Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1923

Spalte:

175

Autor/Hrsg.:

Messel, Nils

Titel/Untertitel:

Der Menschensohn in den Bilderreden des Henoch 1923

Rezensent:

Horst, Friedrich

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

175

Theologische Literaturzeitung 1023 Nr. S.

176

Messel, Dr. Nils: Der Menschensohn in den Bilderreden
des Henoch. Beihefte zur Zeitschrift für die Alttestamentliche
Wissenschaft 35. (87 S.) 8°. Gz. 2,8.

M. unternimmt in der vorliegenden Untersuchung
den Nachweis, daß der Menschensohn in den Bilderreden
des Hen., genau wie bei Dan., eine Personifikation des
iüd. Volkes ist und daß der Anschein, es handle sich
hier um einen persönlichen Messias, lediglich erst
durch eine spätere christl. beeinflußte oder überhaupt
Christi. Bearbeitung erweckt wird. Wenn schon ganz allgemein
bei der Art äthiop. Ueberlieferungen solche Möglichkeit
nicht Wunder nehmen würde, wenn man die
vielen Schwierigkeiten der herkömmlichen Deutung bedenkt
, die letztlich mit Neuartigkeiten rechnen muß, die
auf jüdischem Boden in vorchristl. Zeit einfach unerhört
sind, so verfolgt man diese Ausführungen mit größtem
Interesse, und das umsomehr, als der Beweis hier auf
Grund exakter textkritischer und exegetischer Beobachtungen
durchgeführt wird. Gerade das verdient an dieser
Arbeit am meisten anerkannt zu werden. — Im 1. Teil
werden die Ausdrücke „der Menschensohn", „der Auserwählte
", „der Gerechte", „der Gesalbte" auf ihre Ursprünglichkeit
untersucht. Danach ist „der Menschen-
s'ohn" (= walda saba'l) allein in 46,2—4 u. 48,2 ursprünglich
, an allen andern Stellen dagegen, wo zudem
das Aethiop. 2 weitere Ausdrücke verwendet, unecht
(§§ 1—3). Unecht ist auch der 2. Ausdruck vor c. 46;
nur die Stelle 45,3 ist nicht frei von Schwierigkeiten
(§ 4). Unecht sind ferner auch die Ausdrücke „der Gerechte
" (§ 5) und „der Gesalbte" (§ 6). Das ergibt dann:
„für die in c. 46 eingeführte Gestalt, den Menschensohn
, hat der Verf. nur einen einzigen wirklichen Namen
gebraucht: der Auserwählte" (S. 32). Der 2. Teil begründet
die Deutung des „Auserw." (des „Menschen-
sobnes") als einer Personifikation des jüd. Volkes. Die
fragl. Persönlichkeit und das Volk führen den gleichen
Namen (§ 8), haben gemeinsame Prädikate, von denen
sogar einige eine messianische Beziehung garnicht zulassen
(§§ 9. 11—14), während charakteristisch mess.
Aussagen direkt fehlen (§ 10). Auch das Richten des
Azazel und seiner Scharen ist nach 1. Kor. 6,3 für das
Volk ebenfalls möglich (§ 15).

Die beiden Stellen (48,3.6b) von der Präexistenz des M.-S.
sind m. E. beide interpoliert; nimmt man das auch für v.6b an, dann
braucht man „darum" in 6a nicht in „denn" zu konjizieren. In 46,3c
liegt sicher ein Textfehler vor; zu vermuten ist vielleicht: „er wird erscheinen
mit . . .". 49,3 wird als Zitat aus Jes. 11,2 erwiesen (beachtenswert
ist die Konj. uamanfasa Dbuna uasadq; sie wird durch 46,3
inhaltlich geradezu bestätigt, insofern hier Gerechtigkeit = Gottesfurcht
ist, vgl. S. 47). Eine mess. Beziehung braucht hier aber kaum angenommen
zu werden. Zitat ist aber auch 48, 4 c (Jes. 42, 6.
49, 6). Da es sich jedoch aus v. 4 nicht herausstreichen läßt,
muß man wohl weit besser den ganzen Vers für einen Einschuß
halten. Weshalb „säen" in 62,8 zu beanstanden wäre, weiß ich
nicht recht. „Säen" und „Aufstehen" sind parallel dem „Verborgensein
" und „Erscheinen". Gerade einen dem Verborgensein des Aus-
erwählten parallelen Ausdruck für das pluralische Volk vermißt man,
und dafür paßt doch „säen" glänzend, ich erinnere nur an das gleiche
Bild 1. Kor. 15, 42. Auch „Aufstehen" bedeutet bei Hen. zugleich
„herrlich dastehen", vgl. 49,2, und ist nicht bloß negativ gemeint
als „vom Unglück aufstehen". Unbefriedigend und schwach ist § 16
über den Wechsel zwischen der singul. Personifikation und den plural.
Bezeichnungen des Volkes, bes. hinsichtl. 62,7. Hier steckt noch ein
wichtiges Rätsel, dessen Lösung vielleicht auch für den „Knecht
Jahves" Licht bringen kann.

3 Exkurse behandeln die Verborgenheit des Messias
bei Justin, 4. Esra und Evang. Jon., den Mess. der Esra-
Apok., sowie die Abfassungszeit der Bilderreden (Zeit
der röm. Prokuratoren).

Bonn. F. Horst.

Bert, Pfarrer Lic. Dr. G.: Das Evangelium des Johannes.

