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Ausgabe:

1923 Nr. 3

Spalte:

67-68

Autor/Hrsg.:

Wunderle, Georg

Titel/Untertitel:

Das religiöse Erleben 1923

Rezensent:

Wobbermin, Georg

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6}

Theologifche Literaturzeitung 1923 Nr. 3.

68

Auffatz, ein Aufruf an die Philologie, drängt im Unter-
fchied von der bloß intellektueliftifchen und der anti-
intellektualift-myftifchen Einftellung in der Wiffenfchaft
auf ein tertium hin: der rechte Philologe ift der fragende
Menfch, der ftets hinter jedem Teilmoment das Ganze
der fchaffenden und erlebenden und nach Ausdruck
drängenden Seele und in ihr das Glied eines gefchichtlich
gewordenen Ganzen fieht; der zwar feinem Blick nichts
Menfchliches fremd fein läßt, was wiffenswert ift, aber
nur in dem Höhepunkte der Entwicklung die bildenden
Kräfte fieht, die wieder Geiftesformen geftalten; dazu bedarf
es großer Linie finnbeftimmten Werdens durch die
Jahrhunderte hindurch, die eine Biographie des abend-
ländifchen Denkens ermöglichen. Im Hauptteil der Schrift
fucht Spr. die Folgerungen aus feiner Strukturlehre für
Lehrerbildung und Schulunterricht zu ziehen: die Ge-
fchichte liefert nur das Material für die Erkenntnis von
Einzelnen und Zeitaltern und zwar von dem Mittelpunkt
der Wertrichtung aus. So befriedigt man den Hunger
der Jugend nach Verftändnis des Menfchentums, der den
nach Verftändnis der Natur abgelöft hat. So kommt
man dem eigentlichen Urphänomen nahe, den bleibenden
feelifchen Grundmotiven; mit ihnen zu formen und zu
bilden und zwar durch Wertvergleichung, ift ein Ziel,
des noch über den geheimnisvollen Akt des Verftehens
hinausführt, Eine Formung feines Menfchentums in feinem
Innern erlangt der Menfch nur im geiftigen Umgang mit
geprägtem Menfchentum hiftorifcher Bildungsmächte.
Marburg. F. Niebergall.

Wunderle, D. Dr. Georg: Das religiöTe Erleben. Eine bedeutungs-

gefchichtliche u. pfycholog. Studie. (91 S.) kl. 8°. Paderborn, F.
Schöningh 1922. Gz. 0,8.

Recht und Notwendigkeit der religionspfychologifchen
Arbeit belegt vielleicht am beften der Umftand, daß fie
fich neueftens auch innerhalb der katholifchen Theologie
Bahn zu brechen beginnt. Unter den in diefer Beziehung
in Betracht kommenden Gelehrten fleht an vorderfter
Stelle Georg Wunderle, Profeffor der Apologetik und
vergleichenden Religionswiffenfchaft an der Univerfität
Würzburg.

Die vorliegende Schrift behandelt in fünf Abfchnitten
religionspfychologifche Prinzipienfragen in einer auch für
uns beachtenswerten Weife. Die vielfach geforderte Be-
fchränkung auf das Gebiet rein empirifcher Pfychologie
wird abgelehnt. Tatfächlich ift ja im engeren Sinne reli-
gionspfychologifch noch nicht eine Forfchung, welche
die herkömmlich (mit Recht?) als religiös bezeichneten
Phänomene pfychologifch behandelt, fondern erft eine
folche, welche die religiöfe Erfahrung in ihrer fpezififch
religiöfen Eigenart zur Vorausfetzung und Bedingung
ihrer Unterfuchungen zu machen beanfprucht und daher
ganz und gar an der Frage nach dem fpezififch oder
wefensmäßig-Religiöfen orientiert ift. Auf die in dem
letztgenannten Begriff anklingende Analogie zur phäno-
menologifchen Methode Hufferls weift auch Wunderle
feinerfeits felbft hin. Volle Zuftimmung verdient fodann
mein. Erachtens weiter die ftarke Betonung des Wirk-
lichkeits-Bewußtfeins im religiöfen Erleben. Wenn aber
in diefem Zufammenhang das ,gegenftändliche' Moment
des religiöfen Erlebens ohne weiteres als intellektuelles'
bezeichnet wird, dann beginnt hier eine mindeftens miß-
verftändliche Terminologie. Wie irreführend fie wirkt,
zeigt fich denn auch alsbald in der Behauptung, die Feft-
ftellung der Exiftenz Gottes müffe vor allem Glauben
und Erleben durch Denkarbeit geleiftet werden. Der
abfchließende Abfchnitt über die Myitik enthält manche
gute Bemerkung zur Frage nach dem Verhältnis zwifchen
myftifchem und gewöhnlichem religiöfem Erleben, gegen
deren vollftändige Auseinanderreißung W. nachdrücklich
polemifiert.

