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Ausgabe:

1924 Nr. 9

Spalte:

187-188

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Karl Hermann

Titel/Untertitel:

Die okkulten Phänomene im Lichte der Wissenschaft 1924

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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187

Theologische Literaturzeitung 1924 Nr. 9.

188

hunderts nichts mehr als ein mit jeder politischen Gestaltung
verträgliches Formalprinzip ohne sachlichen Belang
übrig geblieben sein wird.
Göttingen. E. Hirsch.

Schmidt, Dr. Karl Hermann. Die okkulten Phänomene im
Lichte der Wissenschaft. Grundzüge einer Magiologie. Mit
14 Figuren. Berlin: W. de Gruyter & Co. 1923. (135 S.) 16". ==
Sammlung Göschen 872. Gz. 1,10.

Okkultismus und kein Ende! Die Theologische
Literaturzeitung hat neuerdings wiederholt über einschlägige
Publikationen zu berichten gehabt: ein Zeichen
der Zeit.

Die vorliegende, gleichfalls mit dem Okkultismus
sich beschäftigende, Schrift setzt mit der Erklärung
ein, daß in der Geschichte der Menschheit zwei Lebensstile
nach einem bestimmten Rhythmus einander immer
wieder ablösen. Das eine Mal orientieren sich die Geister
wesentlich „am Sinnlich-Greifbaren, am Draußen,
am unmittelbar Gegenwärtigen". Das andere Mal gehen
sie mit Vorliebe „vom Subjekt" aus, „von der Tiefe des
menschlichen Inneren. Alle Oberfläche und Breite des
Lebens wird gering geachtet". Dasselbe in anderen
Worten: auf den „romanischen" Stil folgt „die Gotik"
mit ihrem Sinn für das Okkulte; und darauf wieder der
romanische Stil. Heute jedoch „ist um uns das Chaos
einer Zwischenzeit: wir erleben gegenwärtig einen Herrschaftswechsel
der beiden Lebensstile". Darum eben sind
jetzt die Bedingungen besonders günstig für die Entwicklung
eines „wissenschaftlichen Okkultismus"; besser
und korrekter gesprochen, für eine „Wissenschaft vom
Okkulten". Eine solche ist denn auch im Aufblühen begriffen
. Hat sie sich einmal voll durchgesetzt, so sind
freilich die „okkulten" Phänomene keine okkulten mehr;
sie werden dann richtiger als „magische" bezeichnet;
dann ist aber auch „die Zeit der Verirrungen, des Massenspiritismus
, der Theo- und Anthroposophie vorbei".

Verfasser widmet nun einen ersten Abschnitt der Darstellung der
„magischen" Phänomene und einer Prüfung ihrer Tatsächlichkeit. Er
gelangt dabei zu dem Ergebnis, daß auf Grund des vorliegenden
Materials „als Tatsachen anerkannt werden" müßten: „die Existenz
eines Unterbewußtseins und seiner Erscheinungen; Telepathie und
Hellsehen in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft; paraphysische
Ideoplastic (gemeint ist das Vermögen der Menschen „seinen Gedanken,
seinen Ideen einen sinnlich-greifbaren Ausdruck zu geben"), und endlich
Telästhesie (Wünschelrute) und Teleplastic". „Die Durchdringung
der Materie kann als Wahrscheinlichkeit gelten; aber von der Astrologie
, den Apporten (der magischen Transportierung eines Gegenstandes
auf größere Entfernungen hin) und dem objektiven Spuk kann nur als
von Möglichkeiten gesprochen werden."

Ein zweiter Abschnitt hat es mit „der Erklärung der magischen
Phänomene" zu tun. Verworfen wird: das Verhalten der „Skeptiker",
deren Endziel „die Leugnung alles Magischen" ist; ebenso „die physikalische
Hypothese der Naturwissenschaftler und Monisten", die auf
von den Gehirnvorgängen ausgehende Wellen verweist; ferner die mit
dem Begriff einer vierten Dimension operierende Deutung Fechners und
Zöllners; endlich auch die „Geisterhypothese des Spiritismus". Gutgeheißen
wird dagegen die „Entelechialhypothese", die mit einer
„entelechialen Struktur" alles Lebendigen rechnet und einer „allgemeinen
Basis alles Seelischen", einem „Überbewußtsein", in dem jede
einzelne Entelechie, „jede Einzelpsyche verwurzelt ist".

Ein letzter ganz kurzer Abschnitt handelt von der Bedeutung der
magischen Phänomene und derer Erforschung für die Naturwissenschaften
, die Geisteswissenschaften, die Philosophie.

Der Leser wird aus vorstehendem kürzen Bericht
leicht entnehmen, daß der Verfasser in seiner Weltanschauung
stark von Driesch beeinflußt ist; aber auch auf
S. Freud und dessen Psychoanalogie wird wiederholt
zurückgegriffen.

