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Ausgabe:

1923

Spalte:

69

Autor/Hrsg.:

Beyer, Alexander

Titel/Untertitel:

Religion und Suggestion 1923

Rezensent:

Thimme, Wilhelm

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6g

Theologifche Literaturzeitung 1923 Nr. 3.

7o

wiflenfchaftlicheBemühungen um die Religionspfychologie
geltend macht. Und die im X. Abfchnitt vorgebrachten
Darlegungen der eignen Anfchauung des Verf. find lediglich
Produkte einer fpekulativen Dialektik, von der ich
wenigftens mir keine Förderung einer wiffenfchaftlichen
Erkenntnistheorie verfprechen kann.

Häßlich endlich iß die aus dem Zeitungs- und Parlamentsdeutfch
in die wiflenfchaftliche Sprache des Verf. eingefchlichene und von ihm
mit Vorliebe gebrauchte Wendung von dem .Anfchneiden' einer Frage.
Bonn. Ritfchl.

Beyer, Alexander: Religion und Suggettion. Eine Darfteilung und
Klarftellung ihres gegenfeitigen Verhältuiffes. (122 S.) 86 Halle a. S.,
Carl Marhold 1922. Gz. 1,8.

Was ift Religion? Nicht eine Vorftellung jenfeitiger
Dinge, fondern ein Zuftand des Gefühls, eine befondere
Art Leben, ein höheres Sein, das fich nicht einbilden und
erzwingen läßt, das ähnlich wie die Liebe einfach da ilt,
als innerer Drang und Zwang, das nicht nach dem Warum
und Wozu fragt, S. 29L Und was ift Suggeftion? Willensübertragung
. Eigene oder fremde Gedanken, Wünfche,
Befehle dringen in die Region des Unbewußten (deffen
phyfiologifches Subftrat das Kleinhirn ift) und vermögen
von hier aus durch Vermittlung der Nerven, vielleicht
auch des .Nervenäthers,wunderbare' Wirkungen zu entbinden
, von Pulsbefchleunigung und therapeutifchen Vorgängen
bis zu fcheinbaren Naturwundern wie Wandeln
auf dem Waffer ufw. Aus obigen Definitionen ergibt
fich fodann die Hauptthefe des Buches, daß Religion und
Suggeftion nichts miteinander zu tun haben, daß alfo die
fogenannten Wunder, die, foweit fie als verbürgt gelten
können, auf Suggeftion zurückzuführen find, die biblifchen
fo gut wie die außerbiblifchen, aus dem Bereich der Religion
gänzlich auszufcheiden haben. Die Kraft des
Wundertäters ift Willenskonzentration, die übrigens im
weitgehenden Maße erlernbar ift, der ,Glaube' des zu
Heilenden eine entfprechende gleichfalls voluntariftifch
beftimmte Einftellung des Bewußtfeins. Mag echt Re-
ligiöfes wie Gebet und Glaube im fpezififchen Sinne in
diefe Vorgänge hineinfpielen, notwendig ift das nicht.
Das gilt auch von Jefu Heilungs- und Naturwundern, wie
in längeren Darlegungen zu erweifen gefucht wird (Berufung
befonders auf Mark. II, 23). Wenn Verf. auch
darin entfchieden zu weit geht, daß er behauptet, aus
den neuteftamentlichen Wunderberichten laffe fich die
von ihm aufgeftellte Thefe, die dem mit den modernen
Auseinanderfetzungen über die Wunderfrage Vertrauten
übrigens durchaus nicht überrafchend neu ericheint, direkt
ableiten, fo find feine klaren und entfchiedenen, von eingehendem
Studium der okkulten Phänomene und wirklichem
Verftändis für die Eigenart der Religion zeugenden
Ausführungen nichtsdeftoweniger zu begrüßen.
Iburg. W. Thimme.

