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Ausgabe:

1923 Nr. 22

Spalte:

469-471

Autor/Hrsg.:

Werner, Martin

Titel/Untertitel:

Der Einfluß paulinischer Theologie im Markusevangelium 1923

Rezensent:

Dibelius, Martin

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Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 22.

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logie es ebenso ist, empfängt dies Werk aus solcher
persönlichen und sachlichen Synthese seine charakteristische
Einheit.

Breslau. Ernst Lohmeycr.

Werner, Prlv.-Doz.LicMartin: Der Einfluß paulinischer Theologie
im Markusevangelium. Eine Studie zur neutestamentlichen
Theologie. Gießen: Alfred Töpelmann 1023. (VII, 216 S.) gr. 8"
= Beih. z. Zeitschr. f. d. neutest. Wissenschaft 1. Gz. 6--.

Das Buch enthält etwas anderes als sein Titel anzudeuten
scheint; es will die These vom paulinischen Einfluß
im Markusevangelium nicht befestigen, sondern erledigen
. In kluger und energischer Untersuchung, die
sich vielfach mit Arbeiten von Paul Wernle, Martin
Brückner und Albert Schweitzer berührt, wird diese Aufräumungsarbeit
getan. Wem wie mir die hier bekämpfte
These immer verdächtig und die Selbstverständlichkeit,
mit der sie — gerade auf „kritischer" Seite — angenommen
wurde, noch verdächtiger gewesen ist, der
wird diese Erledigung für notwendig und das Buch
selbst für eine sehr erfreuliche Erscheinung halten.

Es ist eine alte „liberale" These, um die es sich
handelt. Ihre Motive gehören dem Bezirk der Tübinger
Schule an, obwohl es nicht Baur, sondern Volkmar war,
der sie aussprach. Denn es ist in der Weise Baurs gedacht
, wenn der Evangelist Markus vor die Frage gestellt
wird, die nach den Tübingern für jede analytische
Betrachtung des Urchristentums entscheidend ist: für
oder wider Paulus? Wir haben heute ein differenzier-
teres Bild vom Urchristentum; wir glauben theologische
Gedankenentwicklungen zu sehen, die nicht über Paulus
führen; wir pflegen auch bei Paulus selbst zwischen
Gemeinchristlichem und Originalem möglichst scharf zu
scheiden. So stehen uns andere Möglichkeiten der Erklärung
offen als der früheren Generation. Nicht alles
Theologische bei Markus muß paulinisch sein; nicht einmal
die Gedanken, die der Evangelist mit dem Apostel
gemeinsam hat, muß er von ihm entlehnt haben. Aber
wenn gewiß auch viele solchen Erwägungen grundsätzlich
zustimmten, so war die alte These doch noch recht
lebendig; und angesichts der völlig veränderten wissenschaftlichen
Lage wird selbst ihren überzeugten Anhängern
diese kritische Durchprüfung nicht überflüssig
erscheinen.

Ihre stärkste Stütze findet jene Anschauung vom
Paulinisinus des Markus in der „soteriologischen" Wertung
des Todes Jesu durch den Evangelisten. Demgegenüber
betont W., daß der bei Mk. begegnende unbestimmte
Ausdruck „für viele" nicht auf PI. zurückweise,
der viel bestimmtere Deutungen des Todes Jesu biete und
der nach 1. Cor. 15, 3 bereits als Gemeinde-Überzeugung
vorgefunden habe, „daß Christus für unsere Sünden gestorben
ist nach der Schrift". Darüber hinaus zeigt der
Verf., daß Mk. zwar die Notwendigkeit des Todes Jesu
in den Leidensweissagungen betont, aber doch nicht zu
grundsätzlicher „soteriologischer" Allgemeingiltigkeit erhebt
; es wird die Sündenvergebung nicht allein an den
Tod Jesu geknüpft, und es wird das Rätsel des Kreuzestodes
im Bräutigams- wie im Weingärtner-Gleichnis deutlich
hervorgehoben. Und endlich weist W. in der Nachfolge
Wredes darauf hin, daß die Lehre vom sündenvergebenden
Heilswert des Todes Jesu gar nicht dermaßen
im Mittelpunkt der paulinischen Gedankenwelt stehe,
wie das die Reformation gedacht habe. Ich halte diese
Nachweisungen, was Markus betrifft, für richtig und
würde nur wünschen, daß der Verf. sie nicht nacheinander
vorgetragen, sondern einheitlicher ausgestaltet
hätte. Es wäre etwa zu zeigen gewesen, daß der Osterglaube
den Kreuzestod Jesu zunächst als gottgewollt
konstatierte, daß daraus für Juden die Überzeugung entsprang
: „nach der Schrift" (also auch „für uns"), auch
ohne daß man Stellen beibrachte, daß dann eine schriftgelehrte
Theologie den exegetischen Nachweis führt
(siehe die Acta-Reden), während die kosmisch-heilsgeschichtliche
Betrachtung im Stile des Paulus von der

Theodizee ausgehend zeigt, wie die Sendung des Christus
den durch Sünde oder Geisterwelt gestörten Weltenlauf
beendet und erledigt, um eine neue Welt zu eröffnen
. Die von Paulus 1. Cor. 15, 3 vorausgesetzte
Gemeinde-Überzeugung gehört ebenso wie die Anschauung
des Markus-Evangeliums auf die zweite Stufe dieser
Entwicklung; beide sind also nicht von großen theologischen
Konzeptionen abhängig, sondern von naiver
Folgerung aus dem Osterglauben.

