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Ausgabe:

1924 Nr. 10

Spalte:

214-216

Autor/Hrsg.:

Eger, Karl

Titel/Untertitel:

Evangelische Jugendlehre. 3. Aufl 1924

Rezensent:

Bornemann, Wilhelm

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213

Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 10.

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I. „Die empiristische H unianitätsethik." Diese kann,
wenn sie anders konsequent bleibt, keinesfalls allgemein verpflichtende
Normen aufstellen. Das zeigt sich beispielsweise schon an der Wohlfahrtsethik
Höffdings: sie „steckt voller Widersprüche", weil sie
sich — obgleich sie das nicht Wort haben will — auf einen, ihr allerdings
unbewußten, Glauben stützt. Dasselbe gilt mutatis mutandis
für Friedrich Paulsens „System der Ethik". Auch W.
Wundts „Evolutionsethik" würde die Aufgabe der Ethik in voll befriedigender
Weise doch nur dann lösen, wenn sie den „absoluten Gesamtwillen
", in dem sie die sittlichen Normen letztlich gründen läßt,
mit einem „transzendenten" Schöpferwillen identifizierte; dann aber
würde sie „offen als religiöse oder theologische Ethik auftreten", und
ihr Charakter als „Humanitätsethik auf empirischer Grundlage" wäre
aufgehoben. Bentbams Ethik ist ihrerseits als eine kraß eudämo-
nistische völlig unzureichend. Was aber John Stuart Mill, Herbert
Spencer, Jean Marie Guyau und F. Nietzsche betrifft
, so ist vor allem daran zu erinnern, daß aus dem, was ist, war,
oder sein kann, sich niemals ohne weiteres erschließen läßt, was
sein soll. _ II. Kants Vernunftethik. Diese kommt gleichfalls
so ohne weiteres nicht zum Ziel. Aus einer sorgfältigen Analyse
der einschlägigen Schriften Kants ergibt sich, daß dessen „Vernunftethik
" im Grunde eine religiös geartete Ethik ist und das Sittengesetz
auf einer transzendenten Basis beruhen läßt; sie kann die innere Verwandtschaft
mit einer „theologischen" Ethik nicht verleugnen, ungeachtet
des Umstands, daß die religiösen Ideen bloß für nachträgliche
ethische Postulate sich ausgeben. — III. Der prinzipielle
ethische Subjektivismus. Unter diesem Titel wird die Auffassung
besprochen, nach der die Ethik weiter nichts zu leisten habe
als die nun einmal im Bewußtsein der Menschheit vorkommenden verschiedenen
sittlichen Normen darzustellen, ohne daß sich damit die
Aufgabe verbände deren Gültigkeit darzutun oder gar überhaupt allgemein
geltende Normen aufzustellen. Unter besonderm Hinweis auf
Edvard Westcrmarck und Axel Hägerström führt der
Verfasser aus, daß eine derartige Ethik überhaupt keine Ethik mehr
wäre und mit dem, was man sonst unter dieser Disziplin versteht, nur
noch den gemißbrauchten Namen gemein hätte. — IV. Die E t b i k
der transzendenten Wertsphäre. Hier kommen W. Winde
Iba nd und H. Ricke rt zur Sprache. Es zeigt sich dabei, daß
die Ethik des ersteren nicht auskommt ohne abermals einen Glauben
, den Glauben nämlich an die „allgemeingültigen Zwecke" mit zu
Rate zu ziehen, und daß daher Windelband je länger je mehr zur Begründung
der Moral mittels metaphysischen Denkens auf eine „transzendente
Wirklichkeit" zurückgegriffen hat. Was endlich Rickert betrifft
, so gibt dieser zwar zu, daß eine Ethik sich nicht aufstellen
lasse ohne die Annahme transzendenter geltender Werte, bestreitet
jedoch, daß solchen Werten „Wirklichkeit" zukomme, und damit zugleich
die Möglichkeit einer transzendenten „Wertrealität" wie einer
„transzendenten Wirklichkeit" überhaupt. Demgegenüber legt der Verfasser
dar, daß die Vorstellung von transzendenten Werten, die nicht
irgendwie in einer „transzendenten Wirklichkeit" oder „Oberwirklichkeit
" verankert wären, ein Unding, eine contradictio in adjecto sei.
Und eben daraus ergibt sich noch einmal, daß die Ethik nicht sein
kann ohne die Voraussetzung einer transzendenten Wirklichkeit, das
heißt, nicht ohne religiösen Glauben. —

