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Ausgabe: | 1924 Nr. 11 |
Spalte: | 240 |
Autor/Hrsg.: | Widmann, Wilhelm |
Titel/Untertitel: | Die Orgel 1924 |
Rezensent: | Stuhlfauth, Georg |
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Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 11.
240
reichbare Ideal im „Unendlichen". Diesen Gegensatz
mit allen seinen Folgen entwickelt Str. in seiner gedankenreichen
und scharfprofilierten Darstellung nach
den verschiedensten Seiten. Wir können auf den Inhalt
an dieser Stelle nicht näher eingehen und müssen uns
begnügen, einige Punkte noch hervorzuheben, die für
unsre Leser von besonderm Werte sein dürften.
Obwohl es Str. um die Abgrenzung des Romantischen gegen das
Klassische und nicht gegen das i. e. S. Christliche zu tun ist, treten für
ein geschärftes Auge die Beziehungen und die Trennungen gerade in
seiner Darstellung greifbar deutlich hervor. Str. weiß sehr wohl, daß
die konkreten Verhältnisse seiner strengen Scheidung oft genug zu
widersprechen scheinen. Auch Schiller wendet sich von dem Leben
des Tages ab und sucht das Ideal mit einer Art von „Magie" im
Kunstwerk zu realisieren. Andererseits gibt es „realistische" Romantiker
genug, und auch bei den idealistischen bestehen große Unterschiede
zwischen den heidnisch-dionysischen und den christlich-asketischen
Geistern. Zu jenen rechnet Str. etwa Hölderlin (über dessen Roman-
tizismus sich freilich streiten ließe) und H. v. Kleist, zu diesen vor
allem Novalis. Geister wie Heinrich von Kleist halten sich straffer an
die gegebene Welt, aber auch ihnen ist sie doch schließlich nur eine
Verhüllung übergreifender, unendlicher, recht eigentlich göttlicher
Tendenzen. Kleist glaubt der Reihe nach in der Wissenschaft, in der
Kunst, in der Liebe und endlich in Vaterland und Staat das Absolute
zu ergreifen, das sich uns hüllenlos nicht offenbaren will. Andre
begnügen sich eben mit dem Streben ins Grenzenlose schlechthin, das
sich bald so, bald so, jedenfalls immer oberhalb der eigentlichen Erscheinungswelt
offenbart. Alle Romantik aber wagt das Leben daran,
um durch den Tod zum Unendlichen vorzudringen. Diese Jenseitigkejt
.zeigt die tiefe Verwandtschaft mit der religiösen Weltbetrachtung an,
ohne daß es zu einer eigentlich religiösen Willenshaltung käme. An
religiöse Demut erinnert die romantische Einstellung zum Menschen,
die in ihm nicht mehr das Maß aller Dinge, den Mittelpunkt der
Schöpfung sieht; aber es fehlt das Erlebnis des Göttlichen im Gewissen
, fehlt das Gefühl der Verantwortung für den unvergleichlichen
Wert der Menschenseele. Viel stärker als irgend ein Klassiker
es vermöchte, stellt die Romantik den Menschen in den Ablauf einer
unendlichen geschichtlichen Entwicklung hinein, aber von einer „Heilsgeschichte
" ist selbstverständlich keine Rede. Das Unendliche an sich
ist selbst für einen Schleiermacher Ansatz- und Angelpunkt des religiösen
Erlebnisses, im übrigen gehen Kunst und Wissenschaft, Philosophie
und Religion andauernd in einander über. Die „Sehnsucht nach
dem ganz Andern" herrscht hier wie dort, nur fragt es sich, wo für
den Betrachter das „ganz Andre" anfängt. Eingehender kommt Str. bei
seiner Besprechung der romantischen „Mystik" (S. 76 ff.) auf diese
Fragen zu sprechen. In der Liebe sieht der Romantiker die höchste
Analogie, in der Kunst die reinste Gestaltung seiner unendlichen Sehnsucht
. Wenn aber die „Liebe", die ins Grenzenlose und Unbedingte
weist, dem „Gesetz entgegengestellt" wird, dann offenbart sich alsbald
wieder der Widerspruch zur eigentlichen religio. Freilich
differenzieren sich nun die einzelnen Gestalten der deutschen Romantik
auch in ihrem Verhältnis zur Religion, viel stärker, als Str.s wesentlich
auf das eine polare Phänomen eingestellte Darstellung andeuten kann
und darf. Sein Buch will ja auch nicht zum Nachschlagen oder zur
Kennzeichnung einzelner Erscheinungen benutzt werden. Hier könnten
Darstellungen wie die von Hankamer (Z. Werner) oder von Liepe (Religionsproblem
im deutschen Drama) wesentliche Vertiefung bringen.
