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Ausgabe:

1924 Nr. 13

Spalte:

279-281

Autor/Hrsg.:

Blum, Oscar

Titel/Untertitel:

Russische Köpfe 1924

Rezensent:

Holl, Karl

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279

Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 13.

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wenn ich auf das Erscheinen des zweiten Bandes kurz hinweise
mit dem Bemerken, daß die für den ersten Band gegebene allgemeine
Charakteristik auch für den zweiten zutrifft.

Oöttingen. E. Hirsch.

Leo N. Tolstoj: Tagebuch. Autorisierte, vollst. Ausgabe von
Ludwig Berndl. 2 Bde. Jena: Eugen Diederichs 1923. (XII, 184
u. III, 204 S.) 8°. je Gm. 5—; geb. 0.50.

Lübeck, Dr. Konrad: Die russischen Missionen. Ein Überblick
. Aachen: Xaverius-Verlag 1922. (68 S.) 8°. = Abhandlungen
aus Missionskunde und Missionsgeschichte 33. Heft.

Korolenko, Wladimir: Der seltsame Mensch. Roman. Buchschmuck
von Karl Holtz. Berlin: Franz Schneider. (184 S.) kl. 8°.

geb. Gm. 3.50.

Blum, Oscar: Russische Köpfe. Kerenski Plechanow Kartow
Tschernov — Sawinkow-Rogschin — Lenin — Trotzki — Radek

— Lunatscharsky — Dzerschinsky — Tschitscherin — Sinowjew

— Kamenew. Mit 9 Porträtswiedergaben. 1.—3. Tausend. Berlin:
Franz Schneider 1923. (1 18 S.) 4°. geb. Gm. 7—

Von Tolstois Tagebüchern — sie beginnen 1847
und reichen, mit einer 13jährigen Unterbrechung während
seines ersten Eheglücks (1865—1878), bis drei
Tage vor seinen Tod —, sind einzelne Teile seit der
russischen Revolution auch in deutscher Sprache erschienen
: 1917 ein Stück (1895—1899) des Alterstagebuchs
, 1919 der Anfang des Jugendtagebuchs (1847
bis 1852); beides bei Georg Müller-München. Nunmehr
legt Eugen Diederichs zwei Bände einer neuen
Ausgabe vor. Der erste wiederholt den schon seit 1917
bekannten Ausschnitt des Alterstagebuchs; doch hat
Ludwig Berndl, von dem auch diesmal die Übersetzung
herstammt, seinen Text einer neuen Durchsicht unterzogen
, auch die Grundsätze bezüglich der Auswahl des
Stoffs sind etwas verändert. Die jetzige Ausgabe will
vollständig sein „in dem Sinn, daß kein einziger Gedanke
, kein einziges Wort Tolstois über sich selbst oder
über sein Leben fehlt". Dagegen ist kein Wert darauf gelegt
, „all und jedes, ein zufälliges Wort über einen zufälligen
Besuch oder über einen unwichtigen Brief oder über
eng-familiäre Vorkommnisse in die deutsche Ausgabe zu
übernehmen". Man kann das Letztere nur bedauern. Schon
die Angaben über die Besucher enthielten, so knapp sie
waren, doch manches lehrreiche Urteil; sie beleuchteten
zugleich das Steigen von Tolstois Namen und die Art
seiner Verehrer; vollends aber sind die Aufzeichnungen
über „eng - familäre Vorkommnisse" schlechthin unentbehrlich
, wenn man ein richtiges Bild von dem Verhältnis
Tolstois zu seiner Familie gewinnen soll. Jetzt
kommt die Einsamkeit, in der sich Tolstoi gerade seiner
nächsten Umgebung gegenüber befindet, vielleicht etwas
zu hart heraus. Näher auf den Inhalt dieses Bandes
einzugehen darf ich mir wohl ersparen; ich verweise dafür
auf mein Schriftchen „Tolstoi nach seinen Tagebüchern
" (Osteuropainstitut 1922), wo ich diesen Teil
zusammen mit dem Jugendtagebuch verwertet habe.

Dagegen bringt nun der zweite Band mit dem
Tagebuch von 1900—1903 etwas vollkommen Neues
und in mancher Hinsicht Überraschendes. Wenn man
von dem Tagebuch der Jahre 1895—1899 herkommt
und an das Ende im Jahr 1910 denkt, so erwartet man
hier eine verstärkte Spannung, eine schärfere Empfindung
des Widerspruchs, in dem sich sein Leben bewegte
. Aber das trifft merkwürdigerweise nicht zu.
Von dem peinlichen Gegensatz zwischen seiner Predigt
und seinem Dasein als Gutsherr ist in diesem Tagebuch,
so wie es gedruckt vorliegt, überhaupt nicht die Rede.
Auch in anderen Dingen erscheint seine Stimmung eher
milder. „Die Ehe ist selbstverständlich gut." Über die
Frauen spricht er immer noch verächtlich, aber doch
nicht mehr ganz in dem Ton, wie in den Jahren
1895—1899. Liegt das daran, daß Tolstoi in diesen
Jahren viel krank gewesen ist und nun stärker empfand,
was er an seiner Familie hatte? Man möchte das gerne
glauben, wenn nur nicht z. B. eine glücklich an seiner
Tochter vollzogene Operation ihm lediglich Anlaß gäbe,
über die Schädlichkeit der Errichtung von Kliniken und
die Verkehrtheit der Medizin Betrachtungen anzustellen.