Ragaz, Leonhard: Weltreich, Religion und Gottesherrschaft. 2 Bände.
(367 u. .131 S.) 86 Erlenbach-Zürich, Rotapfel-Verlag 1922. Gz. 22,5.
Elfter Band. Zur Einführung (Dem Durchbruch entgegen) S. 9.
— 1. Klärungen S. 13. — 2. Das R. G. (Reich Gottes) und das Reich
der Welt S. 47. — 3. Das R. G. und die Religion S. 141. — 4. Das
R. G. und die Theologie S. 222. — 5. Das R. G. und das Pfaffentum

S. 273. — 6. Das R. G. und die Kirche S. 311.--Zweiter Band.

I. Das R. G. und der Sozialismus S. 7. — 2. Das R. G. und der Staat
S. 80. — 3. Das R. G, und die Wcltnot S. 190. — 4. Die Reformation
S. 28t. — 5. Der neue Katholizismus S. 331. — 6. Die Religiös-Sozialen,
ein Durchbruchsverfuch S. 376. — 7. Wir harren eines neuen Himmels
und einer neuen Erde. Eine Predigt. S. 404. In diefem Werke hat R.
unter den vorangeftellten Kapitelüberfchriften diejenigen feiner Auffätze
(von 1906—21, befonders aber aus der Kriegszeit) gefammelt, die er
für dauernd bedeutungsvoll hält. Das gar zu Aktuelle ift weggelaffen,
diejenige Höhe reiner Grundfätzlichkeit, die R. feiner Natur nach überhaupt
zugänglich ift, ift erklommen. Das bedeutet nicht, daß die unerträglichen
Äußerungen ganz fehlen. Noch immer fleht in oder zwifchen
den Zeilen zu lefen, daß Deutfchland am Kriege die Schuld trägt und
ein Teil der deutfchen Theologen blutberaufchte Wüteriche waren, daß
Wernle (denn er ift I 18 gemeint) trotz feines Jefus' ein Anbeter des
Juppiter Kapitolinus ift, daß der Friede von Verfailles nach weltlichen
Begriffen ein befonders edelmütiger war, und dgl. mehr. Doch man
wird folche Worte immerhin viel feltener finden als in den ,Neuen Wegen'.