Strichs Ziel ist ein anderes. Richtig verstanden, macht uns sein Buch
zum Bürger /Weier Welten, die einander auszuschließen scheinen und
doch nicht bloß durch ihr zeitliches Nach-, ja Nebeneinander in der
Entwicklung des Deutschen Idealismus eng mit einander verbunden
Lebens- und Kunstgestaltung im fruchtbaren Wechselwirkungsverhältnis
sind. In Wahrheit stehen klassische und romantische Geisteshaltung,
lebendiger korrelativer Polarität zu einander. Damit dürfte der alte
unfruchtbare Streit, ob Klassik und Romantik Gegensätze oder
Glieder einer Einheit seien, endgültig entschieden sein. Und. jede
fernere Erörterung über ihr Verhältnis im ganzen oder auf einzelnen
Gebieten wird an Strichs Untersuchung wieder anknüpfen müssen. In
vielen Einzelheiten wird es dann vielleicht zu schärferen Scheidungen
und Betonungen kommen, die Erkenntnis des Grundverhältnisses dürfte
im wesentlichen als dauernder Gewinn bestehen bleiben.
Hamburg. Robert Petsch.
Vesper, Will: Der deutsche Psalter. Ein Jahrtausend geistlicher
Dichtung. Leipzig: H. Haesscl 1023. (424 S.) kl. 8°.
geb. Gm. 4 - .
Die schöne, reiche Sammlung deutscher religiöser
Dichtung- und Liedperlen vom Wessobrunner Gebet an
bis zu Conrad Ferd. Meyer und Nietzsches Gesang an den
unbekannten Gott ist m. W. zum ersten Mal erschienen
in den „Büchern der Kose" Nr. 20 (Verlag W. Lange-
wiesche-Brandt in Ebenhausen bei München, 1914). Keinerlei
Hinweis des Herausgebers deutet auf den Zu-
zusammenhang. Ein Vergleich lehrt aber, daß V., bekannt
als Dichter und fleißiger, feinsinniger Literat, mit seinem
erlesenen Gut noch einmal streng ins Gericht gegangen
ist und etwa anderthalb Dutzend Gedichte, u. a.
fünf von Martin Luther (als erstes „Erhalt uns, Herr, bei
deinem Wort und steur des Papsts und Türken Mord":
dies offenbar aus Rücksicht auf konfessionelle Bedenken;
dreizehn Lutherlieder [S. 102, 4 v. u. I. Mann st. Man]
sind geblieben), gestrichen hat. So gilt in erhöhtem
Maße von der Sammlung, was V. von ihr in dem jetzt
gleichfalls fortgelassenen Vorwort der Erstausgabe als
Hoffnung ausgesprochen hatte: „Bei der Einheitlichkeit
und Geschlossenheit, der gleichmäßig hohen Schönheit
seines Inhaltes wird das Buch selber wie Eine große
Dichtung wirken und in der ganzen deutschen Welt
auf freundlichste Aufnahme rechnen dürfen." Katholische
und protestantische Dichter sind gleicherweise berücksichtigt
. Aufgefallen ist mir eine vom Mittelalter
bis zur Neuzeit herauf durchgehende Pflege des — guten
—■ (katholischen) Marienliedes. Bemerkt sei, daß die
mittelalterlichen Dichtungen in gutes, den alten Charakter
trefflich wahrendes Neudeutsch übertragen sind.