V. Der Transzendenzanspruch der Religion. Ohne
Glauben an eine transzendente Wirklichkeit, also ohne Religion ist
Ethik nicht möglich: damit schließt das vorhergehende Kapitel. Ist
nun aber die Religion und insbesondere die christliche in der Tat ein
solcher Olaube an ein Transzendentes? Diese Frage wird beantwortet
an der Hand einer Widerlegung der entgegenstehenden Religionsauffassung
H. Cohens, Natorps, Simmcls. Der erstere
leugnet den „Transzendenzanspruch" der Religion. Das erklärt sich
aber daraus, daß sein Religionsbcgriff ein apriori konstruierter ist, nicht
ein solcher, wie er sich aus einer objektiven Betrachtung der Religion
ergibt, sondern, wie er durch die Cohensche Erkenntnistheorie gefordert
ist. Auch Natorp, der die Religion als „unendliches Gefühl" kennzeichnet
, bestreitet deren Transzendenzanspruch, vielleicht noch mit
größerer Entschiedenheit als Cohen. Aber der Religionsbegriff, den
er aufstellt, ist ebenfalls eine bloße Konstruktion; und wenn Natorp
an Schleiermacher anknüpft, so geschieht das so, daß er diesen mißversteht
und mißdeutet; denn das „schlechthinige Abhängigkeitsgefühl"
stellt sich in der Glaubenslehre des großen Theologen wohl als ein Subjektives
dar; aber dies Subjektive ist Reflex, Wirkung und Erkenntnisgrund
einer transzendenten Realität. Verhältnismäßig am schwierigsten
gestaltet sich die an Simmel geübte Kritik, weil, sobald man sämtliche
Publikationen des beweglichen Philosophen berücksichtigt, sich leicht
eine gewisse Unsicherheit und Unklarheit herausstellt. Mit Hilfe einer
peinlich genauen Untersuchung gelangt indessen der Verfasser zu der,
mit Recht, vorsichtig formulierten These: „Simmel leugnet zwar nicht
die Berechtigung des Transzendenzanspruchs der Religion, aber nichts
destowenigergelangt er dahin ihn sachlich zu negieren, weil es von dem
von ihm gewählten Ausgangspunkt aus nicht möglich ist das Transzendente
zu erreichen." Eine Position, die wiederum unhaltbar ist. —
VI. Die positive Bestimmung des religiösen Transzendenzgedankens
. Ist durch die Ausführungen von Kapitel V
gleichsam apagogisch erhärtet, daß die Religion in der Tat den Olaubeu
an eine transzendente Wirklichkeit in sich schließt, so ist diese transzendente
Wirklichkeit genauer zu bestimmen als Gott, das heißt, als
die „absolute Wertpersönlichkeit", zu der die menschlichen Subjekte
in absoluter Abhängigkeit stehen, und in deren Wesensgesetz sie die
Norm für ihr Handeln zu suchen haben. Es leuchtet von selbst ein,
daß sich durch den Hinweis auf Gott, auf eine „absolute Wertpersönlichkeit
" die absolute Verpflichtung des Sittengesetzes begründen
läßt. Fragt sich bloß, ob eine so begründete Ethik noch Ethik
im vollen Sinne des Worts genannt werden kann. Das führt zu einem
neuen Kapitel. — VII. Theonom ie und Autonomie, Transzendenz
und Immanenz. Wenn, als eine wahre Ethik, die christliche
Ethik, weil auf den Willen Gottes gegründet, „theonom" ist, verbleibt
ihr dann zugleich auch das Merkmal der „Autonomie", wie es
von der heutigen Moralphilosophie für sie gefordert wird? Bei der
Besprechung dieses Problems setzt sich der Autor lang und breit auseinander
mit Arthur Drews, weiter mit H. H. Wendt und
H. Rosen, nebenbei auch mit Stange, Ihmels und dem Unterzeichneten
. Die Lösung, die er darbietet, läßt sich in, hoffentlich nicht
mißverständlicher, Kürze folgendermaßen zusammenfassen: Die christliche
Ethik, obwohl theonom, bleibt autonom, sofern der Christ sich
im Glauben bewußt ist, frei seinem „eigenen Wesensgesetz" zu gehorchen
, indem er den Willen Gottes erfüllt. Eine Lösung, die gewiß
keine verfehlte ist, die ich aber nach wie vor etwas anders formulieren
möchte. Ich gehe jedoch bei der relativen Geringfügigkeit der Angelegenheit
im Zusammenhang des Ganzen auf das Thema hier nicht
weiter ein, zumal ich hoffe an anderer Stelle darauf zurückkommen zu
können. — VIII. Die W a h r h e i t s f r ag e der Religion. Da
eine normative Ethik nur als eine „religiös bestimmte Ethik" möglich
ist, so gewinnt die „Wahrheitsfrage der Religion" eine „entscheidende
Bedeutung". Dieser Frage wendet sich der Verfasser in einem Schlußkapitel
zu. Er lehnt die mit dem Begriff eines „religiösen Apriori"
operierende, vieldeutige Apologetik Troeltschs ab, ebenso diejenige
Stanges und nennt als das allein wirklich brauchbare Argument
den Hinweis auf die göttliche Offenbarung in Christus, die freilich
als solche nur erfaßt und verstanden werden kann auf Grund einer
entsprechenden inneren Stellungnahme des von ihr berührten Menschen
So bleibt, wie noch ausführlicher dargelegt wird, die Gewißheit von
der Wahrheit der Religion doch in letzter Instanz eine Glaubenssachc,
ein „Denkwagnis". Sollte jedoch der in dem Buch geführte Beweis
für einen notwendigen Zusammenhang zwischen Religion und Ethik
geglückt sein, so wäre damit nach dem Urteil des Autors immerhin
eine gewisse Erkenntnis von „der Unentbehrlichkeit des christlichen
Gottesglaubens als Lebenswert" nahe gelegt. Und solche
Einsicht „muß für jeden ernsthaften Menschen bedeuten, daß er
wenigstens die Frage nach der Wahrheit der Religion als eine Lebensfrage
der Menschheit und ein unumgängliches Problem anerkennt".

