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Ausgabe:

1923 Nr. 2

Spalte:

550-552

Autor/Hrsg.:

Becher, Erich

Titel/Untertitel:

Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften 1923

Rezensent:

Titius, Arthur

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549

Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 25/26.

550

Sehr, beginnt mit diesen Heften die Veröffentlichung : Becher, Prof. Erich: Geisteswissenschaften und Naturwissenseiner
Stuttgarter Vorträge und sonstiger kleiner Ar- | Schäften. Untersuchungen zur Theorie und Einteilung der Real-
beiten. Den Gesamttitel „Gegen den Strom" wird jeder, Wissenschaften. München: Duncker & Humblot 1021. (XII, 335 s.)

der die Lebensgeschichte Schr.'s kennt, zunächst dahin
verstehen, es solle sich um den grundsätzlichen Kampf
gegen das kirchliche Christentum und die in ihren letzten
Zielen diesem dienende Theologie handeln. Indes der
Leser, der mit dieser Erwartung an die Hefte herangeht,
wird in erfreulichster Weise eines Besseren belehrt.
Sehr, selbst gibt jenem Titel einen ganz anderen Sinngehalt
. Die Worte sollen zwei Ziele, die in entgegengesetzter
Richtung liegen und doch in eines zusammenfallen
, zum Ausdruck bringen: zurück zu dem letzten
Ursprung des Lebens, zur ursprünglichen Natur; und:
vorwärts zur Vollendung des Lebens, zum ewigen Leben.
Damit wird die Kultur als Ziel abgelehnt. Das einheitliche
Doppelziel bedeutet vielmehr: hinter alle Kultur
zurück und über alle Kultur hinaus. Diesem Programm
Schr.'s kann der Theologe nur aufs freudigste
zustimmen. Denn gerade die Religion — am reinsten
und schärfsten die christliche — ist ihrem tiefsten Wesenskern
zufolge kulturkritisch. Die die übliche Be-
handlungsweise direkt oder indirekt leitende Fragestellung
, ob die Religion kulturfreundlich oder kulturfeindlich
sei, ist unzureichend; sie verbleibt an der Oberfläche
. Wesensmäßig ist die Religion gerade kulturkritisch
in dem von Sehr, umschriebenen Sinne.

Der Umstand, daß Sehr, seinerseits auf den zuletzt
genannten Sachverhalt nicht aufmerksam macht,
ändert an dem Tatbestand selbst nichts. Wohl aber
wird von hieraus verständlich, daß sich in den
Ausführungen Schr's doch auch jene andere, anfangs
als Leitmotiv vermutete Tendenz geltend macht; und
zwar nicht etwa nur in der berechtigten Form steter
Bereitschaft zu kritischer Besinnung und Nachprüfung,
sondern auch in dem einer gewissen stimmungsmäßigen
Voreingenommenheit. Wie diese beiden aus- und gegeneinander
strebenden Tendenzen die Darlegungen Schr.'s
in verschiedenartigen Graden der Über- und Unterordnung
beherrschen, kann hier nicht im Einzelnen gezeigt
werden. Nur für eine übergreifend wichtige Gedankenreihe
sei es kurz angedeutet.

Die in der tiefdringenden Untersuchung über das
Verhältnis von Geschichte und Mythus (l.Heft, S. 4ff.)
gewonnene Einsicht, daß alles Auslegen der Geschichte
gebunden bleibt an Daten, die wir erlebt haben, wird
doch getrübt durch die einseitige Überspannung unserer
Selbständigkeit gegenüber der Geschichte. Diese Überspannung
führt dann zu dem Satz, man tue besser daran,
sich um die Kirche nicht zu kümmern, wenn man sich
ernsthaft mit seinem Heil beschäftige. Und ins Objektive
gewendet wiederholt sich diese Einseitigkeit in dem
Aufsatz über den Mythus vom Volke Gottes (2. Heft,
S. 70ff.). Die Gefahren und die Irreführungen des in
der Selbstbezeichnung des „auserwählten" Volkes liegenden
Werturteils werden von Sehr, klar und scharf
aufgezeigt. Aber die diesem Werturteil letztlich zu Grunde
liegenden echt religiösen Motive werden nicht mit
gleicher Sicherheit herausgestellt. Und doch kommt Sehr,
nachträglich mit seinen eigenen Reflexionen über den
Gedanken der geschichtlichen Sendung diesen Motiven
ganz nahe.

Begründet ist dies Mißverhältnis von Position und Negation der
Stellungnahme hier und ebenso in den anderen Aufsätzen darin, daß
die Methodenfrage nicht scharf gestellt und eindeutig behandelt
wird. Wohl finden sich Ansätze wertvollster Art; aber in ihrem
vollen Umfange und ihrer letzten Tiefe wird sie nicht einmal aufgeworfen
, geschweige denn beantwortet.

