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Ausgabe:

1923 Nr. 21

Spalte:

452

Autor/Hrsg.:

Mauthner, Fritz

Titel/Untertitel:

Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. 3. u. 4. Band 1923

Rezensent:

Hirsch, Emanuel

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461

Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 21.

452

rühmlicher Objektivität und Vorsicht in der Beurteilung
befleißigt.

Gießen. E. W. Mayer (Straßburg).

Jo61, Karl: Geschichte der antiken Philosophie. Erster Band.
Tübingen: J. C. B. Mohr 1921. (XVI, 990 S.) gr. 8° = Grundriß
der philosophischen Wissenschaften, hrsg. v. Fritz Medicus.

Gz. 24—; geb. 27—.

Was Karl Joel in diesem umfangreichen, mit Problemen
gesättigten Bande bietet, ist nicht nur eine tiefgreifende
Geschichte der alten Philosophie (von der vorphilosophischen
Epoche des sogenannten primitiven
Denkens bis einschließlich zu den sokratischen Schulen
), sondern fast mehr noch eine Darstellung des griechischen
Denkens, seines Stils, seines Forschens nach
den Rätseln der Natur und der Seele, seiner Wege zu
einer Kunst des Lebens und seiner Verklärung in der
Selbständigkeit des Geistes, die Sokrates und seine Schule
vortragen. Vor allem aber ist dieses Buch auch die Geschichte
des Erwachens der philosophischen Phantasie,
wie sie dann in den Gedankenmärchen Piatons ihre herrlichsten
Blüten treibt. Die anfangenden Denker, von
denen zum großen Teil hier gesprochen wird, sind der
Anfang der Wissenschaft, sie leiten die langsame Loslösung
vom Mythos ein. Sie gehen den Weg von der
Natur zum Geist durch den Menschen. Die Griechen
entdeckten die Geisteswelt, weil sie den Menschen
entdeckten. Wie ist dieser Mensch? Aus welchem Lebensgefühl
und Lebenszentrum empfindet, denkt und
handelt er? Was ist das, was wir antiken Geist nennen
und wie hat er Fühlung mit dem modernen Zeitgeist?
Wo liegt die geheime Identität des Antiken mit dem
Modernen? Was vermittelt die großen Zusammenhänge
alles Geisteslebens? Wie kommen diese Überzeugungen,
Meinungen und Maximen antiker Weltansicht zustande
und wie legten diese Menschen das Denken in die Welt?
Wie wird dieser griechische Intellekt frei und findet den
Weg vom Mythos zum Naturgesetz, von Kosmogonie
zu Kosmologie und vom Bild zum Begriff? Warum ist
es der Weg von dem Sternenhimmel zum Leben und
nicht umgekehrt? Wie kommt ein philosophisches Bedürfnis
zustande? So möchte ich in knappen Fragestellungen
nur einige wenige Probleme des geistvollen
Buches angedeutet haben. Für Joel ist — und das gibt
dem Werke seinen besonderen Wert — das eigentliche
Studium der Geschichte der Philosophie der Mensch:
Erkenntnis der antiken Menschheit. Philosophie, Kunst,
Religion, die Staatsformen und Ideologien, die Utopien
und Experimente politischer Art, die politischen und
sozialen Fiktionen sind nur Mittel, um diesen Menschen
besser zu sehen. Zugleich sind aber diese Mittel geistiges
Leben, die zur Trägerin dessen werden, das man
Antike nennt.

Der gelehrte Verfasser, der seinen Stoff auf Grund
philologischer und kritischer Quellenforschung und doch
zugleich mit einer hinreißenden Wärme des Herzens, die
uns überall ein künstlerisches Erfassen des Materials
fühlbar macht, meistert, läßt aus der Tiefe des Menschen
das innere Leben der Philosophie aufsteigen. Als Gefühlsphilosophie
beginnt sie. Gefühlsphilosophie aber
ist Mystik. Die Denker, die er schildert, sind etwas
Wirkliches, sie haben ihr eigenes Gesicht und ihre individuelle
Stimme. Sie sind Menschen, nicht Bücher. Nachzeichnung
der Seele hat Nietzsche gefordert. Keine Formeln
und Lehren! Der Verf. behandelt das Thema ebenso
problemgeschichtlich wie kulturgeschichtlich, ebenso
systematisch wie kritisch und psychologisch, ebenso
geschichtsphilosophisch wie philosophiegeschichtlich. So
wird diese glänzend geschriebene Arbeit das Buch vom
griechischen Menschen und seiner Kulturmission, ja, vom
denkenden Menschen überhaupt. Wie kein Historiker bis
jetzt hat Joel die religiösen und innerlichen Elemente
dieser Menschheitsbildung ins Licht gestellt und entgegen
der einseitigen rationalistischen und theoretischen
Deutung eine praktische Geschichte der griechischen

