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Ausgabe:

1923 Nr. 20

Spalte:

428-429

Autor/Hrsg.:

Staehelin, Ernst

Titel/Untertitel:

Der Jesuitenorden und die Schweiz. Geschichte ihrer Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart 1923

Rezensent:

Köhler, Walther

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Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 20.

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rungen noch vertieft. Die Beschäftigung sodann mit Luthers
Disputationen und den inzwischen erschienenen letzten
Tischredenbänden der W. A. haben zu vielen kleineren
Einfügungen und Umarbeitungen geführt; die schönsten
dieser Art finden sich wohl in Nr. 6 (Luther's Urteile
über sich selbst). Auf den mit diesen beiden Punkten und
durch Auseinandersetzung mit der Literatur gegebenen
Grenzen bleibt die Durcharbeitung bei einer Reihe von
Aufsätzen stehen. Aber schon in Nr. 1 (Was verstand
Luther unter Religion?) und Nr. 3 (Der Neubau der
Sittlichkeit) greift sie weiter; und Nr. 8 (früher 7) (Die
Kulturbedeutung der Reformation) liegt große Strecken
lang in einer ganz neuen, neue Ergebnisse bringenden
Fassung vor.

Aus diesen tiefer greifenden Erweiterungen hebe ich
nun die beiden Punkte heraus, die mir sachlich besonders
wichtig zu sein scheinen: 1. Eine große Reihe von Anmerkungen
(man kann sie mit Hilfe des vorzüglichen
Registers leicht finden) behandeln Luther's Anschauung
von Christus (und vom heiligen
Geiste). Damit ist ein bisher von der Lutherforschung
vernachlässigtes Thema aufgenommen; was man so im
Durchschnitt bisher darüber zu sagen wußte, ist durch
W. Herrmanns Verkehr des Christen mit Gott bestimmt
gewesen oder hat sich in erbaulichen Allgemeinheiten
bewegt. H's Ausführungen werden von manchen als
Überraschung empfunden werden. Er zeigt z. B. (um
doch eine kurze Andeutung zu geben), daß Christus für
Luther auch Gesetzgeber ist, und daß Christus von
Luther als mit Anfechtungen kämpfend gedacht worden
ist. Die Scheidellinie zwischen Luther und dem Anselmismus
aber wird mit so unmißverständlicher Klarheit
gezogen, daß das Vorurteil, welches die beiden gleich
setzt, nun hoffentlich endgültig verschwinden wird. 2.
Der Aufsatz über die Kulturbedeutung der Reformation
bringt nicht nur eine große Fülle neuer Tatsachen und
Beobachtungen, sondern vor allem auch eine neue Beurteilung
des Puritanismus (z.T. auch Calvin's). Hier ist
die wichtigste Selbstberichtigung, die H. vornimmt. In
der 1. Aufl. hatte er der Beurteilung des Puritanismus
durch M. Weber und Troeltsch doch trotz allen Gegensatzes
noch gewisse Zugeständnisse gemacht. Die sind
verschwunden. Es ergibt sich die Tatsache, daß nicht
der Puritanismus, sondern die englischen Sekten es gewesen
sind, welche die Bergpredigt beiseite geschoben
haben (S. 507 f.). Die sachlichen Erkenntnisse, die H.
im Zusammenhange damit vorträgt, führen über seinen
Aufsatz in der Festgabe für Karl Müller (1922 S. 178 ff.)
noch hinaus, und dringen für das Verständnis vor allem
der englischen Kultur- und Geistesgeschichte weit über
alles bisher Erarbeitete voran.

Nunmehr kann ich mich dem neuen Aufsatz über
„Luther und die Schwärmer" zuwenden. Die
beiden für den Gegensatz, den das Thema andeutet, wichtigen
Gedankenkreise werden durchgerechnet, der religiöse
und der soziale. Beide Male erweist sich Thomas
M ü n z e r als der bahnbrechende Denker und Gestalter
der schwärmischen Bewegung, als derjenige Mann, der
aus den sachlichen Anregungen Luther's und einigen Einwirkungen
der deutschen Mystik etwas ganz Eignes zu
gestalten gewußt hat. Beide Male aber zeigt es sich, daß
die Gedanken Münzer's von der an ihn unmittelbar oder
mittelbar anknüpfenden oder ihm geistesverwandten Bewegung
(dem festländischen Täufertum und den englischen
Sekten) nicht ungebrochen aufgenommen werden
konnten, daß der Versuch geschichtlicher Verwirklichung
schließlich zur Auflösung der ganzen Energie und des
ganzen Gehalts dieser Frömmigkeit und dieses Gemeinschaftsgedankens
führt. So erweist sich Luther's Gewissensreligion
als die tiefere und kraftvollere Erscheinung
. Besonders geistvoll in diesen Ausführungen sind
die Bemerkungen über die drei Stadien des schwärmerischen
Gemeinschaftsgedankens.

Diese flüchtige Skizze des Grundgedankens des neuen Aufsatzes
vermittelt natürlich kein zureichendes Bild von dem ganzen Inhalte.