Daß der Verfaffer mit Vorliebe Beifpiele aus der
Scholaftik heranzieht, ift verftändlich und — bedingter

Weife — berechtigt. Denn es finden fich allerdings bei
den Scholaftikern mancherlei religionspfychologifche An-
fätze; aber es finden fich bei ihnen auch fehr viele fehr
andersartige, die jene durchkreuzen und fie hindern, fich
auszuwirken. Andrerfeits wird von Wunderle die Religionsbetrachtung
Schleiermachers im pfychologiftifchen
Sinne mißdeutet. Der Begriff ,Gefühlsreligion' bezeichnet
diePofition Schleiermachers nur fehr teilweife und ungenau.
Denn er bringt weder zum Ausdruck, daß es fich um
das Gefühl als unmittelbares Selbftbewußtfein handelt,
noch auch, daß das fo zu verflehende .Gefühl' für
Schleiermacher! gerade erft in der Objektbeziehung feine
religiöfe .Beftimmtheit' d. h. fein entfcheidendes und
unterfcheidendes Wefensmerkmal hat.

Göttingen. Georg Wobbermin.

Hermann, Priv.-Doz. Lic. Rudolf: Zur Frage des religionsprycho-
logiCohen Experiments. Erörtert aus Anlaß der Religionspfycbologie
Girgenfohns. (Beiträge zur Förderung chriftlicher Theologie 26, 5.)
(66 S.) 8°. Gütersloh, C. Bertelsmann 1922. Gz. 2.

Daß Girgenfohns Werk über den feelifchen Aufbau
des religiöfen Erlebens befonders wegen der Einführung
experimenteller Methoden in die Religionspfychologie
Widerfpruch erfahren würde, war zu erwarten. Daß
diefe Methoden und die durch fie gewonnenen Ergebniffe
der forgfamften Nachprüfung bedürfen, ift einfach felbft-
verftändlich. Wenn fich aber herausftellt, daß auch bloß
einige bisher nicht erreichte Auffchlüffe Girgenfohns
Leiftung gutzufchreiben find, fo hat er jedenfalls nicht
vergeblich die große Arbeit auf fich genommen, die er
verrichtet hat. Auch der Verf. der vorliegenden Schrift
kann nicht umhin, eine Anzahl von Girgenfohns Resultaten
als neue Erkenntniffe anzuerkennen. In der Hauptfache
jedoch treibt er gegen deffen experimentelles Verfahren
Polemik. Manches, was er dagegen einzuwenden
hat, ift ja auch berechtigt. Der ganze Standpunkt aber,
der feinem kritifchen Unternehmen zugrunde liegt, ift von
vornherein nicht geeignet, um von ihm aus Girgenfohns
wiffenfchaftlichen Bemühungen gerecht zu werden. Der
Verf. tritt fehr beftimmt für die Priorität der Erkenntnistheorie
vor der Pfychologie ein und meint, daß Girgen-
fohn umgekehrt jene auf diefe begründen wolle. Anlaß
zu diefer Auffaffung konnte ihm freilich der Schluß des
Buchs von Girgenfohn (S. 701 f.) geben. Aber wenn diefer
hier auch erwartet, daß ,aus der pfychologifchen Neuentdeckung
der Synthefe und ihrer experimentellen Beobachtung
' ein neuer philofophifcher Idealismus entliehen
werde, fo konnte er doch wohl nicht ohne Grund auf die
analoge Entwicklung hinweifen, die fich an Kants Frage
nach den fynthetifchen Urteilen a priori als die Grundlage
feiner Erkenntnistheorie weiterhin angefchloffen hat.
Pfychologie und Erkenntnistheorie laffen fich eben gar
nicht fo exklufiv von einander fondern, daß die eine Disziplin
auf Erkenntniffe aus der andern einfach follte verzichten
müffen. Wenn aber der Verf. von feinen Voraus-
fetzungen aus G's Auffaffung auf Pfychologismus beurteilt,
fo ift das ein Vorwurf, der, wenn er berechtigt wäre, mit
zureichendem Grunde erft hätte erhoben werden können,
wenn eine erkenntnistheoretifche und nicht vielmehr eine *
pfychologifche Arbeit G's zu beurteilen gewefen wäre.
So aber hat G. fich in feinem Buche fo ftreng auf fein
pfychologifch.es Material befchränkt, daß ich in keiner
Weife anerkennen kann, daß er den berechtigten Inter-
effen einer wiffenfchaftlichen Erkenntnistheorie zu nahe
getreten wäre. Scheint fich dagegen der Verf. als den
berufenen Anwalt der von G. vermeintlich gefährdeten
Vorzugsftellung der Erkenntnistheorie zu fühlen, fo habe
ich aus feinen Ausführungen doch nur den Eindruck gewinnen
können, daß feine eignen erkenntnistheoretifchen
Intereffen von einer unverkennbaren apologetifchen Tendenz
beftimmt find. Denn eben aus einer folchen erklärt
fich bei ihm die Thefe von dem Vorrang der Erkenntnistheorie
vor der Pfychologie, die er wie ein Dogma
gegen G's ganz anders gerichtete und zwar durchaus