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Ausgabe:

1924 Nr. 9

Spalte:

189-190

Autor/Hrsg.:

Tumarkin, Anna

Titel/Untertitel:

Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Psychologie 1924

Rezensent:

Titius, Arthur

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189

Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 9.

190

G r a b i n s k i, Bruno : Wunder, Stigmatisation und Besessenheit

in der Ocacnwart. Eine kritische Untersuchung. Mit 55 photographischen
Original-Aufnahmen. Hildesheim: Franz Borgmcycr
1923. (348 S.) kl. 8°. Gm. 5 -; geb. 6.50.

Kommt man von Guardini oder den katholischen
Tatheften zu diesem Buche, so hat man einen drastischen
Eindruck der inneren Gegensätze, die im heutigen Katholizismus
walten. Nach einer sehr äußerlichen Verteidigung
des entsprechend äußerlich aufgefaßten Wunders
werden folgende Gruppen wunderhafter, meist auch
von Heilungen begleiteter Ereignisse geschildert: die bekannten
Wunder von Lourdes, das Blutwunder des big.
Januarius (Wiederflüssigwerden des in einem Fläschchen
aufbewahrten Märtyrerblutes), das Dornenwunder von
Andria (Blutrotwerden eines Doms der Dornenkrone),
die Blutwunder von Mirebeau und Aachen (vor allem
blutende Christusbilder), das Wunder von Limpias (Bewegungen
einer hölzernen Christusfigur), Stigmatisationen
und Besessenheitsfälle aus neuerer Zeit (darunter
auch der von Illfurt i. E., der 1923, S. 448 f. hier erwähnt
wurde). Das Material wird in aller Fülle ausgebreitet
: Berichte von Beteiligten und Augenzeugen, Ergebnisse
der Blutuntersuchungen, Photographien u. a.,
natürlich mit Ausfällen gegen den „Unglauben". Nach
der Meinung von H. ist all das wichtig als Beweis der
jenseitigen Welt und ihrer steten Eingriffe in unsere
Erdenwelt, d. h. als Hilfe des Glaubens. Uns dagegen
ist es, da in den meisten Fällen Betrug und einfache
Selbsttäuschung ausgeschlossen scheint, wichtig als kräftiger
Hinweis auf „okkulte" Zusammenhänge, die allzulange
übersehen oder mit Achselzucken abgetan wurden
und doch einer gründlichen Erforschung bedürfen. Lehrreich
ist es auch für die katholische Art, solche Vorgänge
nicht nur mit der transzendenten Welt überhaupt, sondern
sogar mit der Gnade Gottes in Verbindung zu
bringen. Gerade hier zeigt es sich wieder, wie der katholische
Gottes- und Gnadenbegriff im Bann der natur-
haften Vorstellung bleibt und dadurch die innere Aufmerksamkeit
von der wirklichen Religion auf (an sich gewiß
interessante) Weltanschauungsfragen ablenken, ja
das innere Gotteswirken durch Wundersucht trüben hilft.
Was religiös dabei herauskommt, wird z. B. S. 219f. klar:
ein Kranker bittet Gott um Heilung durch ein aufgelegtes
Bild des „Christus von Limpias", indem er ihn mahnend
auf seine durch 40 Jahre fortgesetzte tägliche Betrachtung
der Wunden und sein tägliches Gebet eines „Psalters
von 15 Gesetzen" verweist — er wird nicht nur
binnen wenig Minuten geheilt, sondern auch als ein
Mann „von festem, katholischen Glauben" gepriesen!
Religiös ist in dem ganzen Buche nur die (katholische)
Kritik an solchem Wundertreiben, die G. gelegentlich,
obschon mit einigem Entsetzen, abdruckt.
Halle».d.S. Horst Stephan.

Tumarkin, Prof. Anna: Prolegomena zu einer wissenschaftlichen
Psychologie. Leipzig: Felix Meiner 1923. (VIII, 166 S.)
8° = Wissen und Forschen, Bd. 15. Gz. 3—; geb. 5—,