Abgesehen davon, daß wir hier zum ersten Male eine wirkliche Darstellung
von Münzers Frömmigkeit und Theologie erhalten (H. ist viel
tiefer eingedrungen als H.Böhmer, dessen Aufsätze Allg. Ev. Luth. Kirch.
Zeitg. 1923 Nr. 8—13 noch unabhängig von H. über die bisherige
Münzerforschung ebenfalls hinausführen und Münzers Bedeutung als
Pate der täuferischen Bewegung genau so hoch einschätzen wie H.,
freilich daneben die Persönlichkeit Münzers in Grund und Boden verurteilen
), — auch über die übrige schwärmerische Bewegung, vor
allem über George Fox, bietet H. neue Aufschlüsse, und schließlich
wendet er sich von den errungenen geschichtlichen Erkenntnissen aus
mit großer systematischer Energie zu einer kritischen Abrechnung
mit den dem Schwärmertum entsprechenden Erscheinungen unsrer
deutschen Gegenwart.

Damit wäre ein ungefähres Bild des der 2. Aufl.
Eigentümlichen gegeben. Selbstverständlich läßt ein so
weitspannendes Buch wie dieses auch Fragen zurück. H.
weiß selbst, wie viel auf dem von ihm beackerten Felde
noch zu tun bleibt. Aber eben das gehört mit zu einer
großen Leistung, daß sie den Weg zu neuen Problemen
öffnet. Noch deutlicher als in der 1. Aufl. erweist sich
dies Buch jetzt als eins von den wenigen Werken, die
tief in die Geschichte unserer Theologie und unserer
Kirche einzugreifen bestimmt sind. Unsere deutsche
evangelische Theologie darf stolz auf es sein. D e n i f 1 e
und Grisar sind durch H. endgültig zur Makulatur geworden
, an die kein verständiger Mensch noch Zeit verschwenden
wird, und Grisar insbesondere fast zur komischen
Figur. Aber noch mehr: dies Buch muß für
Luther Und sein Werk bei unsern Philosophen, Historikern
und Literarhistorikern endlich die Achtung erzwingen
, die ihm gebührt. Freilich, der schwere Ernst,
der über der Lutherdeutung H.s liegt, wird nicht jedem
von uns behagen. Aber eben das ist der beste Dienst,
den H. uns leistet: er macht uns Luther wieder zur Gewissensfrage
, er zwingt uns, an Luther umzulernen.
Göttingen. E. Hirsch.

Staehelin, Lic. Ernst: Der Jesuitenorden und die Schweiz..

Geschichte ihrer Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart.
Basel: Helbing u. Lichtenhahn 1923. (VII, 158 S.) gr. 8° Fr. 4—.

Ders.: Von Charles Secretan und den drei theologischen Ämtern.

Tübingen: J. C. B. Mohr 1923. (32 S.) gr. 8° = Sammig. gemeinverst.
Vorträge u. Schriften a. d. Gebiet d. Theologie u. Religionsg.
Nr. 104. Gz. 0.8.

Die an zweiter Stelle genannte kleine Schrift ist ein
Vortrag, den Stähelin anläßlich einer kleinen Reformationsfeier
der theologischen Studentenschaft in Basel
hielt. Dabei ist, wie im Vorworte ausdrücklich gesagt
und aus dem ganzen Vortrage deutlich wird, der Nachdruck
nicht sowohl auf Secretans Theologie und Ethik
als vielmehr auf die Rahmengedanken gelegt, die Secretan
illustrierend füllt. In welcher Richtung wiederum
diese sich bewegen, verrät die Widmung an Hermann
Kutter „als einen Wächter, Deuter und Herold der göttlichen
Welt in unsrer Zeit". Diese Trias ist die dreifache
Aufgabe jedes Theologen, sie gibt die entscheidenden
Gesichtspunkte, unter denen die Theologie ihre Arbeit
verrichten soll. Ein kurzer Überblick über die Dogmengeschichte
des Protestantismus (bei der die Kennzeichnung
der Gedankenwelt Schleiermachers als „Theologie
des Pietismus" Kopfschütteln begegnen wird) zeigt die
durch jene drei Ämter hervorgerufene Unruhe. Secretan,
stark durch Schelling beeinflußt, gehört mit seiner „Philosophie
de la Liberte", einem geistvollen kosmischanthropologischen
Drama, auf die Deuterlinie und bleibt
im Wesentlichen auf ihr, auch als unter dem Einfluß der
Comteschen Philosophie seine Gedanken sich praktisch
umstellen und den Ausgangspunkt beim Menschen, nicht
mehr bei Gott nehmen. Das ermöglicht ihm zugleich eine
starke Wirksamkeit auf politischem und sozialem Gebiete,
in liberalem Sinne. Geschickt ist von Staehelin Biographie
und Kennzeichnung der Gedankenwelt in den
Rahmen eingebaut, aber naturgemäß geht es bei dieser
Einzwängung nicht ohne Gewaltsamkeit ab. Die zivile,
ethisch praktische Wirksamkeit Secretans liegt Staehelin
I nicht, sie wird als „eine gewisse Fadheit" beurteilt,