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Ausgabe:

1923 Nr. 23

Spalte:

496-497

Autor/Hrsg.:

Bohlin, Torsten

Titel/Untertitel:

Henri-Frédéric Amiel 1923

Rezensent:

Katz, Peter

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Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 23.

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Weisung. Man hört in der Welt- und Kirchengeschichte
wohl von Dragonaden unter Ludwig XIV. gegen Hugue-
notten und Waldenser, aber die bayrischen Dragonaden
sind bis jetzt unbekannt, sie setzen schon ein Menschenalter
früher ein. Überaus verzwickt sind die territorialen
und rechtlichen Verhältnisse zwischen Bayern und Nürnberg
. Was dieses zum Schutz seiner Untertanen in langen
Verhandlungen erreicht, ist meist bescheiden. Friedrich
der Große kam ein Jahrhundert zu spät für den
Schutz der Protestanten und das Quos ego für Bayern.
Groß ist der Religionseifer, der in dem kleinen Heldmannsberg
mit ansehnlichen Opfern eine katholische
Pfarrei schafft, weil nur so die Leute beim Katholizismus
erhalten werden können. Als nun Nürnberg an Bayern
fiel, kamen viele kirchliche Ordnungen in Abgang. Die
Kirchenzucht zerfiel, die Unzuchtsfälle nahmen stark
zu. Sehr zu beachten ist der Widerstand der Gemeinde
gegen die neuen, streng lutherischen Ordnungen unter
Harleß, besonders auch gegen die Liturgie. Leider fehlt
ein Schlußkapitel über die Gegenwart. Man möchte
doch erfahren, wie weit es gelang, das religiöse und sittliche
Leben im 19. Jahrhundert zu heben, und wie die
bayerische Regierung bemüht war, die Gemeinde, die
nach einem Bericht des Pfarrers Holste 1727 aus lauter
Bettelleuten bestand, auch wirtschaftlich emporzubringen
, wie dies Württemberg in den 1850er Jahren mit
verschiedenen Gemeinden gelang, z. B. in Grab (am Römergraben
), das heute eine wohlgeordnete Gemeinde ist.
Für Grimms Deutsches Wörterbuch bietet das Buch
manches, das in den Nachtrag kommen sollte, wie z. B.
Ableib, Schmergelpfaffe, Spitzlein (ein Gebäck).

Stuttgart. Q. Bosser t.

Berghoff, Joseph Ernst t: Franc.ois de Bonivard. Sein Leben
und seine Schriften. Heidelberg: Carl Winters Univ. Bchh. 1Q23.
(360 S.) 8°

Der Gefangene von Chillon, der durch Byron berühmt
geworden ist, wird zumeist als der ideale Märtyrer
der Freiheit angesehen. Aber schon die Arbeiten Cha-
ponnieres und der beiden Galiffe, Vater und Sohn, haben
diese Anschauung in wesentlichen Zügen verändert und
eine Revision dieses populären Urteils herbeigeführt.
Hier knüpfen denn auch Berghoffs Untersuchungen an,
die, vor dem Krieg abgeschlossen und zur Hälfte gedruckt
, nun durch die Verlagsbuchhandlung in ihrem gesamten
Umfang der Öffentlichkeit vorgelegt werden.
Man wird ihr dafür dankbar sein, nicht bloß weil so das
Gedächtnis eines Gefallenen in seinem Werk bewahrt
bleibt, sondern auch um der Wissenschaft willen, die
durch diese Arbeit gefördert worden ist.

B. geht in seiner Auffassung der Persönlichkeit
Bonivards in den Bahnen der Galiffe und entwirft
ein recht unerfreuliches Bild dieser Persönlichkeit. Von
dem großen Freiheitskämpfer bleibt nichts übrig, und
an seine Stelle tritt ein leicht beweglicher, humanistisch
gebildeter, aber im Grund kleiner und weichlicher
Mensch, der in der Hauptsache zu seiner oft recht bedenklichen
Handlungsweise durch die Sorge um seine
Erbschaft und um sein materielles Wohlergehen geführt
worden ist, und der zum Calvinismus übergegangen ist,
um die durch den Druck Berns erwirkten Genfer Pensionszahlungen
nicht zu verlieren,

An der Hand der Schriften Bonivards, also in literaturgeschichtlicher
Betrachtungsweise, führt uns B. in
die philologischen, historischen, philosophischen und
poetischen Leistungen Bonivards ein, wobei ihm nicht
ohne Glück getriebene archivalische Studien wesentlichen
Nutzen bringen; er fand nämlich einen Teil der
von dem alten Bonivard unter dem Titel les menues
pensees gesammelten Gedichte in Genf wieder. Überhaupt
ist das Stück der Arbeit, das sich mit dem Philologen
Bonivard beschäftigt — er kam vom humanistischen
Sprachideal her zur wissenschaftlichen Erforschung

der lebenden Sprachen und hat das erste uns bekannte
französisch-deutsche Wörterbuch verfaßt — besonders
geglückt.

