt
Berengar die Literatur zusammen. Und was nützt es, wenn man im
Abschnitt Adelmann von Lüttich liest: „Der Brief ist gedruckt bei
Sudendorf, Berengar von Tours, S. 8", und hunderte von Seiten zurückschlagen
muß, um dann — und noch dazu versteckt — bei Berengar
den Titel des Werks (richtig: „Berengarius Turonensis") mit
bibliographischer Angabe zu finden ? Übrigens entbehren auch die
.Zeugnisse" im engern Sinn jeglicher Gliederung in sich. In dieser
und anderer Beziehung haben Flosius und ich — ich sage das ohne
jede Selbstüberhebung — zum mindesten praktischer gearbeitet.
Betonen möchte ich auch hier wieder, was ich schon öfter
zu sagen hatte: bei Zeitschriften sollten stets Bandzahl und
Jahrgang angeführt werden, keinenfalls aber der Band allein, denn
in erster Linie will man wissen, wann der betreffende Schreiber mit
seiner Abhandlung in die Erörterung eingegriffen hat. Auch die Genauigkeit
in den bibliographischen Angaben könnte bei Manitius
größer sein. Man vergleiche nur das „Verzeichnis der häufigeren Abkürzungen
". Übrigens: warum ist Hurters Nomenciator nirgends
(wenn ich nichts übersehen habe) genannt? Er enthält doch manche
Notiz, die selbst Manitius noch hätte buchen können. So
finde ich z. B. dort in dem Abschnitt über die Abendmahlstreitigkeiten
unter Hinweis auf die Histoire Literaire (so, nicht Litteraire,
wie Manitius drucken läßt) de la France einen Maurilius, Bischof
von Rouen (1055—1067), der de sacramento eucharistiae geschrieben
hat, also wohl im Abschnitt Berengar bei Manitius zu buchen war.
Die Benutzer des ersten Bandes sollten die ausführlichen Nachträge
, die auf Seite 792—815 zusammengestellt sind, nicht übersehen.

Es widerstrebt mir aber, bei solchen , Kleinigkeiten
zu lange zu verweilen oder gar mit ihnen diese Anzeige
abzuschließen. Wichtiger ist es, noch einmal die Aufmerksamkeit
auf die gewaltige Arbeitsleistung des verdienten
Verfassers zu lenken und ihm zu wünschen, daß
ihm die Kraft erhalten bleibe, das groß angelegte Werk,
wenn nicht zu Ende, so doch noch um einige Jahrhunderte
weiter zu führen. Endlich dürfen wir nicht
vergessen, mit dem Verfasser dem Verleger zu danken,
der es, der Abneigung unseres Geschlechts gegen gelehrt
-antiquarische Arbeit zum Trotz, gewagt hat, einem
so spröden Stoff seinen kräftigen Schutz angedeihen
zu lassen.

Gießen. G. Krüger.

Wolff, Ludwig: Der Gottfried von Straßburg zugeschriebene
Marienpreis und Lobgesang auf Christus. Untersuchungen
und Text. Jena: Frommann 1924. (V, 136 S.) gr. 8°. = Jenaer
germanistische Forschungen. 4. Gm 5_

Die große Heidelberger Liederhandschrift bringt
unter dem Namen Gottfrieds von Straßburg ein umfangreiches
geistliches Lied, das in zwei äußerlich verbundenen
Teilen Maria und Christus besingt. Seit der
wissenschaftlichen Bemühung um die altdeutsche Literatur
hat dieses „Lied" die Forscher beschäftigt. In der
Tat stellt ja die Erscheinung Gottfrieds unserer Erkenntnis
schwerwiegende Fragen, deren Spitze sich dahin formulieren
läßt: wie steht der Dichter innerhalb seiner,
im ganzen kirchlich gebundenen, Zeit? Diejenigen, die
in ihm einen treuen Sohn der Kirche zu finden wünschten
, mochten in dem ihm zugeschriebenen geistlichen
Lied eine Bestätigung ihrer Anschauung begrüßen.

