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Ausgabe:

1924 Nr. 11

Spalte:

235-236

Autor/Hrsg.:

Rawlinson, A. E. J.

Titel/Untertitel:

Authority and Freedom 1924

Rezensent:

Goetz, Hermann

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235

Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 11.

236

Erlösungen", Worte, die wir als das Schlußbekenntnis
von Ernst Troeltsch betrachten dürfen.

Das gilt auch dem Christentum gegenüber: „Die
Stellung des Christentums unter den Weltreligionen"

--wie die Überschrift des vierten Vortrags heißt — —

berechtigt zu keiner Absolutsetzung des Christentums an
sich. Das Christentum ist unser Schicksal, es ist ein
Teil unsrer selbst, aber eine gültige Wertvergleichung
mit anderen Religionen könnte nur Gott vornehmen. Uns
bleibt nichts als in uns selbst zur Tiefe und Klarheit zu
dringen: und wir können hoffen, dabei auch der Tiefe
der anderen näher zu kommen, und damit der unsichtbaren
Einheit, die wir hinter aller Vielheit voraussetzen.

Die Unmöglichkeit, innerhalb der Geschichte selbst
zu dieser Einheit zu dringen, gilt nun auch für die
praktische Sphäre. In dem Schlußwort über Politik,
Patriotismus und Religion wird gegen die Utopie Front
gemacht und auf den Kompromiß als den Weg aller
innergeschichtlichen Verwirklichung verwiesen. In der
Scheidung des Politischen und Nationalen sieht Troeltsch
zwar ein Mittel, das über die gegenwärtige Herrschaft
der nationalen Machtkämpfe hinausführen kann. Aber
ein Kompromiß bleibt auch das: Im Endlichen gibt es
kein Unbedingtes: im Theoretischen nicht und im Praktischen
nicht und im Religiösen nicht. Die Überwindung
des Historismus ist die ihrer Bedingtheit, aber auch ihrer
jeweiligen Gefordertheit bewußte schöpferische Tat eines
Zeitalters.

Marburg. P» T i 11 i c h.

Rawl ins o n, A.E. J., B. D.: Authority and Freedom. The Bishop
Paddock Lectures for 1923. London: Longmans, Green and Co.
1924. (IX, 189 S.) 8». 7 sh 6 d.

Einer ehrenden Aufforderung folgend hat der Verfasser
, ein noch jüngerer Oxforder Theologe, eine Reihe
von Vorlesungen an dem Theologischen Hauptseminar
in New York über die Beziehungen zwischen Autorität
und Freiheit in der christlichen Theologie und im christlichen
Leben gehalten, die er nun in Buchform vorlegt.
Seine Ausführungen gipfeln in der Darlegung, daß eine
Synthese möglich und notwendig ist zwischen Autorität
und Freiheit, und ebenso zwischen katholischem und
evangelischem Christentum, die auf diesen Gegensatz
gestimmt sind. Rawlinson erweist sich als ein fein
durchgebildeter Theologe, bei dem vor allem seine
staunenswerte Vertrautheit mit den Werken deutscher
Theologie bis in die neuesten Erscheinungen hinein auffällt
. Sein Buch gliedert sich in 7 Kapitel, in denen er
handelt über Autorität und Freiheit in der Religion,
Autorität ohne Freiheit (römischer Katholizismus), die
Reaktion gegen die Autorität (Geschichte des Protestantismus
, in 2 Kapiteln), die Autorität der Offenbarung
(Die Natur der göttlichen Offenbarung und das Problem
der Beziehungen des Christentums zu andern Religionen
), sakramentale und institutionelle Religion, und:
evangelische Katholizität als das Ideal der Zukunft.

Für die Mehrzahl der Menschen ruht religiöser Glaube auf Autorität
, was wohl vereinbar ist mit wirklicher und lebendiger Religiosität
. Darum ist eine lehrende Kirche nötig. Aufgabe1 der Theologie
ist es, die religiöse Tradition beständig zu kritisieren und zu unsrer
gesamten Welterkenntnis in Beziehung zu setzen. Wirkliche Autorität
erfordert wirkliche Freiheit als die einzige Umgebung, in der sie
leben kann; volle kritische Freiheit ist wesentlich für wirkliche Autorität
. „Es ist kaum zu viel gesagt, daß in dieser Hinsicht die christliche
Kirche eine neue Tradition intellektueller Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit
begründen muß, bevor sie wieder einmal hoffen kann,
das Vertrauen der modernen Welt in ihre Fähigkeit als Lehrerin
geistlicher und religiöser Wahrheit zu gewinnen." Die Autorität der
Kirche, als Trägerin der Offenbarung, ist in erster Linie prophetisch.
Gleichwohl hat die Kirche kein Recht, für irgend eines ihrer Dogmen
absolute intellektuelle Ausschließlichkeit zu beanspruchen, denn die
Kirche formuliert ihr Dogma in den Ausdrücken der jedesmaligen
zeitgeschichtlichen Erkenntnisstufe. „Die Kirche mag kanonisieren,
aber sie darf nicht stereotypieren." Wirkliche Autorität ist untrennbar
von Freiheit.

