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Ausgabe:

1924 Nr. 12

Spalte:

260-261

Autor/Hrsg.:

Oehler, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Taiping-Bewegung. Geschichte eines chinesisch-christlichen Gottesreichs 1924

Rezensent:

Richter, Julius

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259 Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 12. 260

keine Lust hatte, zum „Erzpriester von ganz Rußland"
ernannt worden. Aber die gleichzeitige Mitteilung der
Frankfurter Zeitung (Christi. Welt 1923, Sp. 62), daß
eine ultraradikale Linke über die Reformen, für welche
die „lebendige Kirche" eintritt, hinaustreibe, wird richtig
sein, obwohl sie nicht verrät, wie diese Gruppe sich
zu der (mit ihr wohl identischen) „freien Arbeitskirche"
verhält, von der C. v. Kü gel gen (Christi. Welt 1923,
Sp. 289 und 306) berichtet. — Andersartig nach Stoff
und Zuverlässigkeit ist, was Heft 4 der Orientalia Christiana
über die autonome „allukrainische orthodoxe Kirche"
erkennen läßt. Zwar sind die „Dokumente", die hier mitgeteilt
werden (amtliche und private Briefe, Resolutionen
einer das Konzil von Kiew vorbereitenden Versammlung,
Formulare für die Statuten einer Einzelgemeinde, für ein
Wahlprotokoll und für den Eid der Geistlichen, das Beglaubigungsschreiben
der nach Amerika Gesandten, biographische
Notizen über den Erzbischof Lipkivsky) z. T.
„Urkunden" nur im weiteren Sinne; die ukrainische
Kirche nennt sich auch, wie die Revolutionskirche Rußlands
, gleichfalls eine „lebendige" Kirche und ist mit der
gleichnamigen russischen Ursprungs- und wesensverwandt
: demokratisch wie sie, im Frieden mit der ukrainischen
Sowjetregierung und im Gegensatz zu der
„schwarzen" Geistlichkeit. Aber während die „lebendige
Kirche" Rußlands erst nachträglich, wie es scheint,
für russische Kirchensprache (an Stelle des Kirchensla-
visch) sich interessiert hat (Christi. Welt 1923, Sp. 664),
ist die kirchliche Bewegung in der Ukraine von Anfang
an zugleich eine nationale gewesen. Ukrainische Kirchensprache
war eine ihrer ersten Forderungen; im Volke
fehlt es ihr nicht an lebhaften Sympathien; „Gemeinden"
sind in großer Zahl entstanden; 20 Bischöfe hatte der
im Oktober 1923 bestellte und (da bischöfliche Ordination
nicht zu erlangen war) von den im allukrainischen
Konzil versammelten Vertretern des Kirchenvolkes durch
Handauflegung geweihte Erzbischof Lipkivsky schon vor
seinem Nr. 1 der Dokumente darstellenden Briefe vom
23. Juli 1922 geweiht; und schon damals begann die Bewegung
über das Gebiet der eigentlichen Ukraine in die
Gouvernements Charkow, Cherson und Jekaterinoslaw
hinüberzugreifen. — Das für die Anfänge des Christentums
in Rußland besonders bedeutsame Kiew ist die
Wiege der Bewegung gewesen. Ihr spiritus rector
war von Anfang an der jetzige Erzbischof Wassili Lipkivsky
(russisch: Lipkovski; geb. 1864), der, wie all
seine Bischöfe, aus der verheirateten niedern, sog.
„weißen" Geistlichkeit hervorgegangen ist. Er war schon
1905 ein Freund der Revolution und ist von der ihr
folgenden Reaktion wegen seiner demokratischen und
nationalistischen Gesinnung aus der Lehrerstellung an
der Klerikerschule in Kiew, die er seit 1903 innehatte,
hinausgedrängt worden. Als die zweite Revolution begann
, war er Priester in einer Vorstadt Kiews. Von Kiew
aus hat er schon 1917 in eifriger Werbetätigkeit für die
nationale kirchliche Selbständigkeit sich eingesetzt. Aber
die „schwarze" Geistlichkeit widerstrebte; und als es
dem Hetman gelungen war, dem revolutionären Drängen
militärisch und politisch einen Damm entgegenzusetzen,
endete das am 7. Januar 1918 unter großen Hoffnungen
der nationalistischen Freunde kirchlicher Freiheit zusammengetretene
Konzil in einer zweiten Sitzung, von
der die Freiheitsfreunde ausgeschlossen wurden, mit
einem Verbot der ukrainischen Kirchensprache. Erst
unter der Sowjet-Herrschaft, die am 22. Januar 1919
(S. 208; andre, wohl irrige, Daten S. 136 u. 142) die
Trennung der Kirche vom Staate nach französischem
Muster verfügte, vermochte die kirchliche Freiheitsbewegung
, die in einer Deck-Organisation, der Bruderschaft
„Cyrill und Methodius", ihr Leben gewahrt hatte,
erfolgreich sich geltend zu machen. Die zu Staatseigentum
erklärten Kirchen konnten Kultgemeinden, die nach
vorgeschriebener Form in den betreffenden Orten sich
bildeten, zum Gebrauch überwiesen werden. Seit Mai
1919 wurden nun mehrere Kirchen Kiews, auch die