Versuch einer Lösung seines Grundproblems. Gütersloh, C. Bertelsmann
1922. (144 S.) gr. 8°. Qz. 2,5; geb. 3,5.

Der Verf. konstatiert im Johevg. „den geringen
Sinn für geschichtliche Wirklichkeit, die Willkür in der
Behandlung der äußeren Begebenheiten" (S. 40), er
findet, daß der Evglist. „mit der chronologischen Reihenfolge
oft sehr willkürlich verfährt" (40). Die Erklärung
liege darin, daß das Evg. überhaupt nicht die Geschichte
Jesu erzählen, sondern die Geschichte des ewigen Lebens
in allegorisch-dramatischer Darstellung geben wolle
; „die Grundzüge unseres leiblichen Lebens geben den
äußeren Rahmen, das Schema ab, in dem die Geschichte
des ewigen Lebens sich vollzieht" (45 vgl. 105. 117).
Das Evg. ist „nicht Zeugnis äußerer Begebenheiten, sondern
geschichtliches Zeugnis inneren Erlebens" (133).
Der Evglist. macht „seine eigenen Lebenserfahrungen,
die Lebenseinwirkungen, die er von Jesus erlebt hat, zu
einem persönlichen Zeugnis Jesu" (133); er „läßt"
Jesus bekennen, „läßt" ihn sprechen. Gleichwohl gehört
das Johevg. in die unmittelbare Nähe Jesu, nicht an den
Schluß, sondern an den Anfang des neutest. Schrifttums
(132 vgl. 131). Dies Urteil ist für den Verf. deshalb
möglich, weil er die Predigt des synoptischen Jesus
nicht nur als von Enthusiasmus und Ekstase, sondern
auch von Mystik erfüllt ansieht. Daß Mk. 1, 15; 9, 1;
Mt. 6, 7f.; 7,6; 11,1 lf.; Lk. 17,20 im Sinne der Mystik
zu verstehen sind (127—130), wird schwerlich einleuchten
, und daß Jesus Allegorist gewesen sei, wird
durch Mk. 4,33 (132) kaum erwiesen werden können;
auch daß das Reich Gottes für Jesus ein innerer Lebenszustand
sei, eine völlige innere Lebensgemeinschaft mit
Gott (126L), wird den nicht überzeugen, der den escha-
tologischen Charakter der Predigt Jesu und des Glaubens
der Urgemeinde aus den Synoptikern deutlich zu erkennen
glaubt.

Sieht man von diesen Ausführungen und von der
durch sie gestützten Annahme der Verfasserschaft des
Zebedaiden ab, so bleibt die Frage, wieweit die Charakteristik
des Johevg. richtig ist. Soweit oben wiedergegeben
, berührt sie sich mit dem von der kritischen
Forschung im allgemeinen Zugestandenen. Das Eigentümliche
aber des Verf. ist dies, daß die Geschichte
Jesu im Johevg. die Geschichte des „Lebens" sei, d. h.
die Darstellung der mystischen Erlebnisse, der Seelenvorgänge
, in denen es im Menschen zur Geburt und zur
Auswirkung des „Lebens" kommt. Das Schema dieser
Seelengeschichte seien die typischen Vorgänge des natürlichen
Lebens: Hochzeit, Geburt, Trank und Speise,
Krankheit, Blindheit und Tod. Mir scheint diese Konstruktion
schon daran zu scheitern, daß auf die Hochzeit
als solche Joh. 2 ja gar kein Gewicht fällt, und daß von
einer natürlichen Geburt ja gar keine Geschichte erzählt
wird. Vor allem aber scheint mir die allegorische
Deutung nicht nur zu weit getrieben zu sein, sondern
auch in eine falsche Richtung zu gehen. In der Tat deutet
die spezifisch mystische Allegorese äußere Vorgänge als
Seelenerlebnisse (vgl. Philo); aber im Johevg. vermag
ich davon nichts wahrzunehmen; in ihm handelt es sich
doch immer um das heilsgeschichtliche Offenbartings-
wirken Jesu, das bald allegorisch, bald unverhüllt dargestellt
wird, um ein objektives Handeln und Geschehen,
nicht um seelische Erlebnisse. Der Verf. erblickt im
Jesus des Johevg. die metaphysische Größe des „Lebens
", weil er die These durchführen will, daß der
Jesus des Evg. und der Logos des Prologs (als Träger
des in der Gottesgemeinschaft bestehenden „Lebens")
ein und dieselbe Größe sind und kein Gegensatz zwischen
Prolog und Evg. besteht. Dieser These, die so überraschend
neu nicht ist, wie der Verf. meint (25), stimme
ich durchaus zu, glaube freilich, daß die behauptete Einheit
nicht zu erweisen ist, wenn man den Logos des
Prologs aus der griechischen Philosophie und aus Philo
verstehen will, wie es der Verf. durch einen unzulänglichen
Ueberblick über die Geschichte der Logos-Idee
von Heraklit bis Philo erweisen will. Er zeigt hier nur,
daß er in die komplizierten religionsgeschichtlichen Probleme
, die sich an den Logos-Begriff knüpfen, keine genügende
Einsicht hat. — Wie die Philo-Zitate nach den
neusten Ausgaben hätten gegeben werden müssen, so
hätte der Verf. die Oden Salomos nicht einfach nach
der Flemmingschen Uebersetzung anführen dürfen, auch