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Ausgabe:

1924 Nr. 13

Spalte:

283-284

Autor/Hrsg.:

Paul, Jean

Titel/Untertitel:

Vorschule d. Ästhetik 1924

Rezensent:

Petsch, Robert

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Seite 1

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283

Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 13.

284

Müller, Dr. phil. Josef: Jean Paul und seine Bedeutung für
die Gegenwart. 2., umgearb. Aufl. Leipzig: Felix Meiner 1923.
(VIII, 396 S. m. 1 Bildnis.) 8°. Gm. 7.— ; geb. 9—.

Paul, Jean: Vorschule d. Ästhetik. Nebst einigen Vorlesungen
in Leipzig üb. d. Parteien d. Zeit. Hrsg. v. Dr. Josef Müller.
Mit e. ,.Einführung in Jean Pauls Gedankenwelt" v. Prof. Dr. Johannes
Volkelt. Leipzig: F. Meiner 1923. (XXXII, 526 S.) 8°.
= Philosophische Bibliothek. 105. Bd.

Gm. 10—; geb. 12—; Gesch.-Bd. 15—.

„Mit weniger Glaube, mehr Licht" als vor einem
Menschenalter gibt Josef Müller zum zweiten Male, in
wesentlich veränderter und gereifter Form, seine große
Jean - Paul - Darstellung heraus: keine wissenschaftliche
Biographie, auch keine kulturgeschichtliche oder durchgreifende
psychologische Erklärung des Phänomens Jean
Paul, sondern im wesentlichen eine Betrachtung des von
seinen Schriften widergespiegelten Innenbildes von verschiedenen
Gesichtspunkten her. Oft genug ersetzen
immer noch breite Zitate aus den Schriften die eigentliche
Darstellung, die sich dann auf ein paar verbindende oder
resümierende Bemerkungen von dem katholischen, durchaus
nicht engen Standpunkt des Verf. aus beschränkt.
Das Ganze ein ehrlich gemeinter Versuch, an dem Aufbau
des gegenwärtigen Deutschlands mitzuhelfen, wobei
Jean Paul sicherlich den auf ihn eingestellten Deutschen
(freilich nur diesen, aber ihrer sind heut nicht wenige)
ein wertvoller Führer sein kann.

Die Grundlage des Ganzen ist der Abschnitt über
„den Menschen Jean Paul", leider wieder keine abgerundete
Studie im Sinne der heutigen strukturellen
geisteswissenschaftlichen Psychologie, die uns mit ihren
Typen doch mancherlei an die Hand gibt, um einem so
schwierigen Problem wie der Persönlichkeit des fränkischen
Dichters nahe zu kommen. Unter den Überschriften
: „Der Charakter Jean Pauls i. a." (a. Tugenden
des Willens, b. des Gemüts) und „Der Optimismus
Jean Pauls" werden eine große Reihe guter Beobachtungen
gebucht, aber das Gesamtbild des Dichters und
des Menschen ist uns doch durch manche neuere Darstellung
klarer geworden, die J. M. in seinem Vor- und
Nachwort verschweigt, um sich bloß darüber aufzuhalten
, daß dieser echt deutsche Dichter neuerdings so
oft von Seiten der „Hebräer" dargestellt worden sei.
Ob das wohl Zufall ist? Jedenfalls möchte ich doch
auf eine der jüngsten Arbeiten der jüngeren Schule, auf
Ed. Berends ausgezeichnete, charakterisierende Einleitung
zu seiner wertvollen Jean-Paul-Auswahl (5 Bände
im Propyläenverlag zu Berlin) recht nachdrücklich hinweisen
. — Für unsre Leser kommen dann bei Müller
vor allem noch der 2. Abschnitt (Jean Paul als Philosoph
, besonders S. 129 ff. „Die Unsterblichkeit der
Seele") und der 3. (Die Religion Jean Pauls) in be-
tracht; weiterhin wird Jean Paul als Pädagog, als Kunstphilosoph
, und, sehr kurz, als Dichter, Sprachforscher,
Grammatiker und Politiker behandelt.

Die Grundlinien, die M. in seinem dritten Kapitel zieht, dürften
in allein Wesentlichen stimmen und machen der Unvoreineenommen-
heit des Verf. Ehre. J. P. kommt vom Deismus her, an dessen drei
Grundideen er Zeitlebens festgehalten hat, ebenso wie an seiner Abneigung
gegen das historische Christentum, gegen die Kirche und die
hergebrachten Formen des öffentlichen Kultus. Dagegen weist in
die wärmeren Kegionen der Romantik der sehr starke Einschuß
einer ethisch-idealistischen Schnsuchts-Religion hinüber, welche die
eignen Leitideen mit unbeirrbarer Notwendigkeit in der Gottheit
verankert. Bemerkenswert ist vor allem das Hinüberstreben des
Dichters über den Rationalismus: „Gerade das Dunkle ist das Göttliche
in Gott", dasjenige also, was über unsre ratio hinausgeht;
Gott ist die Erfüllung jeder Sehnsucht, jedes Eros, wie denn jedes
übermächtige Sehnen auch nach sehr realen Gütern ' und Genüssen
letzten Endes auf diese dunklen Ziele hinweist. „Divinität statt
Humanität", damit streht J. P. über die Zeit hinaus, aus der er
stammt. Vieles von den religiösen Bewegungen des 19. Jahrhunderts,
wie eine freiere Gemeindebildung, eine freie, an die vorhandenen
religiösen Instinkte anknüpfende Missionstätigkeit, Kindergottesdieste
usw. hat er ahnungsweise vorweggenommen. Übrigens trägt seine
Religiosität eben durchweg den Charakter der Sehnsucht, nie den des
ruhigen „Wohnens in Gott". Das entspricht denn auch dem Charakter
des ganzen Mannes, wie er sich in allen seinen Ideen, Gestalten

und Außerungsformen bis in die Periode seines Satzbaues hin;
offenbart. Daher auch seine hinreißende Gewalt über verwandte Gemüter
, die sich einmal von seiner Weise haben stimmen lassen.