Eih Moment ist es aber, das bei allen Einseitigkeiten
und Übertreibungen die Lektüre der Darlegungen
Schr.'s nicht nur außerordentlich lehrreich, sondern auch
zu einem hohen Genuß macht: das überall zu spürende
aufrichtige und unermüdliche Streben nach Wahrheit.
Durch dieses bewährt sich Sehr, trotz allem als echter
&eoX6yog.

Göttingen. G. Wobbermin.

Lex. 8°. ' Gz. 12

In Erkenntnistheorie und Psychologie vorzüglich
den Spuren von B. Erdtnann und Stumpf folgend,
bietet Becher eine sorgfältige und umfassende Untersuchung
der Theorie und Klassifikation der Wissenschaften
, die durch Windelbands und Rickerts bekannte
methodologische Untersuchungen angeregt, aber überwiegend
im Gegensatz zu diesen, sich zu einer selbständigen
und allseitigen Behandlung der Probleme auswächst
. In einer vorbereitenden, etwas umständlichen
Darlegung werden das Wesen der Wissenschaft bestimmt
(S. 6), die möglichen Prinzipien ihrer Einteilung gewonnen
und Mathematik und Logik als Idealwissenschaften
von den Realwissenschaften abgetrennt. Der Hauptteil
untersucht Theorie und Einteilung der Realwissenschaften
nach ihren Gegenständen, Methoden und Erkenntnisgrundlagen
; B. kommt zu dem Ergebnis, daß eine „möglichst
adäquate" Einteilung von den Gegenständen
ausgehn, aber auch der Verschiedenheit der Methoden
und der Erkenntnisgrundlagen Rechnung tragen müsse
und findet diese in dem Schema: 1. Naturwissenschaften
, 2. Geisteswissenschaften (a. Psychologie, b. Kulturwissenschaften
), 3. Metaphysik (als „die auf das Gesamtwirkliche
eingestellte Realwissenschaft" S. 318—328)
gegeben. Sehen wir von der nur anhangsweise berücksichtigten
Metaphysik hier ab, so ist das Ergebnis nicht
eben überraschend, aber es ist mit viel Gründlichkeit erarbeitet
und durch eingehende Kritik abweichender Annahmen
gestützt. Darüber hinaus sind auch die gemeinsamen
Grundlagen der Realwissenschaften in eingehender
Untersuchung geklärt worden. In entscheidenden Punkten
wird man m. E. B.'s Beweisführung zustimmen müssen
, insbesondre in der Voranstellung der aus dem Stoff
sich ergebenden Gesichtspunkte vor den methodologischen
für die wissenschaftliche Klassifikation. Es
empfiehlt sich nicht, die generalisierenden oder nomothetischen
Wissenschaften mit den Naturwissenschaften,
die individualisierenden mit den Kulturwissenschaften zu
identifizieren, weil dadurch der wirkliche Wissenschaftsbetrieb
durch Gesichtspunkte zweiter Hand gemeistert
wird. Denn den Kulturwissenschaften, auch der Geschichtswissenschaft
läßt sich die Verwendung von Allgemeinbegriffen
und das Aufsuchen allgemeiner Gesetzmäßigkeiten
ebenso wenig verwehren wie den Naturwissenschaften
das Eingehn auf das Individuelle; auch
trägt keineswegs alle naturwissenschaftliche Erkennbus
nomothetischen Charakter. Überhaupt sind es stets die
Objekte, die, indem sie bemerkenswerte Übereinstimmungen
oder Besonderheiten zeigen, die Wissenschaft zu
generalisierender oder individualisierender Abstraktion
treiben. Beide Methoden versuchen es in ihrer Weise,
das Wesentliche aus dem Stoffe auszuwählen, um angesichts
der Überfülle des Wirklichen eine Maximalleistung
wissenschaftlicher Erfassung zu erreichen (S. 163. 212).
Für die Klassifikation der Wissenschaften bleibt man
daher am richtigsten bei den rein sachlichen Gesichtspunkten
stehn. Dann ergeben sich zuerst die Körperwissenschaften
, deren Erkenntnisgrundlage in der Sinneswahrnehmung
gegeben ist; für sie ist die Voraussetzung
einer „bewußtseinstranszendenten körperlichen Außenwelt
" (293) fundamental; echte Zwecke und Werte
kommen für sie nicht in Betracht, denn ihre Objekte
sind wertindifferent (S. 301. 308). Dagegen lassen sich
wertende, technische bezw. Zweckmäßigkeit erforschende
Teile dieser Wissenschaft sehr wohl denken (S. 314.
301) und zur Erklärung des Körperlichen dürfen auch
unkörperliche und seelische Faktoren, falls erforderlich,
berücksichtigt werden (S. 104 f.). Die Psychologie wird
dagegen mit Recht von den Naturwissenschaften getrennt
. Die sog. „objektive" Psychologie ist bloße Nerven
- und Reiz-Reaktionsphysiologie, dagegen sind für
die Psychologie die Methoden der Selbstbeobachtung