Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1923 Nr. 5

Spalte:

111

Autor/Hrsg.:

Hamann, Johann Georg

Titel/Untertitel:

Schriften. Ausgew. u. hrsg. v. Karl Widmaier 1923

Rezensent:

Nohl, Herman

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

111

Theologifche Literaturzeitung 1923 Nr. 5.

112

Aufhaufer, Prof. D. Dr. joh. B.•. Die Pflege der Mirfionswirfen-
fchaft an der Univeru'tät. (32 S.) gr. 8". Dieffen vor München,
J. C. Huber 1920.
Diefe an der Münchener Univerfität gehaltene Antrittsvorlefung
ift durch ihre inhaltsreichen und unbefangenen Ausführungen ein erneutes
Zeugnis des in der deutfchen katholifchen Theologie zurzeit
herrfchenden lebendigen Intereffes an wiffenfchaftlicher Behandlung der
Miffion. Befonders weife ich auf die Darlegungen des Verfaffers über
ihr Verhältnis zur Auslandskunde und die verfchiedenen Zweige der
Religionswiffenfchaft hin.

Göttingen. Carl Mirbt.

Hamann, Johann Georg: Schriften. Ausgew. u. hrsg. v. Karl Widmaier.
Leipzig: Infel-Verlag 1921. (452 S.) gr. 8°. Der Dom.

Hamann hat als erfter wieder gegenüber der Aufklärung und jedem
Verbuch begrifflich zu Gott zu kommen, die Pofitivität und Gefchichtlich-
keit des religiöfen Erlebniffes erkannt, als er in der Einfamkeit der
Weltftadt London und nach einem völligen Verlieren feiner Perfon in
Schlamm und Hilflofigkeit die Bibel in die Hand bekommt und plötzlich
fieht, daß diefe große Hiftorie nichts anderes ift als eine Analogie
seines Lebens, durch die Gott unmittelbar zu ihm redet. In diefer
einen Erfahrung waren alle feine neuen Erkenntniffe angelegt. Und
fo fchwer feinem genialen Dilettantismus und feiner geiftigen Unordnung
die Auseinanderfetzung mit der Wiffenfchaft und dem Begriff wurde,
fo befaß er doch die Subftanz des Erlebniffes, aus der heraus er alles
neu fah, und eine elementare Offenheit und konkrete finidiche Energie
des Ausdrucks, die der jungen Generation damals, die ihn im einzelnen
genau fo gut oder fchlecht verftand, wie wir heute, Prophetie eines
neuen Lebens war und auch uns heute noch eine religiöfc Quelle fein
kann.

Diefer doppelten Bedeutung Hamanns, der hiftorifchen und der
lebendigen will die vorliegende Ausgabe in der fchön gedruckten Sammlung
,der Dom. Bücher der deutfchen Myftik' des Infelverlags dienen.
Sie enthält auf 270 Seiten feine wichtigsten Schriften: Gedanken über
meinen Lebenslauf, Denkmal, Biblifche Betrachtungen, Brocken, Aesthe-
tica in nuce, Letzte Willensmeinung, Philologifche Einfälle, Metakritik
und Golgatha und Scheblimini. Angehängt find dann auf 107 Seiten
ausgewählte Stellen unter Stichworten wie Leben, Stil, Vernunft, Ästhetik
, Gefchichte, Sprache usw., die in ihrer Reihenfolge dem Gang der
kurzen Einführung des Herausgebers entfprechen und fie fo gefchickt
ergänzen und erläutern. Schließlich ift eine chronologifche Überhebt
der Druckfchriften Hamanns, eine forgfältige Bibliographie der Originalausgaben
feiner Schriften, die Ernft Schulte-Strathaus verfertigt hat, und
ein wertvolles Regifter beigegeben. Die mit Liebe und Verftändnis gemachte
Ausgabe ift wirldich nützlich, man kann Hamann wieder unmittelbar
lelen, und auch der wiffenfehaftliche Arbeiter wird fie mit
Dank gebrauchen. Die eindringlich gefchriebene Einführung fällt in
den Fehler, der Autoren wie Hamann gegenüber nur zu leicht entfleht,
daß man die Paradoxie folchen religiöfen Genies und die Leidenfchaft
feines Ausdrucks durch die Steigerung des eigenen Stils vermitteln will,
wo fachliche Analyfe vielleicht aufklärender fein würde. Und wenn dann
einmal die Sprache des wiffenfehaftlichen Begriffs benutzt wird —
,Binet würde ihn dem hyperkinetifchen-fluktuierenden-fubjectiven Typus
zurechnen' — , fo fetzt das Kenntnis einer Terminologie voraus, die kaum
erwartet werden kann und hier alfo mehr als geiftreiche Dekoration
wirkt, im Grunde aber dem Ziele der Einfühlung ganz entgegen ift,
denn folche klalfificierende Psychologie geht doch gerade an dem Wefcn
und Willen des Individuums Ilamann vollftändig vorbei.
Göttingen. Herman Nohl.