Die beiden Bände fordern alfo dazu auf, vom Aktuellen abzufehen und
R. den Denker und Theologen grundfätzlich zu beurteilen. Sie ermöglichen
einen Einblick in die ganze Breite von R.'s gegenwärtigen Anfchauungen.
— Es nimmt einen im ganzen doch wunder, wie diefer Mann je ftärkern
Eindruck machen konnte. Zu einem wirklichen Durchdenken der Probleme,
zu einer ftreng gerafften Gedankenentwicklung kommt er doch nirgends.
Er bleibt immer und überall Prediger, und die Verfuchung des die
großen Zeiterfcheinungen beurteilenden Predigers, Eindrücke einer relativ-
befchränkten Menfchlichkeit im abfoluten Tone als Wort Gottes aus-
zufprechen und darüber die fachliche Begründung zu vergeffen, — diefe Verfuchung
wird ihm gar zum Verhängnis. R. ift halt auch ein ,Kriegstheolog',
nur einer mit negativem Vorzeichen. Es ift darum nahezu unmöglich,
fich mit R. wiffenfchaftlich auseinanderzufetzen. Verfucht man z. B.
über Recht und Staat mit ihm zu reden, fo merkt man, daß zu folchem
Dialoge eine wefcntliche Vorausfetzung fehlt: nämlich die, daß R. überhaupt
über Recht und Staat je ernftlich nachgedacht hätte. Er hat in
R. Rothe's theologifcher Ethik ein gewiffes Bildungsfundament,
er hat etwas Tolftoi gelefen und kennt die wichtigften Bibelfprüche,
die man in diefer Sache anzuführen pflegt, ja, und dann ift man
mit R.'s Bemühung um Staat und Recht fchon am Ende. Wenn
man aber gar, um ein andres Beifpiel zu wählen, die wiffenfchaftlichen
Grundlagen feines Auffatzes über die Reformation feftzu-
ftellen fich bemüht, fo ift das Ergebnis geradezu befchämend, wenigftens
angefichts deffen, daß R. bis vor kurzem Profeffor der Theologie
war. Meine Studenten müffen mehr von Luther wiffen als er. Und
fo gehts einem an allen Ecken und Enden. — Nun kann man auch, wenn
man an Tiefe des Denkens und Umfang der Bildung zurückftehn muß,
noch immer etwas leiften durch Einfalt der Motive und innere Folgerichtigkeit
des praktifchen Standpunkts. Aber auch mit diefen beiden
ftehts bei R. nicht gut. Man flößt erftens immer und überall bei ihm
auf unreinliche Mifchung der Motive. Man follte meinen, eins wenigftens
fei bei R. gefichert: daß er nur rede aus heiligem Eifer für Gottes Sache
heraus. Nein, er verfichert uns mehr als einmal, daß auch feine gut
fchweizerifche Gcfinnung ihn zu feinen Anfchauungen geführt habe.
Fahren doch kleine Völker in der neuen internationalen Organifation,
die das Gottes Reich bringt, am bellen. Und, um ein andres Beifpiel
zu geben für die Motivmil'chung: was begehrt R. eigentlich? Die reine
heilige Ewigkeit, in der die Gemeinde in Anbetung vollendet vor Gott
fleht, oder einen Zuftand höchfter irdifcher Wohlfahrt, etwa dem ähnlich,
in dem uns Laßwitz die vereinigten Marsbewohner gefchildert hat ? Er
faßt das Gottesreich fowohl als diesfeitig wie als jenfeitig, fowohl
als von Gott gefchenkt als von uns Menfchen erarbeitet. Es ift fo diesfeitig
, daß er Bellarmin's berühmte Definition der Sichtbarkeit der ka-
tholifchen Kirche auf das Reich Gottes anwendet, — fo jenfeitig, daß er
die eschatologifche Transzendenz des neuen Teftaments für die Erfcheinung
des Gottesreichs fich aneignet. Zweitens, auch abgefehen von der Mo-
tivmifchung nehme ich einen erfchreckenden Mangel an Folgerichtigkeit
wahr. Am ernfteften noch vertieft R. fich in das Problem des Patriotismus
. Dabei kommt er zu dem Schluß, daß es dem Chriften bis zum
Kommen des Gottesreichs hin auch geftattet fei, den Waffendienft zu
leiften, — vorausgefetzt, daß er ihn als ein Leiden empfinde. R. ahnt gar
nicht, daß er damit einen Gefichtspunkt gegriffen hat, der für den
deutfchen Chriften im Krieg große Wichtigkeit befeffen hat. Und er
ahnt weiter nicht, daß er mit diefem Zugeftändnis die Vorausfetzungen
feiner ganzen Ethik zertrümmert. Wird der Unterfchied zwifchen Gewalt und
Liebe auch nur an einem einzigen Punkte in die Innerlichkeit der
Gefinnung verlegt, fo finke er überhaupt dahin und hört fomit auf, ein
Kriterium gegen das Strafrecht und den Krieg herzugeben. Die Tol-
ftoi'fche Deutung der Bergpredigt ift dann dahin, und die Ethik Luthers
fleht vor der Tür. — Sucht man nach einem zufainmenfaffenden Wort für
R.'s Gefamtanfchauung in der Geftalt, die fie nun angenommen hat (er
rückt, wenn auch mit fchwerem Herzen, von Sozialdemokratie und Ver-
failler Völkerbund ab), fo fällt nur das eine: Chiliasmus. Aber
es ift der Sinn diefer Befprechung, klar zu machen, daß diefer Chiliasmus
durch und durch unecht ift. Vom Wunder wird gar wenig geredet,
von menfehlicher Arbeit für das Kommen des Reichs (recht im Unterfchied
von der Bibel) defto mehr. Und vor allem, es fehlt diefer Verkündung
am Ernft des Glaubens: muß der Lutheraner diefem angeblichen
Reformierten das soli deo gloria ins Gedächtnis rufen? Schließlich flößt
man allerorten auf einen Anthropozentrismus, der fich mit Unrecht in
den Prophetenmantel hüllt. Schließlich ift das, was R. will, von dem
gar nicht fo fehr verlchieden, was der von ihm bekämpfte Kultur-
proteftantismus wollte. Die Freude an großen Worten und dramatifchen
Ausblicken und der Mangel an Wiffen und Klarheit, der viel engere
Anfchluß an Pazifismus, Demokratismus, Sozialismus und andere Er-
fcheinungen modern-diesfeitiger Rationalität, und endlich ftatt der Hillen
Demut das Bewußtfein, Gottes entfeheidendes Wort an die Menfchheit
zu fagen, — das ift alles, was diefen Religiös-Sozialen von einem platt
gemachten Richard Rothe unterfcheidet.

Göttingen. E, Hirfch.

Hermann, Priv.-Doz. Lk. Rudolf: Die Berg-Predigt und die Religiös-
Sozialen. Vorträge. (73 S.) 8°. Leipzig, A. Deichen 1922. Gz. 1,8.
Die hier faft unverändert abgedruckten Vorträge von
der I.Dortmunder Weltanfchauungswoche(i92i) wollen die
Stellung der Religiös-Sozialen zut Bergpredigt prüfen und
von der Bergpredigt aus eine Stellung zu den Religiös-
Sozialen fuchen. Sie geben, um einen feften Standort