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Ausgabe:

1923 Nr. 2

Spalte:

44-45

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Fr. W.

Titel/Untertitel:

Wilhelm Herrmann. Ein Bekenntnis zu seiner Theologie 1923

Rezensent:

Stephan, Horst

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Theologifche Literaturzeitung 1923 Nr. 2.

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Arbeiterfrage, Ehereform, Gewalt- und Kulturpolitik, Kapitalismus
und Chriftentum, — fchließlich wichtige Bezirke
der Praktifchen Theologie: Gemeindebildung, Bekehrung
und Kindertaufe, Enthufiasmus des Anfangs und geprägte
Sitte der Volkskirche, — kurz, es gibt diefes Buch ungewollt
einen ftarken Eindruck davon, welche bildende
Aiacht der Miffion und der Befchäftigung mit ihr innewohnt
, wie Miffion draußen und ihre Rückwirkung auf
die Heimat die Kernfrage wahrer Bildung zu löfen
vermögen, reiche Fülle mit Einheitlichkeit des Ganzen
organifch zu verbinden wiffen. Diefen Hauch einer wahrhaft
großen menfchlichen Angelegenheit fpürt man Richters
Buch ab, vielleicht am meiften aus der Darfteilung der
füdafrikanifchen Verhältniffe, deren Entwicklung unabfeh-
bare Folgen mit fich bringen wird.

Dem Stoff alfo verdankt dies Buch fein Gewicht. Aber dieDar-
ftellung? Zunächft fallen auf zahlreiche fprachliche Harten (Wegfall des
Hilfszeitwortes; auf ein ,teils' fehlt das zu erwartende .teils' u. ä.), nicht
wenige Schönheitsfehler (der Abfchnitt b ift gekennzeichnet, das ent-
fprechende a ift vergeffen; im Zitieren waltet eine gewiffe Unregelmäßigkeit
), iiberfehene Druckfehler (S. 769 Mitte 1. Auslandes ftatt Anftandes
u. a.). Das muß gcfagt werden, weil fchon die .Miffionslehre' in diefer
Hinficht mißfiel (vgl. die katholifche Z. f. Miffionswiffenfchaft 1922
S. 119). Es verrät fich in diefen Kleinigkeiten ein Mangel an Muße
und Abftand vom Stoff, worunter fchließlich nicht bloß die formale Dar-
ftellungskunft, fondern die Sache felbft leidet. Der Stoff hat den Dar-
fleller erdrückt. Die eigentliche Aufgabe des Hiftorikers, obgleich
gelegentlich angedeutet (vgl. die Bemerkung auf S. 758 oben über Ge-
fchichte der Miffionsmethode!), bleibt darüber unerfüllt. Denn die geo-
graphifche Anordnung ergibt noch keine Gefchichte, fondern bloß eine
Chronik..

Zu wirklicher .Gefchichte' fehlt dem Buche überdies
ein gewiffer großer Stil. Man fpürt ihm zu wenig ab
von der Tragik, die doch in aller Miffion Hegt, ich
meine die Spannung zwifchen Reich Gottes und der
Welt, die ja fchließlich aller .Kirchen-Gefchichte' innewohnen
muß. .Reichsgottes- und Kultur-Arbeit' gehen
in dem Buche zu glatt in einander überl Daß der
Miffionar zum Sprachforfcher, Volkserzieher, Kulturträger
ufw. wird, das vollzog fich in der Wirklichkeit nicht fo
einfach, wie man aus Richters Buch herauslefen könnte.
Ich erinnere nur an eine (mir privat mitgeteilte) Epifode: |
Der ältere Chriftaller erhielt für feine 1875 erfchienene
Grammatik der Tfchi-Sprache vom Inftitut de France
die goldene Medaille. Was tut er? Er fchließt die
Auszeichnung in feine Schublade ein, und erft nach
feinem Tode haben die Kinder das ehrenvolle Gefchenk
aufgefunden! Diefe private Befcheidenheit verrät zugleich,
wie tief eingewurzelt dem deutfchen Pietismus das Mißtrauen
gegen ,die Welt' ift, und wie er nur wider Willen
in die Händel diefer Welt hineingezogen wurde. Das
Richterfche Buch ift zu wenig pietiftifch, um diefe tra-
gifche Spannung deutlich herauszubringen. Es ift aber
auch zu wenig auf orthodox-objektive Religion eingeftellt,
um etwa Livingstone's kollektive Gedankenrichtung
oder auch die ähnlich zu begreifende Eigenart des katho-
lifchen Miffionswefens recht würdigen zu können. Albert
Schweitzer hat in feinem Buch .Zwifchen Waffer und
Urwald' hierzu Tieferes gefagt (vgl. dort S. 15 5 f.). Schließlich
ift Richters Buch auch wieder nicht modern indivi-
dualiftifch genug, um die gelegentlich auftauchende omi-
nöfe Lofüng von der proteftantifchen .Perfönlichkeitsreli-
gion' wirklich durchzuführen. .Liberal' ift in dem Buche
ein Prädikat, mit dem der Theologe Albert Schweitzer
(S. 191 Anm.) und gelegentlich fonft noch ein Theologe
gekennzeichnet wird, — offenbar doch, um eine Verschiedenheit
zwifchen dem Verfaffer und jenen zitierten
Namen auszudrücken. Wann wohl einmal folche Etiketten
aus der Miffionsliteratur verfchwinden werden?