Wie sich bei Jean Paul, dessen Innenleben überhaupt
von einer starken polaren Dynamik beherrscht
ist, überströmendes Gefühl und ätzend-scharfer Verstand
scheiden, um einander wieder zu suchen, das zeigen
seine mehr theoretischen Werke, wie vor allem die
„Levana", aber auch seine „Vorschule der Ästhetik"
(richtiger „Poetik") deren Ausführungen über den Humor
bisher noch nicht übertroffen worden sind. In
der „Philosophischen Bibliothek" von Meiner mit ihrem
weitherzigen Programm durfte dies wichtige Werk nicht
fehlen, das uns Josef Müller mit einer Reihe von sachlichen
Anmerkungen (leider aber ohne das fast unentbehrliche
Namen- und Schlagwortregister!) vorlegt. Als
der berufenste unter den gegenwärtigen Philosophen
hat Joh. Volkelt dazu eine Einführung geschrieben, die
tief in die Problematik des Charakters und der Gedankenwelt
unsers Dichters eindringt und der „Vorschule
" ihren Platz in der Kulturgeschichte (in der
nächsten Nähe Herders) und im Gesamtwerk Jean Pauls
anweist. Auch V. kommt ausführlich auf die religiösen
Fragen zu sprechen, vor allem auf das Verhältnis von
Ich- und Gottesgewißheit, von Geistes- und Seelenleben
, von Diesseits und Jenseits (Unsterblichkeitsglaube
). Die Ausgabe gehört zum unentbehrlichen Rüstzeug
eines jeden, der sich mit J. Pauls Gedankenwelt
zu beschäftigen hat.

Hamburg. Robert Petsch.

Frost, Prof. Walter: Echt und unecht. Betrachtungen über das
Denken und den Charakter. München: Ernst Reinhardt 1923. (VII,

184 S.) 8°. Gm. 2—.

Der Verfasser treibt „materiale" Philosophie. Er
will einen neuen Begriff aus Erfahrungsmaterialien und
konstruktiv-spekulativen Ansätzen erzeugen. Es gilt „etwas
neues sehen zu lernen". „Wohl in jeder geistigen
Funktion gibt es mehrere übereinander gelegte Schiebten
, die sich voneinander so weit loslösen können, daß
die Gesundheit der Gesamtheit gestört wird. ... Es
liegt also nahe, von Spalten oder Spaltbarkeilen in der
menschlichen Seele zu sprechen." Willkürlicher Gebrauch
der Spaltung führt zur Verstellung. Unwillkürliche
Störung der Funktionen läßt das Unechte entstehen
. Es gibt Spaltungen zwischen Wort und Begriff
, zwischen Begriff und intuitiver Sacherfassung,
sodann zwischen Sprache und Meinung, zwischen bloß
| ausgespielter Meinung und ehrlicher Überzeugung. Die
an letzter Stelle genannte Spaltung führt auf die tiefer
begründete zwischen Ernst und Schein im Denken.
(„Herz im Denken".). Auf andere Beispiele von Spaltungen
weisen hin das „Problem der Tiefenerkenntnisse
des Gemütes" und das Problem „der Einfügsamkeit in
nichtwißbare Gesetze". Eine weitere Betrachtung ergibt,
daß das Echte im Charakter des Menschen verankert
ist, daß „nicht bloß eine Verankerung der Seele nach
Seiten der Naturgrundlagen des menschlichen Wesens
sondern auch eine Verankerung des menschlichen Geistes
in der Wirklichkeit und in den Ideen nötig sei, damit
,echte' Leistungen entstehen". „In drei Hauptrichtungen
verlaufen die Reflexionen über das Echte im
Geistigen und Seelischen: nach der Seite der Innen-
< Verankerungen der seelischen Erscheinungen, nach der
! Seite der Außenverankerungen, und nach der Seite des
wahren (oder echten Guten) überhaupt." Natürlich
ergeben sich auch aus Reflexionen in der Richtung der
Wertproblematik Antworten auf die Frage, was echt
und unecht sei. Ohne Zweifel sind die weitverzweigten
Untersuchungen sehr geeignet, über die Entstehung
und Begründung der Urteile „echt" oder „unecht" im
Seelenleben des einzelnen Aufschluß zu geben. Die
Annahme des Verfassers dagegen, daß damit auch über
den Wesensgehalt des Begriffes oder der Vorstellung
„echt" oder „unecht" etwas ausgesagt sei, scheint mir
irrtümlich. Es müßte zuvor die psychologische, durch