— Im Mittelpunkt steht für ihn nach wie vor, auch
■ während der Krankheit, seine Schriftstellern. Er übt sie

jetzt in neuer Form: neben den Romanen schreibt er
Aufrufe, Kundgebungen an die Öffentlichkeit. Sie kosten
ihn die schwere Arbeit, während das Dichten für ihn
Erholung ist. Bezeichnend sagt er: (wenn er erst die
Schrift über die Religion und den Brief an Nikolai fertig
hat), „dann kann man sich bei einer dichterischen
Arbeit ausruhen". Es gibt einen Einblick in die Art seines
Schaffens, wenn man von ihm hört, wie er einmal
im Traum sich selbst als dichtend wahrnimmt und wie
dabei ganz bestimmte Gegenstände, scharf umrissene,
auch nachher in seiner Erinnerung haftende Bilder in ihm
emporsteigen. Im selben Sinn bezeugt der am Schluß
abgedruckte erste Entwurf von „Menschliches und Göttliches
" T.s unvergleichliche Gabe, ein Gedachtes sofort
in eine Folge lebendig geschauter Bilder zu verwandeln.

— Aber die Hauptsache war ihm auch bei den Ro-
manen der Gehalt. Tschechow, der ihm persönlich
; höchst angenehm war, tut er einmal kurz ab, daß er
; zwar wie Puschkin die Form vorwärts gebracht habe,
I „Inhalt ist, wie bei Puschkin, keiner da." Aber um nun

seinen Schriften den Gehalt, der ihm als der einzig echte
gilt, geben zu können, arbeitet er in der Stille unaufhörlich
an den letzten Fragen: was heißt eigentlich Leben?
was bedeutet Raum und Zeit? wieweit ist diese Welt
Wirklichkeit? Er möchte antworten: Leben ist Vorwärtsschieben
der Grenzen, Erweiterung des Ich zum
Bewußtsein des Ganzen, von dem das einzelne abge-

j sondert ist und zu dem es doch hinstrebt, es ist Inne-

| werden des Gottes in mir, der mich als sein dienendes
Glied haben möchte. Aber immer tauchen daneben
wieder die Bedenken auf: ist Gottesliebe eigentlich

; möglich? ist Nächstenliebe möglich? kann man sich zur
Liebe zwingen? und dazu die peinlichste Frage: glaubst
du eigentlich das alles wirklich, was du dir und anderen
vorträgst? Es ist ergreifend, wie Tolstoi sich immer

| aufs neue um eine ganz klare, ganz überzeugende Be-

j griffsbestimmung von Leben müht, aber schmerzlich
ist es zugleich wahrzunehmen: er kommt nicht weiter;
er ist am Ende dieses Tagebuchs noch genau auf demselben
Punkt, an dem er zu Anfang, an dem er schon
seit Jahren gestanden ist. Und wenn unser Tagebuch
aufs neue bestätigt, daß hinter all diesem Ringen der un-

| aufhörlich ihn beschäftigende Gedanke an den Tod
steht, so fällt auch auf dieses Tiefste durch eine gelegentliche
Bemerkung ein eigenartiges Licht. Zum

j 28. März 1901 schreibt er, es sei ihm völlig klar geworden
, „daß unsere ganze Rechtgläubigkeit ihren Ursprung
hat in der Angst". Unmittelbar darnach folgen
die Sätze: „Gestern abends, als ich allein war, stellte

j ich mir lebhaft den Tod vor: sah in den Tod hinein,

j oder vielmehr, ich stellte mir die ganze zu erwartende
Veränderung so deutlich vor wie noch nie, und mir war
wohl bange, aber zugleich auch wohl". Die Gedankenverbindung
, die ihn vom einen zum andern führt, ist

! verräterisch. Scheint darnach Tolstoi nicht selbst gefühlt
zu haben, daß das Urteil, das er über die Rechtgläubigkeit
fällt, am Ende auch seine eigene Frömmigkeit
treffen könnte? Hat sein scharfsichtigster
Beurteiler, Maxim Gorki, nicht Recht, wenn er von T.
meint, daß dieser wohl völlige Gelassenheit gegenüber
dem Tod zur Schau trage, in Wahrheit aber doch
immer von dem Grauen vor diesem Unheimlichen beherrscht
sei? T. räumt dies sogar selbst ein, wenn er
einmal beiläufig von seinem „zwiespältigen Verhalten
gegenüber der Erwartung des Todes" spricht.

Konrad Lübecks Schrift gibt einen knapp gefaßten
Überblick über die Missionstätigkeit der russischen
Kirche. Es ist nützlich, wenn die breite Öffentlichkeit
einmal darauf aufmerksam gemacht wird, daß
auch die russische Kirche, die an sich schon mit der
Christianisierung Rußlands ein gewaltiges Werk geleistet
hat, noch darüber hinaus in gar nicht geringem
Umfang Mission pflegt. Man würde freilich L.'s Büch-