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Ausgabe:

1923 Nr. 22

Spalte:

475-478

Autor/Hrsg.:

Rickert, Heinrich

Titel/Untertitel:

Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. 4. u. 5. verb. Aufl 1923

Rezensent:

Titius, Arthur

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Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 22.

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(1620), die 7 Teile der „Arien und Melodien" von Heinr. Albert
(1638—42), die „Praxis pietatis melica" von Joh. Crüger (Berlin 1647;
Frankfurt 1656), oder Joh. Crügers „Neues vollkömmliches Gesangbuch
" (1640), das „Neue ordentliche Hannoversche Gesangbuch"
(1646), das „Neue Preußische vollständige Gesangbuch" (1650), das
„Geistreiche Gesangbuch" von Joh. Anastasius (1704) hätten dabei
die verdiente Würdigung gefunden; die Magdeburger Gesangbücher,
auf die der Begründer unserer Sammlung seiner Zeit sein Kirchen-
Lieder-Lexikon aufgebaut hat (s. Vorrede zum 1. Bde., S. VIII ff ),
sind seltsamerweise nicht benutzt und erwähnt. Zu verlangen freilich
war eine solche Einleitung nicht; der Herausgeber hat genug damit
getan, wenn er seine Quellenwerke ganz objektiv vorlegt und es dem
Benutzer überläßt, durch sorgfältigen Gebrauch das Wichtigste von
dem minder Wichtigen scheiden zu lernen. Wenn die Zeiten andere
wären, als sie sind, würde ich aber doch den Wunsch äußern nach
einem Register zu dieser und den Wackernagelschen Bibliographien;
in ihnen steckt viel wertvolles Material nicht nur zur Hymnologie
und geistlichen Liederdichtung, sondern zur kirchlichen Kulturgeschichte
, zur Familien- und Personenkunde, zur Geschichte des Buchdrucks
, zur Kirchengeschichte überhaupt; Material, das jetzt unbenutzt
bleibt, weil es zu mühsam ist, die zahllosen Titel durchzusehn.
Wackernagel hat seiner Bibliographie auch den Abdruck mancher
Vorreden hinzugefügt; auch in unserer Sammlung wären wir gewiß
für manche lehrreiche Vorrede dankbar gewesen; aber der Verleger
hat ohnehin bei der Herausgabe des Buches schon Opfer gebracht,
und ohne Unterstützung der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften,
die beim VI. Bde. allerdings fortgefallen zu sein scheint, wäre die
Drucklegung gar nicht möglich gewesen. So wollen wir dankbar sein,
daß das Werk noch gerade zu günstiger Zeit fertig geworden ist, und
wollen uns freuen, daß wir in ihm und Wackernagel nun ein Corpus
hymnologicum Germanicum von der ältesten Zeit bis zum Ausgang
des 17. Jahrhunderts besitzen.

Ilfeld a. Harz. Ferdinand Cohrs.

Rickert, Heinrich: Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung
in die Transzendental-Philosophie. 4. u. 5. verb. Aufl.
Tübingen: J. C. B. Mohr 1921. (XVI, 395 S.) gr. 8°.

Gz. 12—; geb. 16—.

Ders.: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. 4. u. 5., verb.
Aufl. Tübingen: J. C. B. Mohr 1921. (VII, 169 S.) 8°.

Gz. 4—; geb. 7.50.

Rickerts Buch hat sich, wie der Erfolg zeigt, als Einführung
in die Tranzendentalphilosophie in hohem Maße
bewährt; es ist erstaunlich, mit welcher Klarheit und
anscheinenden Einfachheit er auch schwierige Gedankengänge
zu entwickeln weiß, und in wie verschiedener
Prägung er den gleichen Gedanken darzubieten vermag;
in dieser Beziehung wird bisweilen des Guten fast zuviel
getan. Doch ist das Buch weit mehr als ein gewöhnliches
Lehrbuch und führt bis in die letzten Fragen, um
die in der Erkenntnistheorie und der reinen Logik heute
gerungen wird. Die erste Etappe, um deren Gewinnung
und Behauptung es sich in den ersten zwei Kapiteln handelt
, ist der Standpunkt der Immanenzphilosophie. Den
Ausgangspunkt bildet der Begriff des Erkennens selbst;
er setzt außer dem erkennenden Subjekt einen Gegenstand
voraus, der erkannt wird d. h. einen Maßstab für
die Objektivität. Das Subjekt können wir als das psycho-
physische, das psychische, das erkenntnistheoretische
fassen. Das geistig-körperliche Ich wissen wir als ein
Ding unter Dingen, die ihm gleich sind; ein erkenntnistheoretisches
Problem kann hier noch garnicht entstehen.
Die Identifizierung der Wirklichkeit überhaupt mit dem
Bewußtseinsinhalt des psychischen Ich als eines individuellen
käme auf eine „logische Absurdität" hinaus (77).
Verstehen wir dagegen in vollendeter Abstraktion unter
dem Subjekt die bloße irreale Form des Subjekts, das
„Bewußtsein überhaupt", so können wir diesem ohne
Widersinn jeden beliebigen, also auch den ganzen Bewußtseinsinhalt
zuordnen und können ohne Widerspruch
mit unseren Voraussetzungen im Interesse möglichster
Voraussetzungslosigkcit das Vorkommen von Realitäten,
die keinem Bewußtsein immanent sind, bezweifeln. Ein
Beweis aber für solche nicht bewußtseinsimmanente Realitäten
läßt sich, wie eine Kritik der versuchten Beweisverfahren
zeigt, nicht einwandfrei erbringen. Dabei bleibt
zu beachten, daß Ungewußtes nicht etwa Unbewußtes

