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Ausgabe: | 1923 Nr. 4 |
Spalte: | 92 |
Autor/Hrsg.: | Hirsch, Emanuel |
Titel/Untertitel: | Deutschlands Schicksal. Staat, Volk und Menschheit im Lichte einer ethischen Geschichtsansicht. 2., verm. Aufl 1923 |
Rezensent: | Schian, Martin |
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Theologifche Literaturzeitung 1923 Nr. 4.
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Der zweite oben bezeichnete (vierte) Band führt fpe-
zififch an den Ruffen Solovjeff heran. Er enthält eine
Serie von Auffätzen, die S. unter dem Titel ,Die nationale
Frage in Rußland' (2 Teile) felbft gefammelt hat und die
hier, mit einigen weiteren (.Rußland und Europa', S. 87—
176; .Rußlands geiftige Beftimmung' [franzöfifch gefchrie-
ben: L'idee russe], S. 177—210; dazu ,(jber den Verfall
der mittelalterlichen Weltanschauung', S. 331—349) umgeben
, vollends in ihr Licht gerückt werden. Auf fie im
einzelnen einzugehen, glaube ich mir erlaffen zu dürfen.
Man muß fie aus ihrer Zeit heraus (abgefchloffen 1891)
verftehen. S. fieht Rußland auf feiner Höhe, in einer
Gefeftetheit, einer Größe und Weite, dazu einer Machtfülle
daftehen, die auch ihm mit Stolz und Freude das
Herz fchwellt. Aber er fragt nun um fo ernftlicher, was
Rußlands .Beruf fei. Weiter Macht und Reichtum zu
erwerben? Das Slaventum um fich als Zentrum zu fam-
meln? Das gewiß. Aber nur, um, mehr noch als England
, ein, ,das' Weltreich zu werden? Da fetzen feine
Warnungen, feine pofitiven Mahnungen in Hinficht deffen
ein, was ,die Menschheit', was Gott von einem Reiche
wie Rußland erwarte, fordere. S. ift durchaus Patriot,
er verlangt von jedem Menfchen, daß er feinem Volke
gegenüber ein warmes Herz, eine fpezififche Liebe hege.
Aber er bekämpft allen Nationalismus. Jede Nation hat
ihr Gottesrecht auf Erden, ihre Sondergaben, ihren einzigartigen
Beruf. Aber jede foll auch wiffen, daß fie keine
andere vergewaltigen dürfe, nicht äußerlich, nichtinnerlich
, nicht politifch, aber auch nicht geiftig. England ift
ihm der Typus der fkrupellofen politifch-wirtfchaftlichen
Unterjochung möglichft weiter Erdftriche, wefentlich in
kapitaliftifchem Intereffe, Deutfchland der Typus des
.geiftigen' (denkerhaften) Unterjochers (er exemplifiziert
auf unfer Verhalten zu Polen). Beides ift ihm eine Art
von .Menfchenfrefferei'. Dem .brutalen empirifchen Kannibalismus
der englifchen Politik' zu verfallen, lief Deutfchland
keine Gefahr, aber der .deutfche Idealismus' wußte
der Neigung nicht zu widerftehen, feine .höheren Ideen
zu verallgemeinern'. So gilt: ,Der Engländer beraubt und
unterdrückt andere Völker, der Deutfche vernichtet in
ihnen das Volkstum'. Beides dünkt ihm unerlaubt, ja
fchrecklich, fündhaft; uns Deutfchen läßt er doch dafür
gelten, idealer zu fein als die Engländer. Indem wir ,ger-
manifierten', hätten wir unzweifelhaft die Polen in Pofen
gehoben. Und nun fieht S. bei feinen Ruffen eine Neigung
aufkommen, mehr oder weniger das zu kombinieren,
was nach ihm bei Engländern und Deutfchen verteilter-
maßen die Schranke, der Fehler, der Frevel ift. Darwider
ftreitet er unermüdlich, in feiner gütigen ernften Art alles
Befte im perfönlichen Willen bei feinen Landsleuten, einem
Danilewsky, Akfakow, Strachow etc. vorausfetzend, aber
ihrer gleißenden Formel vom .faulen Wellen', der .naturhaf-
ten Überlegenheit' der flavifchen, infonderheit ruffifchen
,Seele' fich entgegenftemmend. S. will durchaus dem
Werten in Frieden bringen, was Rußland auch nach
feiner Darftellung vorab hat, was der Werten noch nicht
kennt, was Rußland auch befitzt, ohne recht zu wiffen,
was es befitzt — vollends ohne dem in feinem eigenen
Leben bislang gerecht geworden zu fein, ,fein', das orthodoxe
Chriftentum, das in feinem Dogma geficherte, nur
bei ihm prinzipiell .gehütete' Verftändnis vom .Gottmen-
fchentum'. S. ift nicht Pazifift. Überhaupt nicht Utopift.