Hauptkirche, von den Freiheitsfreunden für den ukrainischen
Gottesdienst gewonnen, zunächst mehr durch tatsächliche
Besitzergreifung, als auf rechtlichem Wege. Im.
September 1919 bildete sich dann auf Lipkivsky's Betrieb
aus Priestern und Laien eine kirchliche „allukrainische
Rada" (Rada = Rat, conseil, Sowjet), die es
in die Hand nahm, die Begründung ukrainischer Gemeinden
in der gesetzlich vorgeschriebenen Form anzuregen
. Aber die Wirren des Bürgerkriegs brachten einen
Stillstand. Die Erfolge der Reaktion in Kiew (Frühherbst
bis Ende Dezember 1919 war General Denekin
dort) und das sie ablösende Schreckensregiment der
Bolschewiki wirkten gleich störend; Lipkivsky floh nach
Kamienetz-Podolsk. Als die Bolschewiki Ende April
1920 aus Kiew gewichen waren, begann dann der Siegeszug
der nationalen kirchlichen Selbständigkeitsbewegung.
Auf die kirchlichen Zensuren antwortete die „allukrainische
Rada" am 5. Mai 1920 damit, daß sie Lipkivsky
und die ihm gleichgesinnten Priester aufforderte, in
ihren ukrainischen Gottesdiensten durch sie sich nicht
stören zu lassen. Das war die Geburtsstunde der kirchlichen
„Autokephalie". Damals bestanden in Kiew vier
ukrainische Gemeinden. Ihre Verbindung bezeichnete
den Anfang der „allukrainischen Parochien - Vereinigung
". Nach langen Vorbereitungen, u. a. durch einen
Kongreß von Parochialvertretern, dessen Beschlüsse in
Dokument VII, nur wenig gekürzt, vorliegen, hat dann
das „allukrainische Konzil" vom Oktober 1921 die
Werdezeit der „allukrainischen orthodoxen Kirche" abgeschlossen
. Auf diesem Konzile wurde Lipkivskiy zum
„Erzbischof" und zum „Metropoliten von Kiew und der
ganzen Ukraine" gewählt und am 23. Oktober ordiniert.
Am nächsten Tage weihte er dann 7 andre Bischöfe und
gleich nach Schluß des Konzils 5 weitere (S. 159). Wie
dann die junge „freie und lebendige" allukrainische
Kirche trotz aller Nöte der Zeit (die in einem Briefe
Lipkivsky's, S. 166, eindrucksvoll hervortreten) bis
Frühling 1923 erfolgreich Boden gewonnen hat, ist gelegentlich
schon oben gesagt. Ueber den Sommer 1923
führen die Dokumente nicht hinaus. — Daß seitdem die
nationalkirchliche ukrainische Bewegung trotz der feindseligen
Stimmung, die das „allrussische Konzil" vom
Mai 1923 ihr gegenüber gezeigt hat (S. 133), sich weiter
ausgebreitet hat, ist anzunehmen. Ihr nationaler Charakter
und die Popularität der Unabhängigkeit von Moskau
sind ihre Stärke. Doch ob die demokratische Selbstverwaltung
des Ganzen und der einzelnen Gemeinden
— jede hat ihre „Rada" — auf die Dauer mit dem „unerschütterlichen
Festhalten an den Grundlagen des orthodoxen
Glaubens" (S. 175) sich verträgt, muß erst die
Zukunft lehren. Der orthodoxe Glaube hat bisher die
Laien und die Popen zu kirchlicher und persönlichchristlicher
Selbständigkeit mit wenigen Ausnahmen
nicht erzogen. Und trotz Dostojewski muß man bezweifeln
, daß er künftig dazu imstande sein wird.
Halle a. S. • Fr. Loofs.

Oehler, Lic. Dr. Wilhelm: Die Taiping-Bewegung. Geschichte
eines chinesisch-christlichen Gottesreichs. Gütersloh: C. Bertelsmann
1923. (175 S.) 8°. >«s Beiträge z. Förderung christl. Theologie
28, 2. Gm. 5—
Über die ungemein bewegte und reiche chinesische
Missionsgeschichte liegen außer wertvollen Monographien
in den Geschichten einzelner Missionsgesellschaften
erst auffallend wenig eindringende Einzelbearbeitungen
vor, und dieser Mangel wird durch die von-
Jahr zu Jahr anschwellende Flut von volkstümlichen-
oder populärwissenschaftlichen Büchern nicht ersetzt.
Dr. Oehler hat eine Episode, die Taiping Rebellion
1850—64 bearbeitet, nicht um die einzelnen Szenen des
Aufstiegs und des Untergangs dieser interessanten Bewegung
darzustellen, sondern um das Urteil über sie zu
| revidieren. Bekanntlich ist die Bewegung hauptsächlich
i durch die Engländer unter der Führung des frommen
j Generals Gordon niedergeschlagen worden. Das hat