Die mittelalterliche Zivilisation war eine Zivilisation der priester-
Jichen Autorität. Eine wirkliche Einigung der Christenheit ist jedoch

nicht denkbar ohne eine radikale Änderung der gegenwärtigen Ansprüche
der Kirche von Rom. Der fundamentale Anspruch aber, auf
dem die theologische Position der Kirche von Rom ruht, ist zufälligerweise
nicht wahr und kann geschichtlich nicht verteidigt werden.
Rom ist die große reaktionäre Autorität; es will nicht anregen und
führen, sondern herrschen!

Der Protestantismus ersetzt die menschliche Autorität durch die
göttliche der Bibel, entsprechend der Heilserfahrung Luthers. Vor
allem der Anspruch auf Gewissensfreiheit war es, der den alten konfessionellen
Protestantismus umbildete. Die Geschichte des Protestantismus
auf deutschem Boden bis in die Gegenwart hinein zeigt seine
Wandlungen bis hin zum Subjektivismus unsrer Tage. Seine Gottesdienste
sind zu sehr abhängig von der Persönlichkeit des Pfarrers;
sie sind vielfach überhaupt kein „Gottesdienst" mehr. Als Religion
betrachtet, kann man den modernen Protestantismus für totkrank ansehen
. Was die Offenbarung betrifft, so war es ein Fehler, daß man
sie als Information faßte. Das Christentum ist der Höhepunkt aller
göttlichen Selbstoffenbarung. Es steht und fällt mit der Menschwerdung
, als dem Suchen Gottes nach dem Menschen.

„Die Katholisierung des Christentums begann unmittelbar nach
Jesu Tod" [Heiler]; das Christentum des neuen Testaments als
Ganzes genommen ist schon katholisch. Sakramentale und institutionelle
Religion sind ein normales Mittel zur Stärkung der Liebe zu
Gott und zum Nächsten. Die Gläubigen sollen daher die Kraft
empfangen und die geistige Fähigkeit, in einem gewissen Grad ihre
eignen Leiber zu brechen und ihr Leben zu geben in den Dienst ihrer
Rrüder, entsprechend dem Geist des geschichtlichen Jesus. Das
höchste Ziel der geschichtlichen Entwicklung der christlichen Religion
ist eine „evangelische Katholizität", nicht im Sinne einer Hinneigung
nach Rom, denn „Rom ist nicht katholisch" (Heiler), sondern
als Universalität und Allumspannung auf dem alleinigen Grunde des
Evangeliums Christi. Der Anglikanismus, der Katholisches und Evangelisches
in sich befaßt, ist für eine solche in ferner Zukunft erhoffte
Vereinigung der Kirchen der gegebene Vermittler. Sie selbst ist im
letzten Grunde nicht Menschen-, sondern Gotteswerk.

Dortmund. H. G o e t z.

Zur deutschen Romantik.

Zweiter Bericht.

T u m a r k i n , Prof. Dr. Anna: Die romantische Weltanschauung.
Bern: Paul Haupt 1920. (III, 147 S.) gr. 8". Qm. 5-,

Deutschbein, Prof. Max: Das Wesen des Romantischen.
Leipzig: Quelle & Meyer 1921. (VII, 120 S.) 8°. Gm. 4.20.

Strich, Fritz: Deutsche Klassik u. Romantik oder Vollendung
und Unendlichkeit. Ein Vergleich. München: Meyer 67 Jessen
1922. (255 S.) gr. 8". Gm. 6 ; geb. 8 .

Wenn die Schriften, die wir in unserm ersten Berichte
zusammenfaßten, durchaus geschichtlich eingestellt
waren, so sind die drei vorliegenden Versuche zur
Erklärung des romantischen Problems mehr oder weniger
phänomenologisch gerichtet. Der Betrachter ist
hier in einer problematischen Lage: auf der einen Seite
kann er dem „Wesen" der Romantik die eben viel mehr
als eine vorübergehende historische Tatsache ist, nämlich
eine ewige mögliche und von Zeit zu Zeit verwirklichte
Einstellung des Menschengeistes, nur auf Grund
seiner inneren Verwandtschaft mit den Trägern der
großen romantischen Bewegungen in der Geschichte gerecht
werden; er wird diese eben nur „verstehen", wenn
oder insofern er selbst Romantiker ist; wer das in so
geringem Maße ist wie R. Haym, dem wird sich hier
das letzte Geheimnis nicht erschließen. Auf der andern
Seite aber bedarf der Forscher einer Stellung oberhalb
des Gegenstandes, einer Ablösung des Erlebnisses von
seiner Person. Er wird also seiner Aufgabe nach der
wissenschaftlichen Seite umso besser gerecht werden,
je weiter er sich von jener romantischen Einstellung
entfernen kann, je mehr er sie, an der Betrachtung ihrer
geschichtlichen Erscheinungen, in sich selbst überwindet.1
Diese Zweiheit von Liebe und Kritik aber, wo sie
lebendig sich äußert, zeugt von jener inneren Polarität,
ohne die wir schließlich keiner großen Lebenserscheinung
gegenüber auskommen können. Freilich ist die
Art, wie sich der wissenschaftliche Geist im einzelnen
mit dem romantischen Problem auseinandersetzt, wieder
so tief in der Persönlichkeit seines Trägers verwurzelt
, daß von einer objektiven Allgemeingültigkeit

1) Ober frühere Darstellungen dieser Art vergl. Glockner, Zeitschrift
für Aesthetik, Öd. 17, S. 84 ff.