Für die spätromantische Einstellung ist die Charakteristik bezeichnend
, die v. d. Hagen im 4. Band seiner Minnesinger entwirft:
„Dieses Lied Gottfrieds ist in der Tat die Verklärung der Minne und des
Minnegesanges durch die ,geweihte Minne', das himmlische Brautlied,
das geheimnisvolle Hohelied, welches den überschwänglichen Gegenstand
in einem Strome von tiefen und lieblichen Bildern (wie jenes
von dem ewigen Minnetrank) abspiegelt, alle Gebilde zum unver-
welklichen Kranze in einander verschlingt: auch hier, im bedeutsamen
, tiefsinnigen Werke von künstlichem, vielreimigem Baue, immer
krystallenklar, leicht und anmutig" (S. 621).

Diese liebevolle Würdigung deutet geschickt auf verwandte Züge
zwischen Lied und Epos (Minnetrank, künstlicher Bau, krystallklarer
Stil). Aber sie hält sich im Bereich allgemeiner Eindrücke. Schon
wegen der, auch von v. d. Hagen erkannten, Verwirrung der Überlieferung
— die Weingartner und die Karlsruher Handschrift weichen
nicht nur in der Anordnung, sondern auch im Bestand der Strophen
erheblich von der großen Heidelberger ab — war eine philologische
Einzeluntersuchung unumgänglich. Was in in dieser Beziehung Pfeiffer
geleistet hat, ist nunmehr von Ludwig Wolff in der vorliegenden
Habilitationsschrift zum Ausgangspunkt einer gründlichen Abhandlung
gemacht worden.

Wolff kommt gegen den neuerlichen Versuch H.
Fischers (Münchener Sitzungsberichte 1916), den „Lobgesang
" als ein Jugendwerk Gottfrieds zu erweisen, zu
dem gesicherten Ergebnis, daß Gottfried nicht der
Verfasser sein kann. Zu dem bekannten Reimkriterium
s:z, das eine Entstehung vor der Mitte des 13. Jahrhunderts
ausschließt, fügt er zunächst den Nachweis,
daß es sich in dem geistlichen Lied, wie es aus dem
drei Handschriften herzustellen ist, überhaupt nicht um
das einheitliche Werk eines Dichters handelt. Da
sämtliche Strophen denselben sprachlichen Charakter
haben, können nur inhaltliche und stilistische Argumente
verwendet werden. Wolff untersucht die metrisch-
rhythmischen Elemente, die Reimkunst, die Wiederholungen
, Bilder und Vergleiche. Alles stimmt darin
zusammen, daß die 11 Strophen der Karlsruher Handschrift
den Kern der Dichtung bildeten. 4 einleitende
Strophen und eine beträchtliche Ausdehnung des Lobgesangs
auf Maria (in der Weingartner Handschrift)
brachten eine erste Erweiterung, das „Lob Christi" und
die dadurch bedingte allgemeine Einleitung die zweite.
Ob die Dichtung freilich „als ein Werk in dem Umfang
bestanden hat, in dem sie uns in Haupts [ und nun auch
in Wolffs] Ausgabe vorliegt", scheint mir recht zweifelhaft
. Wolff selbst weist auf unbehobene Schwierigkeiten
der Strophenanordnung hin, und die uns verfügbare
Überlieferung dürfte gegen seine Annahme sprechen. Es
ist nicht ganz deutlich, was er mit dem Ausdruck „bestanden
hat" meint. Unsere 3 Handschriften gehen
jedenfalls nicht auf Vorlagen zurück, die die Gesamtdichtung
enthalten hätten. Wie im Minnesang wird man
auch hier damit rechnen müssen, daß das „Lied"ganze
nicht eine im modernen Sinn organische, sondern eine
mosaikhafte Einheit bildete, daß beim Vortrag, der für
das „Leben" dieser Kunst ja wichtiger war als die
schriftliche Fixierung, dementsprechend offenbar eine
Auswahl von Strophen stattfinden konnte. Und so
möchte ich gegenüber dem vortrefflichen kritischen
Text des Gedichts, den Wolff am Schluß seiner Schrift
gibt, einen Vorbehalt machen, der gegenüber allen entsprechenden
Leistungen Geltung rjeansprucht: der Text
stellt ein ideales X dar, das in der literarhistorischen
Wirklichkeit ebensowenig „bestanden" zu haben braucht,
wie die erschlossenen Ursprachen in der sprachhistorischen
.

Für die entscheidende Frage nach der Urheberschaft
verschlägt dieser Vorbehalt nichts. Eben wegen
der sprachlichen Gleichartigkeit geht es, wie Wolff