Der Unterzeichnete kann der Forderung einer streng
wissenschaftlichen Prüfung okkulter Phänomene nur zustimmen
, zumal wenn sich mit einer solchen die Aussicht
verbindet auf Zurückdrängung des „Massenspiritismus
, der Theo- und Anthroposophie". Was aber die Beurteilung
des „Tatsächlichen" im Okkultismus betrifft, so
wird es diejenigen, die einst den Zug Stades durch

Europa und dessen Entlarvung durch W. Wundt mit erlebt
haben, einigermaßen befremden, daß die Manipulationen
des „smarten" Amerikaners vom Verfasser relativ
ernst genommen werden. Was endlich die Erklärung
der „magischen" Vorgänge anbelangt, so wird die vorgetragene
Hypothese keinen geringeren, aber auch
keinen größeren Anspruch auf wissenschaftlichen Wahrheitswert
erheben können als ein metaphysisches System
überhaupt.

Gießen. E. W. Mayer (Straßburg).

K r o n f e 1 d, Arthur: Das seelisch Abnorme und die Gemeinschaft.

Stuttgart: J. Püttmann 1923. (21 S.) 8°. Kleine Schriften zur
Seelenforschung. H. 6. Gm. —55.

Kronfeld stellt zwei Fragen: die erste im Rahmen
des Ärztlichen verbleibende, nach pathogenen Momenten
sozialer Art für Abnorm-Seelisches, sodann die zweite
nach seelisch abnormen Kräften, die produktiv gestaltend
in die Formen des Gemeinschaftslebens hineingreifen
. Vom Gesichtspunkt soziologischer Psychopathologie
läßt sich sagen, daß jeder einzelne an der Gemeinschaft
zu tragen hat und daß sich aus seinem Ohn-
machtsgefühl gegenüber der sozialen Ordnung anstatt
sozialer Triebe Ressentiment, Haß und Neid und
paranoide Einstellungen entwickeln können; von der
Fülle abnormer Typen, die es hier gibt, wird mit kundiger
Hand eine Skizze entworfen, in der auch das
Apostolat einer (religiösen) Idee und die Massensuggestion
nicht fehlen. Wird damit unsere Menschenkunde
reicher, so führt die psychopathologische Soziologie
auf den Boden der Kultur- und Religionsgeschichte. Die
bekannte Gleichförmigkeit gewisser primitiver Vorstellungen
und Normen mit den wahnhaften Produktionen
Schizophrenischer und Paranoider führt zu der
schon vielfach aufgeworfenen Frage, ob nicht die schizophrenen
Gebilde nur die Wiederkehr archaischer seelischer
Formen sind, so daß die Entwicklungspsychologie
der Seele „den Kanon und die Determinanten ihrer pathologischen
Möglichkeiten" enthalten würde. Darüber hinaus
wird der Versuch gemacht, psychopathologische
Kräfte erotischer Art im Stile der Zeitalter (Masochismus
der Troubadour-Zeit und Rousseau's, Sadismus der galanten
Zeit!), schizophren - paranoider, hypomanischer
oder hysterischer Art auf dem Gebiete religiöser Gemeinschaftsbildungen
(Savonarola, Zwingli, Loyola schizoide
Persönlichkeiten?), sowie in den staatlichen Bildungen
und sozialen Strömungen nachzuweisen. Von Interesse
ist, daß eine große Anzahl von Führerpersönlichkeiten
der Räterepublik als Psychopathen erwiesen sind, so
daß eine besondere Affinität psychopathologischer Einflüsse
zum Massengeschehen, insbesondre zu radikaler
Verwirklichung einer Idee festzustehen scheint. Mit Recht
betont K„ daß nichts verfehlter wäre, als wenn man aus
solchen Zusammenhängen bereits die Minderwertigkeit
des betreffenden Ideen- und Kulturgehalts erschließen
wollte. Ebenso lehnt er es ab, ganze Epochen oder
Völker als seelisch krank zu bezeichnen. Allerdings
glaube ich, daß man in der Kritik noch erheblich weiter
gehen muß als K.; ich möchte durchaus nicht bestreiten,
daß die vorgeführten Gedanken bei Untersuchung primitiver
Formen wie auch historischer Zeiten und Personen
erheblichen heuristischen Wert gewinnen können und von
der Forschung erwogen werden müssen. Aber die unkritische
Handhabung der psychiatrischen Begriffe, wie
sie in Mode kommt, muß nicht minder Verwirrung
stiften als einst die Handhabung des biogenetischen
Grundgesetzes (von dem ja die „Entwicklungspsycj o-
logie" nur ein Ableger ist) bei Häckels Stammbau.ü-
konstruktionen. Ohne gründliche Untersuchung jed ;
einzelnen Falles läßt sich auf beiden Gebieten auch nicht
einen Schritt weiterkommen.

Berlin. Titius.