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Ausgabe:

1924 Nr. 12

Spalte:

244-247

Autor/Hrsg.:

Güntert, Hermann

Titel/Untertitel:

Der arische Weltkönig und Heiland 1924

Rezensent:

Clemen, Carl

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Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 12.

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wäre, dann hätte sich der naturalistische Charakter seiner
Glaubenslehre sofort offenbaren müssen. Ja — wenn ...!
Wenn Paulus und Johannes, wenn Origenes und Augustin
nicht „auch" Christen gewesen wären . . .!

Für die Einzelkritik muß ich mich hier auf zwei
Aufstellungen B.'s von übergreifender Wichtigkeit beschränken
. Die Religionstheorie Schleiermachers — und
zwar die der Glaubenslehre ebenso wie die der Reden —
bedeutet nach B. reinen Psychologismus, da sie als „Ge-
fühls"-Theorie das Wesen der Religion in eine einzelne
seelische Funktion verlege. In letzterer Hinsicht gehöre
Schleiermacher durchaus mit dem Rationalismus zusammen
. Diese These B.'s ist falsch. Sie stützt
sich auf das übliche psychologistische Mißverständnis
der Religionstheorie Schleiermachers. Für Schleiermacher
ist das „Gefühl" nicht eine einzelne seelische
Funktion, sondern es bezieht sich als „unmittelbares
Selbstbewußtsein" auf alle seelischen Funktionen und bedeutet
letzten Endes den Sinngehalt bestimmter Bewußtseinsregungen
oder Gemütszustände. Es ist also
eine gerade den Kern der Position Schleiermachers völlig
verkennende Behauptung, die B. beständig wiederholt,
Schleiermacher fasse die Religion ausschließlich von
ihrer subjektiven, funktionellen Seite ins Auge. Nein —
er setzt freilich bei dieser ein, aber zu dem Zweck, von
ihr aus den Objektgehalt der religiösen Überzeugung
zu erfassen und in seinem innerreligiösen Sinn
zu verstehen. Vollends versagt die schiefe und unzureichende
Auslegung B.'s dem „schlechthinigen Abhängigkeitsgefühl
" gegenüber. B. sieht in diesem Begriff
den feinsten, konzentriertesten Extrakt aus den verschiedensten
, kompliziertesten und widersprechendsten
Denkinhalten (S. 73). In Wirklichkeit ist er eine rein
religiöse Konzeption und bringt das religiöse
Grundverhältnis d. h. das Gott - Schöpfer —
Mensch-Kreatur-Verhältnis auf den schärfsten Ausdruck;
erst nachträglich wird der Begriff dann zu komplizierten
spekulativen Gedanken in Beziehung gesetzt.
Die für die neueste Schleiermacher-Forschung so bedeutsame
Doppel-Streitfrage, ob das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl
von sonstigen Abhängigkeitsgefühlen
nur quantitativ oder auch qualitativ verschieden sei und
ob es erst durch einen Rückschluß auf Gott führe,
oder ob es unmittelbar und wesensmäßig als Objektgehalt
die Beziehung auf Gott einschließe (vgl. meine
Auseinandersetzung mit Rud. Otto in dieser Zeitschrift,
1923, Nr. 1), existiert für B. überhaupt nicht.

An zweiter Stelle verweise ich auf B.'s Stellungnahme
zu dem berühmten § 15 der Glaubenslehre
(2. Aufl.), christliche Glaubenssätze seien Auffassungen
der christlich-frommen Gemütszustände in der Rede
dargestellt. Dieser Satz belegt nach B. auch für die gesamte
Durchführung der Glaubenslehre den prinzipiellen
Immanenz-Standpunkt des reinen Subjektivismus
oder Psych'ologismus. Das ist wieder eine vollständige
Verkennung des Schleiermacherschen Gedankens
. Schleiermacher sagt ja nicht etwa, die Dog-
matik habe sich darauf zu beschränken, die religiösen
Bewußtseinserscheinungen in ihrem psychischen Verlauf
zu beschreiben. Er spricht vielmehr ausdrücklich von
christlichen Glaubenssätzen. Daß aber christliche
Glaubenssätze notwendig einen Objektgehalt oder
objektiven Gegenpol haben, war natürlich auch für
Schleiermacher selbstverständlich, da ihm ja schon das
schlechthinige Abhängigkeitsgefühl als solches ein Beziehungsverhältnis
zu Gott bedeutet. Folglich bestimmt
jener § 15 die Aufgabe der Glaubenslehre dahin
, den Objektgehalt der christlich-frommen Gemütszustände
in seinem eigentlichen d. h. den spezifisch religiösen
und spezifisch christlichen Motiven entsprechenden
Sinn zu erfassen. Wenn B. demgegenüber allein das
„Wort" gelten lassen will, übersieht er, daß auch das
Wort der Schrift den Charakter als Glaubensüberzeugung
trägt. B.'s ganzes Unternehmen aber geht dahin
, den religionspsychologischen Zirkel zwischen der in