ist, und daß die Körper sich im Bewußtsein nicht weniger
unmittelbar vorfinden wie alles Wirkliche; Spiritualismus
ist also ebenso unhaltbar wie Materialismus
und transzendentaler Realismus. Mit dieser scharf erfaßten
Bewußtseinsimmanenz aller Objekte ist indes
erst die Grundlage für die Entfaltung der Gedanken gegeben
, welche R.'s Position ihre Eigenart aufdrücken.
Mit der Bewußtseinsimmanenz scheint die Objektivität
des Gegenstandes, ohne die es kein Erkennen gibt, verloren
gegangen und sie gilt es im 3. und 4. Kap. zurückzugewinnen
. Bewußtseinsjenseitig kann der Gegenstand
nicht mehr gedacht werden, wohl aber urteilsjenseitig.
Nicht durch Vorstellen nämlich vermag das erkennende
Subjekt wirklich zu erkennen, sondern nur durch Urteilen
d. h. durch kritische Stellungnahme, durch Bejahen
oder Verneinen: „Erkennen ist seinem logischen
Sinn nach Anerkennen von Werten oder Verwerfen von
Unwerten" (S. 167). Dabei ist selbstverständlich nicht
an ein praktisches Verhalten zu denken, sondern an ein
rein theoretisches, logisches. Aber auch auf diesem Gebiete
(wo es sich um wahr und unwahr handelt), sind
Wertungen unentbehrlich und zum Wesen der Sache
gehörig. Werte haften an realen Gütern, aber Werte als
Werte sind nicht wirklich; logische Werte gelten zeitlos
; wir werden, wenn wir urteilen wollen, durch den
Wert, von dem uns Gewißheit Kunde gibt, gebunden: wir
dürfen nicht willkürlich bejahen oder verneinen. Es
handelt sich immer um die Anerkennung der Notwendigkeit
, so und nicht anders zu urteilen (S. 176f.); zum
Unterschiede von der kausalen Notwendigkeit bezeichnet
R. sie als eine Notwendigkeit des Sollens. Der Erkennende
„soll den Inhalt als wirklich anerkennen, zu
dem die Form der Wirklichkeit gehört" (183). Diese
Verknüpfung ist entscheidend für das erkenntnistheoretische
Problem der Wirklichkeit überhaupt. Denn wenn
es Wirkliches nur für ein urteilendes Bewußtsein geben
kann, das seinem Inhalt die Form der Wirklichkeit beilegt
, so wird der Begriff der „transzendenten" Realität
in sich widerspruchsvoll (S. 186 f.). Das Sollen und
seine Anerkennung verleiht bereits, indem es Form und
Inhalt zum Gegenstande verbindet, den Urteilen die
Gegenständlichkeit, welche der Realismus durch eine
bewußtseinstranszendente Wirklichkeit gewährleisten will.
„Die theoretische Form ist der theoretische Wert, der
den theoretischen Gegenstand konstituiert" (S. 199).
Die ontologische Metaphysik ist daher durch eine reine
Wertwissenschaft zu ersetzen, eine Untersuchung über
die Geltung der theoretischen apriorischen Wertgebilde
(S. 228 A. 1. 236. 238). Die Urteilsjenseitigkeit des
irrealen Sollens, die von jedem Urteilsakt vorausgesetzt
wird, bestätigt sich bei der Analyse des „wahren Satzes",
denn seine „Bedeutung" läßt sich in keiner Weise als immanente
Wirklichkeit denken. Auch läßt sich das Wesen
dieses transzendenten Sinnes des wahren Satzes nicht
als ideales Sein bestimmen, sondern verständlich wird
er nur als „theoretisches Wertgebilde von transzendenter
Geltung" (S. 236). Wert und Sollen fallen, wie besonders
Lask betont hat, nicht zusammen; das Sollen ist noch
nicht der reine, sondern der durch das Subjekt gleichsam
alterierte Wert; die „reine" Logik führt vielmehr
auf den theoretischen, in sich ruhenden Wert und sein
Gelten (S. 241 ff.); doch warnt R. vor einer Unterschätzung
des „transzendental-psychologischen" zu Gunsten
des „reinlogischen", abstrakt konstruierenden Verfahrens
, da niemals das urteilende Subjekt ausgeschaltet
werden dürfe. Man kann nie rückwärts vom Gegenstand
zur Erkenntnis, sondern nur vorwärts von der
Erkenntnis zum Gegenstand schreiten, mag auch die ursprüngliche
Einheit von Sein und Sinn durch den Erkenntnisakt
notwendig zerstört werden; nur darum kann
es sich handeln, die Trennung auf das minimum zu beschränken
. Eine definitive Abgrenzung gegen die Psychologie
hat die reine Logik auch bei Husserl nicht erreicht
(S. 263). Aber allerdings müssen wir vom indi-