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Ausgabe:

1923

Spalte:

23-24

Autor/Hrsg.:

Hirsch, Emanuel

Titel/Untertitel:

Die Reich-Gottesbegriffe des neueren europäischen Denkens 1923

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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liehen — mit der einen Abänderung durchaus zuftimmen,
daß fein entweder-oder (Vorhandenfein oder Fehlen je
eines der genannten Momente) durch die Alternative des
mannigfach abgeftuften Überwiegens oder Zurück-
tretens je eines jener Momente erfetzt wird. Denn
entfeheidend darf nicht fein, was abftrakt „denkbar" ift,
fondern nur, was die konkrete Religionsgefchichte — und
man vergegenwärtige fich in der in Frage ftehenden
Hinficht die Rolle, die der Opfergedanke in ihr in wie
verfchiedenaniger Ausprägung immer gefpielt hat — der
auf religiöfe Erfahrung gegründeten und von ihr aus
mittelft produktiver Einfühlung erfolgenden religions-
pfychologifchen Analyfe tatfächlich aufweift.

Die aufftrebende religionspfychologifche Arbeit wird
in allen ihren Gruppen und Richtungen Ottos Buch fteis
als eines ihrer bahnbrechenden Werke fchätzen und#ühmen.
Göttingen. Georg Wobbermin.

Hirfch, Prof. Emanuel: Die Reich-Gottesbegriffe des neueren euro-
päifchen Denkens. Ein Verbuch zur Getchichte der Staats- und Ge-
fellfchaftsphhofophie. (35 S.) gr. 8°. Göttingen, Vandenhoeck &
Ruprecht 1921. Gz. I.

Der Verf. erklärt gleich zu Anfang: ,das moderne Vorurteil, daß
eigene Überzeugungen die Bildung gelchichtlicher Erkenntniffe unmöglich
machen, teile ich nicht. Lediglich vorgefaßte Meinungen darüber,
daß die Vergangenheit fo und nicht anders gewelen fein dürfe, nähmen
dem beobachtenden Auge die Fähigkeit des wahrhaftigen Sehen'. Das
heißt: das Buch ilt ein Nachzügler der Kriegs- und Propaganda-Literatur
, eine Kampfschrift gegen die weltlichen Ideen', mögen fie außerhalb
oder inneihalb Deutfclüands vertreten werden.

Die Grundthefe ift, daß die modernen Staats- und Gefcllfchaftsideen
Säkularifationen der chriftlichen Reich-Gottes-Idee feien und dement-
fprechend bei Engländern, Franzofen und Deutfchen eine fehr verfchiedene
Geftalt angenommen haben. Von den Amerikanern, deren Ideologie
letztlich heute für die Welt entfeheidend ift, ift nicht die Rede; fie
fallen dem Verf. wohl mit den Engiändem zufammen! Die englifche
Gefellfchaftsethik ift benimmt durch Calvinismus, Hobbes, Locke und
Herbert Spencer und führt zu utilitariftifchcr Demokratie, die das Reich
Gottes ins Jenfeits abfehiebt und daher praktifch fich nicht darum zu
kümmern braucht. Die franzöfifche Gefellfchaftsethik ift ein Kompio-
miß des Calviniften (!) Rouffeau und des Katholiken St. Simon und iührt
zum modernen utopifchen Sozialismus mit feiner Verweltlichung des
Gottesreiches und feinem Widerfpruch von Liebe und Organilation.
Bleiben die Deutfchen d. b.die lutherifehen Proteftanten — die Katholiken
find offenbar für den ,deutfchen Geift' unwefentlich — und unter den Proteftanten
wieder die ,ernfteren Philofophen' Leibniz, Kant und Fichte.
Bei ,uns' fei Luthers Idee der Scheidung der unfichtbaren Kirche oder
des Gottesreiches von dem immer Gewalt, Macht, Recht nnd Ungleichheit
vorausfetzenden, aber für das Gottesreich erziehenden Staate fäku-
larifiert worden. Bei ,uns' fällt alfo die Vorausfetzung fowohl für die
Gefellfchaftsverherrlichung durch das englifche Naturrecht als für die
Gefellfchaftskritik und Gefellfchaftsutopie des franzöfifchen Sozialismus.
Staats- und Gcfellfchaftslehre müffen lieh in Freiheit aufbauen, gemäß
den ihrer Eigentümlichkeit entfprechenden, fachlichen Vcrhältniffen'.
Mit dielen .fachlichen Verhältniffen' find wir dann bei den bekannten
Theten von einer ,dem Einzelnen Gehorfam heifchend gegenübertrettn-
den Ordnung des Ganzen', bei der Macht, der Ungleichheit, dem Patriotismus
, dem Nationalgefühl. ,Sofern nun für die Vorausfetzungen
diefer Dialektik allein der idealiftifche Typus (den offenbar die Deutfchen
allein haben) ein empfängliches Auge hat, ift die grundfätzliche
Einficht, daß der Rechtsfiaat im Nationalftaat am vollkommenften fich
darfteilt, im wefentlichen auf deutfchen Boden befchränkt geblieben.
Die Fruchtbarkeit aber diefer Einficht bringt es mit fich, daß der
Beitrag Deutfchlands zur Staatslehre faft der wichtigfte geworden ift'.
Es ift alfo eine Apologie deffen, was die ,Weftler' den preußifchen
Militarismus zu nennen pflegen. Zum Schluß freilich kommen dem
Theologen Bedenken über die hier vorgenommenen Säkularifationen;
er hebt hervor, daß Kants Erbfündenlehre und das eingeftandene Scheitern
von Kants u. Fichtes Theorien zum echten transzendenten Luther zu-
riickleiten müffe.