der Geschichte vorliegenden religiösen Überzeugung
(bezw. den Aussagen der h. Schrift) und der eigenen
religiösen Erfahrung zu überspringen bezw. auszuschalten
. Gelungen ist ihm dieser Versuch an
k e i n e m P u n k t. Es ist eben so, wie Luther sagt: Es
kann niemand Gott noch Gottes Wort recht verstehen,
er erfahr es, versuch's und empfind's denn. Genau in
dieser Linie des Lutherschen Glaubensverständnisses
liegt die Grundtendenz jener methodischen Anweisung
Schleiermachers. Es ist gewiß nötig, sie schärfer zu bestimmen
und sie dann einheitlicher durchzuführen, als
es bei Schleiermacher der Fall ist. Aber hinter sie zurückgehen
wollen, das führt allerdings zum Abbau,
nicht zum Aufbau theologisch-systematischer Arbeit.
B. selbst vermag sich im Schlußwort dieser Einsicht nicht
zu entziehen. Dies ehrliche Zugeständnis ist das erfreulichste
Ergebnis seines Buches.

Bezüglich der Arbeitsweise muß ich noch einen Umstand kurz
berühren. B. bezieht sich wiederholt auf den [. Band meiner Systematischen
Theologie nach religionspsychologischer Methode; den II.
Band aber, der doch gerade eine eingehende Behandlung des Schleiermacherschen
Religionsbegriffs gibt, erwähnt er nicht. Wie dieser
wegen seiner Doppclseitigkeit nach allen Grundsätzen wissenschaftlicher
Arbeit befremdende Sachverhalt zu verstehen ist, weiß ich nicht.
Daß aber durch die Darlegungen meines zweiten Bandes die für B.'s
Gesamtposition grundlegende Stellungnahme zu Schleiermachers Religionsbegriff
im Voraus widerlegt ist, meine ich mit gutem Recht behaupten
zu dürfen.

Ich fasse zusammen. B. hat das große Verdienst
, alle in 120 Jahren gegen die Theologie
Schleiermachers vorgebrachten Einwendungen zusammengefaßt
, verschärft und unter eine einheitliche Beleuchtung
gerückt zu haben. Aber er ist dabei in eine, um
seinen eigenen Lieblingsausdruck zu gebrauchen, „groteske
" Einseitigkeit der Beurteilung geraten.
Und vor allem: Das eigentlich Neue der theologischen
Position S c h 1 e i e r m a c h e r s hat
er gar nicht beachtet. Es ist ihm verborgen geblieben
, daß Schleiermachers religionspsychologischer
Ansatz die Aufgabe stellt, eine Sinndeutung des Objektgehaltes
der religiösen bezw. religiös-christlichen Überzeugung
in einer dem Glaubensstandpunkt der Reformation
entsprechenden, aber zugleich methodisch aufbauenden
und auch methodisch kontrollierbaren Weise
zu geben. '

B. hat inzwischen die Professur für systematische Theologie in
Zürich erhalten. Indem ich ihn in seinem neuen Amt begrüße, verbinde
ich mit dem aufrichtigsten Glückwunsch die Hoffnung, auch
ihm werde in der Fakultät Alexander Schweizers der Aufbau der
systematischen Arbeit wichtiger werden als der Abbau.

Göttingen. G. Wobbermin.

Güntert, Prof. Dr. Hermann: Der arische Weltkönig und
Heiland. Bedeutungsgeschichtliche Untersuchungen zur indoiranischen
Religionsgeschichte und Altertumskunde. Halle a. S.: Max
Niemeyer 1923. (X, 439 S.) gr. 8°. Gm. 14—; geb. 16—.

Wie Günterts früheres Werk „Kalypso", so behandelt
auch dieses zunächst Fragen der Bedeutungsgeschichte,
für die doch die meisten Leser dieser Zeitung kein Interesse
haben werden und über die namentlich auch ich
selbst kein fachmännisches Urteil besitze. Ich beschränke
mich also in meiner Besprechung auf die religionsgeschichtlichen
Folgerungen, die G. zieht, und
möchte gleich zu Anfang bemerken, daß mir die Art,
wie er mit den sprachlichen ideengeschichtliche Untersuchungen
zu verbinden versteht, ohne durch die bei
jenen unvermeidliche Trockenheit an poetischem
Schwung bei diesen einzubüßen, schlechthin bewundernswert
und vorbildlich erscheint.

G. geht von dem bekannten Vertrag des Königs der
Hethiter mit dem Herrscher der Mitanni aus, dessen
Götter er für arisch hält, und sucht nun auch weiterhin
zwar keine indogermanische Mythologie, aber doch
indogermanische Mythenelemente zu erschließen. So wird
zunächst Indra als der kraftvolle stets siegreiche Vorkämpfer
gegen die „einschließenden" Dämonen mit
Herakles und Thorr zusammengestellt, und schon daraus