Deussen, Paul: Mein Leben. Herausgegeben von Dr. Erika Rofenthal-
Deuffen. (360 S.) 8°. Leipzig, F. A. Brockhaus 1922. M. 125 —

Es find wefentlich. „Erinnerungen aus dem äußeren
Leben", die D. gibt. Über das innere Werden des Gelehrten
und Menfchen erfährt man wenig. So bieten die
Erinnerungen dem Theologen weniger, als man gerade
bei D. erwarten follte. In der Jugendzeit ift die Schilderung
der Zuftände der Perfönlichkeiten immerhin bildhaft
geraten. Von Pfarrhaus und Gemeinde zu Oberdreis im
Wefterwald und von Schulpforta, wie fie in der Mitte
des 19. Jahrhunderts waren, erhält man eine lebendige
Vorftellung. Die Nietzfcheerinnerungen bieten nichts
Neues gegenüber der bekannten eigenen Veröffentlichung
Deuffens. Späteftens vom Jahr 1880 ab tritt an die Stelle
der Erzählung der Bericht.

Statt Beek S. 90 lies Beck.

Göttingen. E. Hirfch.

Tön nies, Ferdinand: Kritik der öffentlichen Meinung. Berlin, Julius
Springer 1922. (XII, 583 S.) Lex. 80.

Der Begründer der neueren deutfchen Soziologie will im vorliegenden
Werke gegenüber der Vieldeutigkeit und Unbeftimmtheit des Sprachgebrauches
einen beftimmt umriffenen Begriff der öffentlichen Meinung
bilden. In einem erften grundlegenden Teile behandelt der Verf. Begriff
und Theorie der Off. Meinung (S. 1—215), ein zweiter Teil gibt

empirifche Beobachtungen und Anwendungen, nämlich die konkrete Ge-
ftaltung der ö. M. und ihre verfchiedenartige Ausbildung und Bedeutung
in den modernen Staaten (S. 219—436), zum Schluß werden einige
fpezielle Beifpiele der O. M. behandelt: die foziale Frage und der
Weltkrieg (S. 439—575)-

Die ö. M. wird von T. als eine Äußerung des fozialen Willens
beftimmt, und zwar im Anfchluß an das früher von ihm aufgeftellte
Schema Gemeinfchaft und Geiellfchaft als eine Form des gefellfchaft-
lichen Willens. Die Öffentliche Meinung ift Ausdruck eines einheitlichen
, auf vernünftigem Urteilen beruhenden Willens. Ihre Träger
find in den modernen Staaten die Intellektuellen. Sie unterfcheidet fich
dadurch von den öffentlichen Meinungen, die untereinander nicht
zufammenhängen, und deren es fo viele geben kann, wie es individuelle
Möglichkeiten der öffentlichen Bceinfluffung des Urtcilens anderer gibt.
Zur Religion hat die ü. M. eine befondere Beziehung. Scheinbar Gegen-
fätze, beftimmt jene in der wefenhaften, kulturfchaffenden Sphäre der
Gemeinfchaft, was wahr und gültig fein foll, während diefe es in der
rationalen Gefcllfchaftsfphäre der Zivilifation tut. Da aber das bewußte
zweckfetzende Leben nie die Verbindung mit feinem Naturgiunde ganz
verlieren kann, fo muß auch in der ü. M. ftets die Funktion der Rel.
mitenthalten fein, Fraglich fei für die Zukunft nur, ob die Ö. M.,
die der Ausdruck des ftetig iörtfehreitenden Menfchengeiftes fei, fich
begnügen werde, die Religion zu rationalifieren, oder ob fie fich felbft
an deren Stelle fetzen werde.