Nur Chrift — nach feinem Verftändnis des .Chriftus', der
.orthodoxen' Formel von ihm. Vom Werten kann (muß)
der Orten noch lernen, was auf diefer Erde an .F'ormen'
des Lebens (an Kultur) nötig ift, damit der Geift fich
ausgeftalte, aber der Orten kann (muß) dem Werten
bringen das Verftändnis deffen, was ,gut' und ,böfe' und
was .Erlöfung' .und ewiges Leben fei; der Orten hat
dem Werten, feinem Leben erft den rechten Inhalt zu
zeigen, womöglich praktifch zu vermitteln. Man trifft
feiten fo reinen, felbftlofen, befcheidenen, dennoch im
tiefften hochgemuten, man kann ruhig fagen, vorbildlichen
Patriotismus, wie bei S. — Am bedeutendften, bzw. in-
tereffanteften (konkreteften) im zweiten (vierten) Bande
ift mir der Auffatz .Rußland und Europa' und der II. Teil
von ,Die nationale Frage in Rußland' erfchienen.
Halle a. S. F. Kattenbufch.
Hirfch, Prof. D. Eraanuel: Deutfchlands Schickrai. Staat, Volk und
Menfchheit im Lichte einer ethifchen Gefchichtsanficht. 2., um ein
Nachwort vermehrte Auflage. (166 S.) 8°. Göttingen, Vandenhoeck
und Ruprecht 1922. Gz. 2,1.
Aus einer in Bonn 1922 gehaltenen öffentlichen Vorlefung erwuchs^
diefes Buch. Jetzt ging es unverändert, aber durch ein Nachwort vermehrt
, neu aus. Es ftellt einen Verfuch dar, die durch Deutichlands
Schickfal brennend gewordenen Rätfei und Kragen der Menlchheitsge
fchichte und des menfchlichen Gemeinfchaftslebens im inneren Zu-
fammenhange und aus "einer Gcfamtanfchauung heraus zu beantworten.
Zu diefem Zweck holt es fo weit als möglich aus, indem es ganz allgemein
und mit fehr fparfamer Beziehung auf die Gegenwart die eigene
gefchichtsphilofophifche Stellung deutlich macht und begründet (4 Ab-
fchnitte: Menfchheitsgefchichte und Gottesgedanke; Idee und Leben;
Entwicklung und Freiheit; Die Gemeinfchaft der Gewiffen). Aus diefer
Grundlegung hebe ich befonders hervor die Auseinanderfetzung mit den
.durch Hegel klaffifch geflalteten Ideen der deutfchen idealiftifchen Ge-
fchichtsphilofophie'. H. felbft bekennt fich zu einer von ihm theiflifch
genannten, Zwilchen diefer ,abfoluten' und der .fkeptifchen' die Mitte
haltenden Gefchichtsanficht. So tief wie diefe Darlegung gräbt, fo ausgezeichnet
ift die fie ergänzende Betrachtung über ,ldee und Leben',
die gründlich aufräumt mit der Auffaffung, die die Gefchichte wefentlich
als Verwirklichung der Herrfchaft der Idee anfleht. Ergebnis des
Ganzen: Man verlieht die Gefchichte nicht, wenn mau fie nicht fieht
als ein konkretes Nebeneinander irdilch-natürlichen Lebens mit ethifch-
religiöfem. Der zweite Teil bringt die .Anwendung'. Aber auch hier
überwiegt das Grundfätzliche weit das unmittelbar Aktuelle: Recht und
Staat; Staat, Volk und Menfchheit; Krieg; Gefellfchaft; Tolftoi und das
Evangelium werden tief eindringend befprochen; erft der letzte Abfchnitt
erörtert auf ca. 13 Seiten Deutichlands Schickfal, das vorher nur öfter
berührt war, in ganz konkretem Eingehen. Und das Nachwort kreuzt