In fesselnder Darstellung untersucht T u m a r k i n
das Problem, wie Psychologie, im Sinne Diltheys aufgefaßt
, als Wissenschaft möglich sei. D. hat Recht mit
seiner Ablehnung der naturwissenschaftlich orientierten
Vorstellungspsychologie, die eine Vergegenständlichung
des Erlebens anstatt des Erlebens darstellt, er hat auch
bereits auf den Strukturz.usammenhang des Seelischen
hingewiesen und die Einfühlung in diesen mit Virtuosität
gehandhabt. Aber eine sichere Methode objektiven Ver-
stehens hat er nicht zu lehren vermocht. Denn das durch
Einfühlung gebotene Material bleibt hypothetisch; die
bewußte Auswahl muß durch ein objektives Prinzip geleitet
sein; als solches bietet sich ungesucht die Idee der
einheitlichen Persönlichkeit, die für sich selbst Sinn hat,
einen Zweckzusammenhang bildet; die individuellen
Zweckzusammenhänge sind als Modalitäten der objektiven
Einheit geistiger Aufgaben zu erfassen; die Kulturwissenschaften
sind demnach Voraussetzungen der
wissenschaftlichen Psychologie, nicht umgekehrt (außer
sofern die Historie auch Subjektivität zu erfassen hat).
An Stelle der kausalen Erklärung hat das Verstehen aus
Zielen, an Stelle der biologisch-genetischen Betrachtungsweise
eine an objektiven Zielen orientierte zu treten, für
welche nicht passive Zustände, sondern auf Erfüllung
von Aufgaben gerichtete Funktionen den Gegenstand der
Untersuchung bilden. Allerdings sind der rationalen Forschung
durch die Irrationalität des Psychischen bestimmte
Grenzen gesteckt. Die Idee des Unbewußten als
methodischer Hilfsbegriff gefaßt, markiert die Grenze,
indem er prinzipiell die Möglichkeit rationaler Erfassung
des Genialen als über das gewöhnliche Maß gesteigerter
Zielstrebigkeit und Zielsicherheit vorbehält oder seelische
Anomalien aus der Verdrängung gewisser Zwecke
ins Unbewußte versteht. Aber mit der Anwendung des
Begriffs auf den Einzelfall sind die Grenzen der wissenschaftlichen
Psychologie bereits überschritten, weil es
eine eindeutige, also notwendige Zuordnung der individuellen
Lebensäußerung zu einem allgemein verständlichen
Zweckzusammenhang nicht gibt. Hier bleibt nur der
Rekurs auf die künstlerische Intuiton. Dies der Grundgedanke
der wertvollen Untersuchung, die auch im Einzelnen
viel Erwägenswertes bietet. Noch überzeugender
würden die Ausführungen wirken, wenn die Auseinandersetzung
mit der biologisch - genetisch - kausalen
Psychologie bis zu dem Punkte durchgeführt wäre, wo
das Recht und die Notwendigkeit, aber damit zugleich
die Begrenzung ihrer Methoden als integrierender Bestandteil
der verstehenden Psychologie aufgewiesen wird.
Dieser Punkt muß sich finden lassen, denn an dem relativen
Rechte jener Methoden zweifelt auch T. nicht.
Besser als von Zweckzusammenhängen des Psychischen
würde übrigens von Wertzusammenhängen geredet, denn
im Unterschiede vom Werte bezeichnet der Zweck etwas
Sekundäres.

Berlin. Titius.

Müller-Freienfels, Richard: Persönlichkeit und Weltanschauung
. Die psychologischen Grundtypen in Religion, Kunst
und Philosophie. 2., stark veränderte Aufl. Mit 4 Abbildgn. im
Text und 5 auf Tafeln. Leipzig: B. O. Teubner 1923. (XII, 284 S.)
Kr- 8°. Gm. 6—; geb. 7.60.

Dies Buch ist einer doppelseitigen Beurteilung zu
unterstellen: einer anerkennenden und empfehlenden im
Hinblick auf die mannigfachen Anregungen, die es bietet
, einer ablehnenden und warnenden im Hinblick auf
die übergreifende Denkweise und die prinzipielle Gesamt-
auffassung.

Der Verfasser will die Weltanschauungslehre
„psychologisch" nicht nur befruchten, sondern funda-
mentieren. Er will sie auf empirische Psychologie und
zwar speziell auf die sog. differentielle Psychologie
gründen. Er will nachweisen, daß die aus Kunst, Religion
und Philosophie erwachsenden Weltanschauungen
jeweilig durch die subjektive Eigenart der betreffenden
Persönlichkeiten bedingt sind. Und er will
demgemäß die wichtigsten psychologischen Typen
menschlichen Personlebens aufzeigen, um jedem
dieser Typen die ihm entsprechende Weltan-
s c ha u u n g zuzuweisen und um so zugleich den Einzelnen
, die im Kampf um die Weltanschauung stehen,
praktisch zu ermöglichen, diejenige Weltanschauung zu
finden, die die ihrem Wesen gemäßeste ist. Den Gesamt-
standpunkt, der sich von hier aus für die Weltanschauungsfrage
ergibt, bezeichnet der Verf. selbst als psychologischen
Relativismus.

In seiner Typenlehre unterscheidet M. zunächst zwei
Hauptgruppen: die Typen des „emotionalen" Lebens und
die Typen des „geistigen" Lebens. Daß diese Terminologie
mindestens mißverständlich ist, liegt auf der Hand
und wäre durch den Hinweis auf Heinr. Maiers „Psychologie
des emotionalen Denkens" mit ihrer Unterschei-