T. hat uns mit dem vorliegenden Buche ein Werk gefchenkt, das
fich gleichwertig neben das eben in 4. u, 5. Aufl. erfchienene .Gemeinfchaft
und Gefellfchaft' reiht. Die Fülle des zufammengetragenen Demon-
ftrationsmaterials wird den Hiftoriker veranlaffen, Wcfen und Tragweite
der Publiziftik aufs neue zu überprüfen und fich mit den Problemen
der Soziologie damit überhaupt eingehender zu befallen. Man kann erwarten
, daß die Soziologie, namentlich auch die Religionsfoziologic,
durch T. von neuem in reichem Maße angeregt werden wird. Freilich
wird auch der Widerfpruch gegen die z. T. ftark konftruktiven Theorien
nicht ausbleiben von all denen, die die Vorausfetzungen des Verf. nicht
teilen können, z. B. die Verteilung feiner Grundtypen auf Wefenwille
und Kürwille, oder die vorwiegend individual pfychologifche Erklärung
der fozialen Willensäußerungen. So fcheint mir, um nur ein Beifpicl
zu erwähnen, die Parallelifierung von Religion und ü. M. hinfällig zu
werden, fo bald man den Unterfchied zwifchen beiden nicht mehr nur
in den Erkenntnismitteln fieht, fondern auch und vor allem in der
Intention. So fruchtbar die Methode der deutfchen Soziologie auch
bereits ift, fo wird fie doch erft dann wiffenfchaftlich wirklich brauchbar
werden, wenn fie ihre im wefentlichen hiftorifche Betrachtungsweife
durch Pfychologie und Pfychophänomenölogie ergänzen wird.

Göttingen. Piper.

Wach, Dr. Joachim: Der Erlöliingsgedanke und feine Deutung. Leipzig:

J. C. Hinrichs 1922. (104 S.) gr. 8°. Veröft'entl. d. Forfchungs-
inftituts f. vergl. Religionsgefchichte a. d. Univ, Leipzig Nr. 8.

Gz. 2,8.

,Die vorliegende Arbeit, die aus einer Leipziger
Differtation erwuchs, befteht aus zwei relativ felbftändigen,
aber in einem inneren Zufammenhang flehenden Kapiteln.
Das erfte handelt von pfychologifcher Deutung der Per-
fönlichkeit und des Ausdrucks, Ichbejahung und Ichverneinung
und geht von der Notwendigkeit einer ftrengen
Scheidung zwifchen pfychologifcher und fachlicher Deutung
aus, die doch cum grano salis zu verftehen fei. Zwifchen
der pfychologifchen Ergründung der Perfönlichkeit und
den Analyfen objektiver Gebilde, Syfteme und Werke müffe
eine Grenzaufgabe gründlicher als bisher bearbeitet werden:
die Unterfuchung "der Zufammenhänge zwifchen Subjekt
und Objekt. Dazu müßten wieder zunächft die Perfönlichkeiten
ftudiert werden und erwiefen fich fo als ichbejahend
oder ichverneinend, und im letzten Falle wieder
entweder als Auslöfchung, Aufhebung des Ich oder als
Erlöfung erftrebend: ,über das empirifche Ich hinaus
oder hinweg wird dem Menfchen ein Ziel gefetzt, von
dem aus Leben und Welt ihren Sinn erhalten'. Genauer
könne ein immanent und ein tranfzendent gerichtetes Er-
löfungsftreben unterfchieden werden: Erlöfung in der
Arbeit und durch die Arbeit, in der Liebe und durch
die Liebe oder im Streben nach und in der Teilnahme
an tranfzendenten Gütern. Andererfeits die pfychologifche
Deutung des Ausdrucks möchte fragen, ob wir diefen,
alfo beifpielsweife einen religiöfen ..oder philofophifchen
Gedankenzufammenhang, als reine Äußerung eines Seins
oder als Ausdruck eines Ideals zu interpretieren haben.
Vorausfetzung dafür aber fei die Analyfe typifcher Formen
des Ausdrucks, die ihrerfeits auf der Defkription der
Mannigfaltigkeit der einzelnen Ausformungen beruhe —