die Klingen mit der religiös gewordenen deutfchen Revolutionsphilo-
fophie. Es mag fein, daß mancher Lefer auf den Titel hin weniger
Gefchichtsphilofophie und mehr Zeitbetrachtung erwartet; und für eine
nähere Ausführung nach diefer Seite hin wären ficher fehr viele dem
Verf. dankbar gewefen. Aber daß einmal die all dem unruhigen Fragen
und Verkünden unferer Tage zu Grunde liegenden Probleme ganz tiet
angefaßt und in ruhiger, wiffenfchaftlicher Erörterung, die freilich kräftige
Arbeit des Mitdenkens fordert, beantwortet wurden, das war durchaus
notwendig. Wir haben fo unendlich viel oberflächliches Gerede
über diefe Dinge gehört, es (landen fo viele Propheten auf, die mit
apodiktifcher Sicherheit ihr Sprüchlein über Gott und Welt fagten, daß
es ein wahrer Genuß ift, mit H. in das Reich der Prinzipien hineinzu-
fteigen. Was er fagt, bedeutet freilich faft in allem eineu Gegenfatz
zu den durch Zufammenbruch und Revolution hochgekommenen An-
fchauungen. Es bringt dem Gleichgeftimmten tieffle Befriedigung, reiche
Anregung und mannigfache Klärung; ich weife nur hin auf die vorzüglichen
Ausführungen über Recht (auch Macht) und Staat, über
Krieg und Pazifismus, fowie über den Sozialismus. Die Andersdenkenden
aber dürfen dem Buch wirklich nicht auf die Dauer, wie der i. Auflage,
die Ehre des Befchwiegenwerdens widerfahren laffen; fie müffen zu
ihm Stellung nehmen, weil es die ernftefte und gründlichfte Kampfan-
fage gegen ihren Kultus der .Ideen' darftellt. Was zum Thema Pazifismus
gefagt ift, genügt ja für fich allein, um die Selbftverftändlich-
keit, mit der der Pazifismus fich auf das Chriftentum berufen zu dürfen
glaubt, ins Unrecht zu fetzen. Im Einzelnen kleine Anmerkungen der
Zuftimmung oder auch einmal der Abweichung zu machen, muß ich
mir verfagen. Ich wüßte kein Buch, das notwendiger war; keins, das
ich dem Gebildeten (er muß freilich ordentlich denken können) und
dem Studenten fo empfehlen möchte wie diefes; auch kein Buch diefer
Zeit, von dem, wenn es zur Wirkung kommt, folcher Segen ehrlicher
Selbftbefinnung für das deutfche Volk ausgehen kann, wie von diefem.
Gießen. M Schian.
Stammler, Rudolf: Die materialiltirche Gefchichtsauffassung. Darfteilung
— Kritik — Löfung. (Studien d. apologet. Seminars in Wernigerode
, 4. Heft.) (89 S.) 8°. Gütersloh, C. Bertelsmann 1921. Gz. 1,8.
Für das apologetilche Seminar von Wernigerode hat
der bekannte neukantifche Jurift und Rechtsphilofoph
* Stammler in dielen Vorträgen das verwickelte Thema
behandelt. Sie find fcheinbar auf ein fehr einfaches
Publikum berechnet und dementfprechend fehr elementar
gehalten. Das Sozialismus-Problem felber wird von vornherein
ausgefchaltet, da es nur eine einzelne, auf beftimmte
hiftorifche Verhältniffe fich erftreckende Folgeerfcheinung
der Hauptfache, der gefchichtsmaterialiftifchen Methode,
fei. Diefe wird mit wenig Worten dargeftellt und mit
dem fehr einfachen Gedanken widerlegt, daß die Natur-
forfchung Kaufalitätsforfchung, die Gefellfchaftswiffenfchaft