Ebenso einleuchtend im Ergebnis und vielleicht
noch überzeugender in der Untersuchung erscheint mir
der Abschnitt des Buches, der das Leben Jesu behandelt.
Denn hier läßt sich m. E. am deutlichsten zeigen, daß
der Evangelist kein Paulusschüler ist. Markus betrachtet
das Leben Jesu von unten her: die Messianität zeigt
sich in der Begabung Jesu mit dem Gottesgeist; Paulus
konstruiert den Christus-Mythus von oben her: der
Gottessohn gab die „Gottesgestalt" auf und nahm
„Knechtsgestalt" an. Verklärung und Dämonenbekenntnis
zeigen dort, Kenosis und Täuschung der Archonten
hier, wohin das Interesse gerichtet ist. Auch die Erzählung
vom leeren Grab wie die Darstellung 1. Cor. 15
sind für diese Verschiedenheit in der ganzen Orientierung
bezeichnend.

Neben diesen grundsätzlichen Betrachtungen enthält das Buch
eine Reihe wichtiger Einzelnachweise, die in gleicher Richtung
gehen. Die Gesetzesbetrachtung des Paulus differenziert nicht in
der Weise von Mk. 7, 1—23, sondern meint das ganze Gesetz; die
Formel „dein Glaube hat dich gerettet" redet nicht in paulinischer,
sondern in vorpaulinischcr Terminologie, ebenso das Wort vom
schwachen Fleisch und willigen Geist; die Todestaufe im Zebadaiden-
gespräch Mk. 10 hat mit Rom. 6 nichts zu tun; Mki 4 und Rom. 10
bieten ganz verschiedene Ansätze zur Bewältigung des Judenproblems,
das nonSto'V Mk. 7, 27 will die Heiden abweisen, dasselbe Wort
Rom. 1, 16 hat nichts von dieser Tendenz. Was den Wortschatz des
Paulus und des Markus anlangt, so kritisiert W. scharfsinnig und erfolgreich
die üblichen Zusammenstellungen von meist belanglosen
Gemeinsamkeiten (theologisch wesentlich sind höchstens wigtoais
/AtTn[ir>prf(ivaftiu, avmniu&vipxiiv, ttyti(>imoirjTi>;), und weist darauf
hin, wieviel theologisch bedeutsame Wörter der Paulusbriefe bei
Markus völlig fehlen.

Die bisher geschilderten Untersuchungen dünken mich völlig
ausreichend zu sein, um die These vom Paulinismus des Markus zu
widerlegen. Manches von dem aber, was W. sonst noch vorträgt,
scheint mir seine Stellung nicht zu verstärken. Das gilt vor allem
von dem Kapitel über die Eschatologie. Die Thesen, die W. hier aus
den Paulusbriefen entwickelt, und die der Beachtung, aber auch der
Kritik bedürfen — Paulus kenne 2 Gerichtsakte: ein Parusiegericht über
die Christen, ein Endgericht über alle Menschen — sind nur durch
konstruktive Systematisierung zustande gekommen, die in der Weise
der alten „Biblischen Theologie" Widersprüche beseitigt und alles
auf eine Fläche aufträgt. Sie gehören also mindestens nicht in
diesen Rahmen, denn beim Vergleich zwischen Paulus und Markus
können wir nur mit unbezweifelten Größen auf beiden Seiten arbeiten
. Auch sonst hat der Verf. den Gegensatz, den er herauszuarbeiten
wünscht, bisweilen überspitzt; die beiden Veränderungen im
Bilde des Täufers z. B. — Hcrabdrückung ins Vorchristliche und
Überarbeitung im Sinne des Vollchristlichen — finden sich beide in
der Überlieferung, und es ist keineswegs so, wie W. S. 133 es darstellt
, daß eine der beiden Tendenzen von den Forschern eingetragen
sein müsse. Solche Fehler des Buches hängen mit seinem biblischtheologischen
Aufriß zusammen; es treibt den Verf., seine These an
allen „loci" der Reihe nach zu erproben; dabei ist er gezwungen,
über alle diese Themen im Mk.-Ev. etwas gesagt zu finden. Und
daraus ergibt sich ein weiterer Fehler: es gelingt dem Verf. nicht,
einigermaßen eindeutig zwischen dem Wort Jesu und der Meinung
des Markus zu scheiden. Das ist für seine Beweisführung freilich
kein Unglück, denn wenn kein „Paulinismus" im Text zu finden ist,
so ist es gleich, auf wen dieser Text zurückgeht; aber das Geschichtsbild
wird nicht deutlich, wenn W. z. B. S. 97 schreibt, daß Markus
das Gesetz als erfüllbar beurteile. Kennen wir wirklich die Meinung
des Mk. über das mosaische Gesetz? Ist es nicht vielmehr Jesus,
der aus Mk. 10, 2 ff. 10, 17 ff. spricht? Was ich daher an dem Bnch
am meisten vermisse, ist ein einleitender Abschnitt, in dem der Verf.
durch Scheidung zwischen Tradition und Komposition dartut, was im
Mk.-Ev. wirklich als „Markus" anzusprechen sei. Dann wäre auch die
Gruppierung nicht so biblisch-theologisch geworden, sondern der
Verf. würde mit den wichtigsten Vergleichspunkten begonnen haben,
d. h. mit den Abschnitten bei Mk., die für den Evangelisten bezeichnend
sind und deren Stoff eine Gegenüberstellung mit den entsprechenden
Texten der Paulusbriefe wünschenswert macht.