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Ausgabe:

1924 Nr. 13

Spalte:

282

Autor/Hrsg.:

Fichte, Johann Gottlieb

Titel/Untertitel:

Über den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie 1924

Rezensent:

Hirsch, Emanuel

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Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 13.

282

lein lieber lesen, wenn es weniger im Stil katholischer
Überheblichkeit und mit etwas mehr Liebe gegenüber
der russischen Kirche geschrieben wäre. L. hält
für das Treibende in der russischen Mission überall nur
die Politik und schreibt ihren Erfolg ausschließlich dem
Geld zu. Wie er gleich im Vorwort von der orthodoxen
Kirche sagt, daß sie bis 1917 „die feile Sklavin und
Handlangerin des Staats" gewesen sei, so schließt er
seine Schrift mit dem Satz: „So aber war (der Rubel)
der Schöpfer und Gründer, die Daseinsquelle und Stütze,
das Lebenswerk und der kräftigste Halt aller russischen
Missionen." Daß bei der russischen Mission in Persien
und in Syropalästina politische Absichten mit im Spiele
waren, wird niemand bestreiten. Übrigens: arbeiten dort
die französischen katholischen Missionen so ganz selbstlos
? Und läßt sich für Ostasien, für die Mission auf
den Aleuten und in Alaska, in Japan und in China L.'s
Urteil wirklich aufrecht erhalten? Weiß L. nichts davon
, daß eine orthodoxe Mission in China der russischen
Regierung vielmehr höchst unbequem war, weil
diese in dem Aufrollen der religiösen Frage ein Hindernis
für ihre politischen Absichten erblickte? Für die
Mission in Japan weiß auch L. keine politischen Nebenzwecke
ausfindig zu machen. Hier hilft er sich damit,
daß er — ohne jeden Beweis — Nikolai Kassatkin den
Ehrgeiz unterschiebt, der Schöpfer einer selbständigen,
japanischen Nationalkirche zu werden. Aber gerade das
in seiner Art doch wirklich bedeutende Lebenswerk
dieses Mannes hätte ihn notwendig vor die Frage stellen
müssen, wodurch wohl die griechische Kirche bis zum
heutigen Tag eine gewisse Anziehungskraft auszuüben
vermag. Wäre L. ihr nachgegangen, so hätte sein
ganzes Büchlein etwas mehr Tiefe gewonnen.

Die beiden zuletzt genannten Schriften fallen im i
Grund über den Rahmen einer theologischen Zeitschrift
hinaus. Aber man ist doch dankbar dafür, daß der Verlag
sie der Theol. Lit. Ztg. eingesandt hat. Der Ro-
man „Der seltsame Mensch" hält allerdings nicht,
was man von Korolenko erwartet. Der „seltsame
Mensch" ist ein Ukrainer, der nach Nordamerika auswandert
, dort begreiflicherweise durch sein Gebahren
Aufsehen erregt, aber schließlich doch sich zurechtfindet
. Der Sinn ist zu zeigen, wie Amerika auf einen
naiven Menschen wirkt. Aber man spürt allzu deutlich,
daß Amerika tatsächlich nicht mit den Augen eines
naiven, sondern eines Kulturmenschen gesehen ist, der ;
bloß hinterher sich besonnen hat. was wohl einer seiner |
Landsleute vom Dorf bei dem allem empfinden müßte.
So kommt weder für das Verständnis des Ukrainers,
noch für das Amerikas sonderlich viel heraus. — Auf
ganz anderer Höhe stehen die russischen Köpfe von
Oscar Blum. Das Buch schildert die Machthaber Rußlands
seit der Revolution von Kerenski und Plechanow
bis zu Lenin, Trotzki, Radek, Lunatscharsky usw. mit
einer aus vertrautem Umgang stammenden Kenntnis, mit
einer Kraft des Stils und einer Meisterschaft der
Wesensschau, daß ich ihm schon rein schriftstellerisch
nur die größte Bewunderung zu widmen vermag. Ich
kenne kein Buch, aus dem so viel für das gegenwärtige
Rußland zu lernen wäre. Bloß Tschitscherin scheint
mir etwas unterschätzt, und ob die Schlußbetrachtung
richtig ist, kann heute noch niemand sagen.

Berlin. Karl Holl.

Liebert, Prof. Dr. Arthur: Wie ist kritische Philosophie überhaupt
möglich? Ein Beitrag zur systematischen Phänomenologie
der Philosophie. 2., ergänzte Aufl. Leipzig: Felix Meiner 1023
(XXII, 256 S. )8°. = Wissen und Forschen, Bd. 4.

n. Gin. 6.50 ; geb. 8.50.