Eine mittlere Theologenlinie alfo ift es, auf der fich
das Buch bewegt. Infolgedeffen tritt die Tragik aller
Miffion nicht fcharf hervor. Trotz fubjektiv klaren
Miffionswillens fällt die Darfteilung immer wieder zurück
in den Stil der dem Tragifchen und den Spannungen
entrückten Propaganda. So komme ich zu dem Ergebnis
: eine unentbehrlicheStofffammlung zur afrikanifchen

Miffionsgefchichte, zufammengeftellt nach geographifchen
Gefichtspunkten, ohne fcharfe Herausarbeitung der tragifchen
Spannung zwifchen Miffion und Propaganda,
von der doch wahrlich auch die afrikanifche Miffionsgefchichte
zu zeugen weiß. Eine auffchlußreiche Chronik,
aber noch keine ,Gefchichte'!

Gießen. Heinrich Frick.

Schmidt, Priv.-Doz. F. W.: Wilhelm Herrmann. Ein Bekenntnis zu
feiner Theologie. (Slg. gemeinverft. Vorträge a, Schriften 100) (68
S. m. i Bild). Tübingen, J. C. B. Mohr 1922. Gz. 0,8.

Die Schrift liefert etwas, das dringend notwendig war.

H. weckte zu lebendiger Selbftändigkeit, wollte keine
Schule noch ein alleinfeligmachendes Syftem begründen.
Das war feine Größe; aber es fchließt in einer Zeit, die
den Rhythmus ihres Lebens an Blitzzug, Kaleidofcop
und Film regeln will, zugleich die Gefahr in fich, daß
man fein vergißt, ehe er feine Sendung voll verwirklichen
konnte. Dem wehrt Sch.'s Schrift, indem fie mit feinftem
Verftändnis von H.s Perfönlichkeit aus das Bild feiner
Theologie entfaltet. Er geht nicht nur den Hauptfchrif-
ten nach, fondern vor allem auch feinen verftreuten, fchwer
zugänglichen Auffätzen und Vorträgen, die oft gerade
die besten Geftaltungen feines inneren Wollens enthalten;
zahlreiche Zitate ftellen uns H. felbft lebendig vor das
Auge. So fchildert Sch. in einem treuen Bilde, wie H.

I. das Wefen der Religion im Verhältnis zum Welterkennen
und zur Sittlichkeit, 2. den Glauben und feine
Begründung verfteht. Aber er gibt noch mehr. Mit
einfühlender Liebe und verftehender Schülerfchaft verbindet
fich eine felbftändige Kenntnis der heutigen theo-
logifchen Lage, ihrer Schwächen und ihrer Notwendigkeiten
, daher auch ein gutes Urteil darüber, in welcher
Art die Grundgedanken, die H. als Trieb- und Tragkraft
der evang. Theologie erwiefen hat, gerade jetzt ihre Anwendung
oder Fortbildung finden müffen; dem gilt neben
mancher Ausführung der beiden erften Teile vor allem
der 3.: Rückblick und Ausblick.

H.s Theologie hat ihre Bedeutung darin, daß fie von
immer neuen Seiten her die Grundprobleme aufgräbt und
gewiffe Grundfätze unverlierbar ins Bewußtfein hämmert.
So vertieft er beftändig das Verftändnis des Glaubens
(das ift viel wichtiger als die meift überbetonte apologe-
tilche Seite feiner Theologie), zwingt zur Ausbildung
adäquater Methodik, führt die Theologie — natürlich
immer im Bunde mit den übrigen Schülern Ritfchls —
noch mehr als diefer auf Luther zurück und arbeitet aus
Ritfehl wie aus Schleiermacher das heraus, was für uns
noch heute fruchtbar ift. Das Leitmotiv, das durch all
feine Einzelfätze über Wahrhaftigkeit, Sittlichkeit, Chriftus,
Grund des Glaubens und Glaubensgedanken hindurchklingt
, ift die Lebendigkeit und Wahrheit des Glaubens
oder das Finden Gottes im Gehorfam gegen die Wahrheit
und das Leben, das uns in der demütigen Hingabe an
Gottes Willen gefchenkt wird. Von da aus erhalten vor
allem 2 wichtige Begriffe ihr neues Gepräge: die des Erlebens
und der Gefchichte. Der Begriff des Erlebens,
den H. in die Theologie einführt, hat nichts von fenti-
mentaler, relativiftifch-pfychologifierender Weichheit; er
faßt die perlönliche, die gefchichtliche und die gefchenk-
hafte Art des Glaubens in fich zufammen, verbindet mit
der tiefften Subjektivität die tragende Objektbezogenheit.
Deshalb mündet er notwendig in den Begriff der Gefchichte
, der zu alledem die Momente des Geiftig-Sitt-
lichen und des Zufammenhangs im göttlichen Willen hinzufügt
, den Gegenfatz von Vergangenheit und Gegenwart
, von Individuum und Gemeinfchaft, von Autorität
und Freiheit überwindet. Meift ift es das Zentrum, d. h.
das Verhältnis des Glaubens zu Chriftus und zum Sittlichen
, woran H. feine Gefamtanfchauung entwickelt;
aber da feine Gedanken keine Spur von hinge und Ex-
klufivität befitzen, gewinnen fie univerfale Bedeutung.
Sch.s ganze Darftellung, befonders aber fein Schlußab-
fchnitt regt unwillkürlich dazu an, in folcher oder ähn-