Seele geschrieben. Philosophie ist ihm Leben, inneres
Lebendigsein, ganz so wie Religion Leben und Verklärung
ist. Das religiöse Leben ist der Mutterboden
für alle spätere intellektuelle Entwickelung. Aus der
Gesamtheit des Geisteslebens reift die Philosophie. Ihre
Geschichte ist ein bunt wechselnder Verrinnerlichungs-
prozeß und die Läuterung und Vergeistigung, Entzeit-
lichung des Weltlebens. Sie ist nie fertig. Sie ist das
geistige Land der unabgeschlossenen und randlosen Horizonte
. Nietzsche würde sagen das Land der „endlosen
Meere". Der Weg der griechischen Philosophie: „aus
der Natur durch den Menschen zu Gott... aus Naturphilosophie
durch Geistesphilosophie zur Lebensphilosophie
, aus Physik durch Dialektik zur Ethik." Weltgefühl
durchdringt sich mit Selbstgefühl. Im Griechentum
begegnen wir der großartigsten Geistesemanzipation
der Menschheit, die in der Kritik des Geistes endet. Die
antike Philosophie stellt einen weltgeschichtlich bedeutsamen
Klärungsprozeß des Seelenlebens und da vor
allem des Schauens vor. Ausgestaltung des Bewußtseins
, höchste Steigerung des Bewußtseins sind die Ziele
dieser geistigen Bewegung. So werden die Griechen die
Begründer aller Wissenschaft und Weltanschauung, geleitet
von dem Trieb zum Ganzen, zur Vereinheitlichung
und Gesetzeseinheit eines großen Reiches des Geistes.

Für alle, die sich beruflich mit Philosophie oder den
Altertumswissenschaften beschäftigen, ist Joels Buch ein
unentbehrlicher Behelf, der sowohl sachliches Quellenmaterial
vermittelt, als auch jene ernste Liebe zum Gegenstand
, die nur aus tiefen Einsichten und strenger Objektivität
kommt. Von ihr lebt im Lehramt alle historische
Intuition. Der Verfasser gab mit dieser Arbeit
ein Stück von seinem Leben, seine eigene Sehnsucht
nach Wahrheit und Erkenntnis und Echtheit menschlicher
Geschehnisse. So deutet er auch das Griechentum von
innen her, aus einer starken Energie der Empfindung und
Phantasie. Geschrieben ist das Buch in einem Stil, der
auch dem Trockensten einen Schimmer von Poesie verleiht
.

Wien. Franz Strunz.

Mauthner, Fritz: Der Atheismus und seine Geschichte im
Abendlande. Bd. 3. 4. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt
1922—23. (V, 482 S. u. V, 468 S.) 4° Oz. 12—.

3. Buch. Aufklärung in Frankreich und Deutschland. Die große
Revolution.

4. Buch. Die letzten hundert Jahre (Reaktion. Materialismus.
Gottlose Mystik).

Meine Besprechung der beiden ersten Bände Th.L.Z. 1922, 11 f.
hat die allgemeine Art des Werks beschrieben. Das dort Gesagte gilt
auch für die jetzt vorliegende zweite Hälfte des Werks. Die Zahl
der behandelten Persönlichkeiten ist freilich verhältnismäßig noch
größer; ein Ausziehen großer geschichtlicher Linien darf man also
erst recht nicht erwarten. Je mehr M. sich der Gegenwart nähert, desto
mehr verfällt er zudem dem Plauderton; manche Stücke aus dem
vierten Bande sind einem auf sachliche Belehrung gerichteten Sinn
schwer zu lesen. Aber in den Einzelheiten ist wiederum manches zu
lernen.

Die lehrreichsten Partien sind die über die deutschen radikalen
Aufklärer (besonders III,, 6 u. III, 12). Sie sind nicht ganz so neu, wie
M. meint (Edelmann z.B. ist bei uns Theologen wirklich nicht vergessen
), bieten aber immerhin manchen wirklich verschollenen Namen.
Da hingegen, wo es sich um bekannte Namen handelt, hat man überall,
vor allem in Bd. IV, das Gefühl, daß M. die Zeit und die Kraft zu
ähnlicher Gründlichkeit, wie sie gute Stücke des 2. Band's aufweisen
, nicht mehr gereicht hat. Es gilt wohl im allgemeinen die
Regel: je größer der Name, desto geringer M.'s Leistung. Dennoch ist
dem Gelehrten, der sich mit deutschen oder französischen Freigeister:,
beschäftigt, dringend zu raten, daß er auch M. nachschlage; das'
Buch ist übersichtlich und hat ein gutes Register, und irgend einer,
brauchbaren Hinweis wird er meistens davon tragen.

Ganz ohne Ertrag ist das Werk für die philosophische Erkenntnis.
Was M. für diese zu sagen oder nicht zu sagen hat, muß allein aus
seiner „Kritik der Sprache" entnommen werden.
Göttingen. E.Hirsch.

Joh. Gottl. Fichte: Philosophie der Maurerei. Neu herausgegeben
u. eingeleitet von Wilh. Flitner. Leipzig: Felix
Meiner 1923. (XXXI, 83 S.) 8° Gz. 3—; geb. 4.50.