Die bekannte verdienstvolle Untersuchung Lieberts,
welche das Gesetzesprinzip und die Rechtsquelle erforscht
, auf denen der theoretische Geltungswert des
Kritizismus, seine Objektivität als Theorie beruht, ist in !
der 2. Auflage um Studien über das Verhältnis zwischen j
Kant und seinen spekulativen Nachfolgern wesentlich |

und glücklich erweitert worden. Die Bedeutung der
Antinomik und Aporetik auch für die Genesis der spekulativen
Philosophie wird scharf herausgearbeitet. Besonders
förderlich erscheint mir zunächst die neugewonnene
Einsicht in die Bedeutung des religiösen Faktors
für den Aufbau und den Sinngehalt des kantischen
Systems und seine Fortentwicklung. Die Erweiterung der
Funktion der Synthesis im Zusammenhang mit zunehmender
Konkretisierung der kritischen Erkenntnistheorie
im opus posthumum wird mit Recht als starke
Annäherung an den Standpunkt des spekulativen Idealismus
gedeutet. Um so bedeutungsvoller ist die klar ausgesprochene
Überzeugung von dem Unterschied zwischen
Kant und Hegel, der trotzdem bestehen bleibt. Für Kant
erhebt sich über allem methodischen Vernunftmonismus
der unverwischbare Gegensatz zwischen Sollen und Sein.
Hegel dagegen lehnt diesen Dualismus zwischen Sollen
und Sein ab. Liebert betrachtet beide Auffassungen als
aufeinander unablösbar bezogene Einstellungen zur konstruktiven
Gesamtfunktion der Vernunft, deren Dialektik
er nicht zu Gunsten des einen Denkers opfern möchte.
Sein Grundgedanke, daß das Bildungsgesetz des Kritizismus
zugleich dasjenige Gesetz sei, das die ganze nach-
kantische Spekulation ermöglicht und bedingt, mag gewiß
anfechtbar sein. Aber sein Versuch, von den historischen
Systemen aus das Prinzip der Möglichkeit der
Philosophie überhaupt zu begründen, ist auf alle Fälle
beachtenswert.

Bremen. Bruno Jordan.

Fichte, Johann Oottlieb: Über den Unterschied des Geistes
und des Buchstabens in der Philosophie. Drei akademische
Vorlesungen nach der Handschrift erstmalig herausgegeben von
Siegfried Berger. Leipzig: F. Meiner 1924. (IX.31S.) 8°. Gm. 1.60

S. Berger ist — s. meinen Hinweis ThLZ XLVI
(1921) S. 36 — um die Fichteforschung schon verdient
durch eine ausführliche Analyse der Hallischen
Handschrift der Jenenser Wissenschaftslehre. Jetzt gibt
er uns aus Fichte's Nachlaß drei Vorlesungen, welche
er als einem der beiden von Fichte S. S 1794 und
W. S. 1794/95 gehaltenen Publika de moribus erudi-
torum zugehörig erweist. Diese drei Vorlesungen haben
dann der von Fichte für die Hören unternommenen
Briefreihe über Geist und Buchstabe zugrunde gelegen
. Da die Briefreihe unvollendet blieb und durch
Voranstellung der ästhetischen Probleme den Zusammenhang
mit der Wissenschaftslehre etwas verwischt
hat, steht sie hinter ihnen weit zurück. In der Tat, man
lernt in B.'s Veröffentlichung etwas ganz einzig
Schönes kennen; nirgends enthüllt sich der Geist von
Fichtes Jenenser Philosophie so rein und so bis in die
letzten Tiefen wie hier. Wir haben nun eine Einführung
in Fichte und eine Erläuterung zur ersten Wissenschaftslehre
gewonnen, wie man sie sich besser nicht
wünschen könnte. Dazu kommt der hinreißende Eindruck
, den man von Fichte als akademischen Lehrer
gewinnt.

Zu B.s Einleitung kann ich eine Ergänzung geben. An die drei
Vorlesungen hat sich unmittelbar angeschlossen die von Hase im
yenaischen Fichtebüchlein 1856 S. 59 ff. gedruckte Schlußvorlcsung,
welche sich als noch zum Thema gehörig eng an die dritte Vorlesung
anschließt. Da diese Schlußvorlesung dem S.S. 1794 angehört
, so ist die zeitliche Fixierung unzweifelhaft (das W.S. 1794/95 ist
mit Sicherheit auszuschließen), und außerdem ist nun Fichtes
Kolleg vom S.S. 1794 fast vollständig rekonstruiert: Zwischen den
1794 gedruckten fünf Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten
, die den Anfang des vierstündigen Publikums bildeten,und den
vier Vorlesungen, welche seinen Schluß bildeten (den drei Berger's
und der einen Hase's) klafft nur eine geringe Lücke. —
Außerdem möchte ich vermuten, daß B. an einigen Stellen Fichtes
gewiß grauenhafte Handschrift verlesen hat; es muß dem Sinne gemäß
heißen: S. 15 Z. 26 denn statt dann; S. 17 Z. 2 aber statt
eben; S. 24 Z. 28 Vortrag statt Verlrag.

Die Veröffentlichung verdient einen aufrichtigen
Dank.

Göttingen. E. Hirsch.