Wie man auch über den Wert der im letzten Kapitel
angewandten apologetischen Methode denken möge,
die Grundthese, der die Arbeit des ganzen Werks gilt,
daß nämlich unbedingt verpflichtende Normen sich nur
mittels eines religiösen Glaubens begründen lassen, ist
in hohem Maße beachtenswert. Sie ist ja durchaus nicht
neu, ist schon von anderen, auch von dem Unterzeichneten
aufgestellt und im gleichen Sinne wie von
T. Bohlin erörtert worden. Sie ist indessen noch immer
vielfach bestritten und bedarf noch immer neuer Beleuchtung
und Stützung. Der sachkundigen, umsichtigen
und kritisch besonnenen Art, wie der Autor verfährt,
kann aber im großen und ganzen nur rückhaltlos zugestimmt
werden selbst von demjenigen, der stellenweise
eine andere Beweisführung und Argumentation vorzöge.
Das Buch ist unter allen Umständen ein prächtig gediegenes
, lesenswertes und lehrreiches Buch.

Leider fehlt es nicht an einer Anzahl von Übersetzungs- oder
Druckfehlern. Um jedoch nicht dem Schein des „Krokylegmus" zu verfallen
, wie Lessing zu sagen pflegte, möchte ich darauf verzichten,
das an einzelnen Beispielen zu veranschaulichen. Dem sachlichen
Wert und selbst der praktischen Brauchbarkeit des Ganzen wird ja
dadurch ohnehin kein Abbruch getan.

Oießen. e. w Mayer (Straßburg).

Eger, Prof. D. Karl: Evangelische Jugendlehre. Ein Hilfsbuch
zur religiösen Jugendunterweisung nach Luthers Kleinem Katechismus
(1. und 2. Hauptstück). 3. Aufl. Erster Teil: Das 1. Hauptstück
, Die 10Gebote. Zweiter Teil: Das 2. Hauptstück, Der Glaube.
Gießen: Alfred Töpelmann 1922. (159 S.) 8°. Ora. 3.60; geb. 4.40.

Dies Werk, 1907 zum ersten, 1912 zum zweiten
Male erschienen, hat trotz aller Schwierigkeiten der
Zeit 1922 eine dritte Auflage erlebt. Leider ist zur Zeit