Weniger günstig muß ich das beurteilen, was den
Theologen vor allem interessiert, die Ausführungen über
den Historiker und den Humanisten Bonivard. Eine
kritische Prüfung der Genfer Chronik Bonivards und
seines Traktats de l'ancienne et nouvelle police wäre für
die Geschichte Calvins ebenso wie für die Vorgeschichte
seiner Arbeit in Genf von Bedeutung; leider bringt B.
hier wenig Eigenes und schließt sich für den traite de
l'ancienne et nouvelle police völlig dem von ihm als
kanonisch beurteilten Calvin-Buch Kampschultes an; natürlich
auch nicht zum Vorteil seines eigenen Calvin-
Bildes. Und auch den Humanisten Bonivard hat B. nicht
umfassend genug angefaßt und darum nicht wirklich
erkannt. Schon die Anschauung Bonivards von der Entwicklung
der Kirchengeschichte — er hat über die Veränderungen
der Kirche, über die Häretiker, über das
Papsttum und über die difformes reformateurs gesonderte
Traktate geschrieben, die ganz von der bei Humanisten
und Spiritualisten lebendigen Anschauung vom
Ablauf der Kirchengeschichte und von der Bedeutung
der Reformation (Verfallstheorie) durchdrungen sind
— hätte Anlaß genug geboten, ihn z. B. mit Vives, Erasmus
und Castellio eingehend zu vergleichen; und das
um so mehr als die Beziehungen Bonivards zu der italienischen
Kolonie in Genf bekannt sind. Ich glaube,
daß bei einer solchen Verbreiterung des Ansatzes das
Bild der wissenschaftlichen Persönlichkeit Bonivards
schärfer geworden und der Zusammenhang und die
Eigenart seiner Anschauungen klarer hervorgetreten
wären.

Königsberg (Pr.). Erich Seeberg.

B o h 1 i n, Torsten : Henri-Fr6deYic Amlel. Stockholm : Buchverlag
d. schwed. christl. Studentenbewegung 1921. (191 S.) 8°. Kr. 3.50

A. , 1821 in Genf geboren, 1881 da gestorben, nachdem
er als Professor seit 1849 Ästhetik, seit 1854 Philosophie
gelesen hatte, ist der Nachwelt nicht der Verfasser
kühl aufgenommener Sammlungen von eignen
und übersetzten Gedichten und Aufsätzen, sondern dessen
, was er selbst „das Testament seines Denkens und
seines Herzens" nannte, des Tagebuchs, aus dem im
Jahr nach seinem Tode Freundeshand „Fragments d'un
Journal intime" herausgab. In die meisten Kultursprachen
möchten engere Auswahlen daraus geflossen sein.

Das Ringen des umfassend gebildeten, höchst feinfühligen
und verletzbaren Geistes um Gedankenhalt und
Festigkeit des Herzens bedeutet einen Einsatz in die
Seelengeschichte des 19. Jahrhunderts. A., der sein
Leben für ein verspieltes hielt, hat so von einer Seite,
die er nicht ahnte, die ersehnte Wirkung übers Grab
hinaus gefunden. Von Franzosen nennt Bohlin Renan
(Journal des Debats, 30. 9. 1884) und Paul Bourget
(Essais de Psychologie contemporaine, Paris, 1899),
die auf A. aufmerksam wurden und machten; Bourgets
abschätzige Beurteilung der deutschen Bestandteile in
A.'s Seelenleben zerpflückt er in feiner Weise.

An Nietzsche denkt man unwillkürlich, wenn man
liest: „Welche Eigenschaft gibt dem Gedanken Körperlichkeit
, Glanz, sich eingrabende Schärfe? Phantasie...
Der geniale Schriftsteller ... gibt jedem Gedanken, den
er aufgreift, seine Prägung. Viel übernimmt er aus dem
allgemeinen Erbschatz, und nichts gibt er wieder, aber
bereitwillig wird das, was er andern entlehnt hat, ihm
als Eigengut angerechnet. Er hat gleichsam einen Freibrief
, und das Publikum gestattet ihm, zu nehmen, was
ihm beliebt." N. hat A. gelesen (T. A. IX 208); leicht
ließe sich das von A. Bezogene zusammenstellen.

B. gliedert: I. Reisen, Professur in Genf, das Tagebuch
(S. 9—41); II. Über Literatur (42), Volk- (56) und
Frauenart (66), Musik- (72) und Natureindrücke (74);