Für jemand, der die unendliche Kompliziertheit, reale Lebensbedingung
und geiftige Mifchung der modernen Völker einigermaßen kennt,
ift mit derartigen Generalifationen nun freilich gar nicht zu diskutieren.
Das Körnchen Wahrheit in der Sache ift allbekannt. Im Einzelnen
find die Konftruktionen und Zufammenftellungen für mich kraffe Unmöglichkeiten
. Belegt aus den Quellen find nur allbekannte Sachen.
Die mehr als kühnen SonderaulTaffungen des Verf. find nicht belegt.
Das ift auch für jeden, der die Texte kennt, unmöglich. Daß auch
Hirfch fich auf Max Weber für feine Methode beruft, würde diefen lediglich
entfetzt haben. Weber kannte die Welt und liebte darum vor
allem den eifernen Doktrinär Fichte fehr wenig. Im übrigen ift das
Denken über ftaatliche und gefellfchaftliche Dinge heute überall in
neuer Bewegung bei allen Völkern, wovon man fich aus dem Schiift-
chen von der Bonn, Die Auflöfung des modernen Staates, 192t eine
Überficht verfchaffen kann.
Berlin. Ernft Troeltfch.

Mitteilungen,

1. Meine in diefer Nummer befprochene Schrift über ,Die Reich s-
Gottes-Begri ffe des neuen europäifchen Denkens' ift von mir
gerade deshalb, weil fie einen fcharfen Angriff auf Troeltfch's Soziallehren
darfteilt, an Troeltfch — in Erwartung einer fcharfen, aber die
Sache fördernden Antikritik — zur Befptechung überladen wurden. Die
Aufnahme der Befprechung durch den Schriftleiter bedeutet nicht, daß
der Autor feine Anflehten für richtig wiedergegeben hielte.

2. Herr Univ.-Prof.Meffer-Gießen hat gegen meine Anzeige feiner
Erläuterungen zu Nietzfche's Zarathuftra (ThLZ 1922 S. 434)
bei mir Einfpruch erhoben. Er weift darauf hin, daß das Buch fchon
in 10000 Stück abgefetzt und u. a. auch von dem Münchner Pädagogen
Kerfchenfteiner außeroidentlich günftig beurteilt worden fei, und
vermißt eine Begründung meiner fcharfen Ablehnung. — Die/e Begründung
hätte mehr Raum gekoftet, als die ThLZ für das Buch zur Verfügung
hatte. Vielleicht darf ich aber auf meinen Auflatz über Nietzsche
und Luther, im Lutherjahrbuch 1920/21 S. 61 —106, hinweifen, der, vor
allem auch in feinen Anmerkungen, einen Teil der Materialien enthält,
auf die ich meine Kritik ftützen würde. Hirfch.

Verzeichnis neueiter Befprechungen.