Das Buch verdient wie kein anderes, ein „deutscher
Psalter" zu heißen und Katholiken wie Protestanten
ohne Unterschied mit dem ganzen Reichtum und der
ganzen Innerlichkeit des Besten vom Besten deutscher
religiöser Lyrik zu ergötzen und zu erbauen.
Berlin. Georg Stuhlfauth.
Mau, Pastor Johannes: In Jesu Schule. Zwanzig deutsch-amerikanische
Piedigten. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht 1623. (112 S.) 8".
Diese Predigtsaminlung bedeutet ein erfreuliches Echo auf unsre
neueren Predigtideale aus der Ferne. Sic atmet ganz den Geist der
Theologie, die einmal die moderne hieß: der geschichtliche Jesus,
das Reich Gottes, der Vater, die ethisch-soziale Note. Die Brauchbarkeit
dieser Theologie für eine praktische Lebenspredigt auch in
ländlichen Verhältnissen tritt hier noch einmal klar an den Tag. Dann
ist es die Rücksicht auf diese gegebenen Verhältnisse, die dem modernen
Zug entspricht. Vermöge der innigen Berührung mit der Gemeinde
, die der Prediger pflegt, sieht man tief in sie hinein: in Umrissen
tritt das ganze Farmerleben vor Augen, das er nach Jesu Willen
gestalten will. Dem entspricht auch die Form der Reden. Wie ganz
anders ist doch der Geschmack geworden 1 Statt der fleißig ausgearbeiteten
, schön stilisierten und gut eingeteilten Regclpredigt tritt hier
die lebendige Aussprache eines Menschen hervor, der mit allen Mitteln
wirken will. So kommt denn die Sprache urfrisch heraus, wie man
sie früher sicher nicht gedruckt hätte. Alles ist so natürlich und echt
volkstümlich, ohne gemacht zu sein. Und endlich: deutsch-amerikanisch
ist alles. Einmal redet er für seine neue Heimat; alles ist amerikanisch
empfunden, zumal auch der starke antikapitalistische Ton.
Aber die Seele gehört Deutschland, zumal in seiner jetzigen Not. Wie
wohl tut es, zu wissen, daß es noch solche Töne fern von der
deutschen Heimat gibt!
Marburg. F. Nieberga 11.
Widmann, Dr. Wilhelm: Die Orgel. Mit 63 Abbildungen auf
23 Tafeln. Kempten: J. Kösel u. Fr. Pustet 1923. (X, 177 S.) kl. 8°.
=-■ Sammlung Kösel 98.
Das Buch enthält nichts über das Außere der Orgel, ihr Gehäuse
oder ihren Prospekt, auch nichts über ihre Geschichte, um so mehr all
das, was der Fachmann von dem Organismus des heutigen Orgelwerkes
selbst und seiner Konstruktion wissen muß. Nach einleitenden
Bemerkungen über Begriff und Wesen der Orgel behandelt der erste
Abschnitt die Winderzeugung (6—23), der zweite das Regiewerk
(24—106), der dritte die Orgel als Tonkörper (107—136). Drei Anhänge
treten ergänzend hinzu: I. Orgeldispositionen (136—152: 57
Nummern); II. Entwurf eines Regulativs für die Prüfung von Kirchenorgeln
in Bayern (154—164); III. Das Harmonium (165—177). 23
lose beigefügte Tafeln mit 63 Werkzeichnungen veranschaulichen die
Ausführungen des gediegenen und lehrreichen Textes.
Berlin. Georg Stuhlfauth.
Die nächste Nummer der ThLZ erscheint am 14. Juni 1924.
Beiliegend Nr. 11 des Bibliographischen Beiblattes.
Verantwortlich: Prof. D. E. Hirsch in Göttingen, Nikolausberger Weg 31.
Verlag der J. C. H inrichs'schen Buchhandlung in Leipzig, Blumengasse 2. — Druckerei Bauer in Marburg.