Von Vikar Kurt Dietrich Schmidt, Güttingen.
Acta acad. Velehrad. (AH: IntKiZ 1920,2; RGanszynicc: Byzant-Neugr

Jbb 1, 3/4, '20; FKattenbufch: ThLZ 47, 1922, 22).
Acta conciliorum uxumen. ed. ESchwartz 4 (WBauer: HiZ 123, F3,

27, 2, '20; GGriitzmacher: Th Ggw 16, 1922, 4; GKr: LtZtbl 73,

1922, 21).

Altmann, u. Blümel: Stille zu Gott. (MSchian: ThLZ 47, 1922,

12; W: MoPaftTh 18, 1922, 6; Konrad Müller: Th Blätter 32, 1922, 9).
Barth, K: Der Chrift in d. Gefellfchaft (GLuntowski: MsPstrlth 16,

9/10, '20; Hilbert: ThLtbl '20,25; PKorgmann: I.tHdw '21, 1; OB;

EvFrht '20, 8/9; In: LsZtbl 73, 1922, 40).
Baumgarten, 0: Bergpredigt u. Kultur der Gegenwart (GWiinfch:

ChrW 1921, 23; Studst 1921, 5/6; Sn: LtZtbl 73, 1922, 32; Schufter:

ThLZ 47, 1922, 22).
— Bismarks Religion (W: MoPaftTh 18, 1922, 7; Sp: MoEvRelUnterr

15, 1922, 6; HRichter: LtZtbl 73, 1922, 37; (/Schweitzer: ThLZ 47,
1922, 21).

Beer, G: Die Bedeutung des Ariertums für die isr.-jüd. Kultur (WoGWiff

Judentums 36, 1922, 4/6; Baumgartner: ThLZ 47, 1922, 18/19, [dazu

Berichtigung desf.: Ebd. 22]; RudKittel: ThLBl 43, 1922, 17).
Bickel, E: Altröm. Gottesbegriff (HHaas: ThLtbl 1921. 6; Adam:

ThQs 103, 1922, 1/2; HZwicker: LtZtbl 73, 1922, 46).
Bousset: Kyrios Christos. 2. A. (AvHarnack: ThLZ 47, 1922, 7;

GKittel: ThLBl 43, 1922, 17; Fiebig: LtZtbl 7,3, 1922, 17).
Butler, C: Benedictine Monachisme (GKrüger: ThLtztg 1921, 5/6;

LMarcellin: RevHiEccl 17, 4, '21; GGrützmacher: ThGgw r6, 1922, 4).
Cathrein, V: Katholik u. kath. Kirche (Schilling: ThQs 103, 1922,

1/2; Sange: LtZtbl 73, 1922, 37; HStraubinger: ThRev 21, 1922, 7/8).
Clay, CT: Empire of the Amoritcs (RCFThompson: Athenaeum 4680,

'20jan. 9, 44; BrunoMeißner: ThLZ 47, 1922, 1; ThomasFriedrich:

ZtfchrDtPaläftina-Ver 45, 1922. 3 4)-
Corpus Catholicorum 3. Cochlaeus: Adversus cucullatum Minotaurum

Wiltenbergensem. Hrsg. v. JSchweitzer. (Benrath: ThLZ 46, 1921,

23/24; GBoffert: ThLBl 1921, 7; JGotthardt: LtZtbl 73, 1922, 44).
Deißner, K: Religionsgefch. Parallelen (Zfcharnack; ZfKG 40, 1922,

S. 221; RHGrützmacher: ThdGgw 16, 1922, 1; HansLeifegang: OLZ

25, 1922, 10).

Dörholt, Brh: Der Predigerorden u. f. Theol (MGrabmann: DtLtztg
1919, 43; EdLempp: TbLZ 46, 1921, 19/20; GGrützmacher: ThGgw

16, 1922, 4).

Eberhardt, Hildegard: Diozefe Worms am Ende d. 15. Jh. (NHillingj
ArchKathKr 100, '21; R: BllWürttKg '21, 1/2; EGüller: ThRev 21,
1922, 5/6).

Eberle, F: Kathol. Wirifchaftsmoral (Schilling: ThQs 103, 1922, 1/2;

Feltrup: ThLBl 43, 1922, 20; JMausbach: ThRev 21, 1922, 16/18).
Eiert, W: Der Kampf um das Chriftentum (Otto Faber: ZtThKirche

NF 3, 1922,2; ErichSeeberg: Dt LZ 43, 1922, 23; Sange: LtZtbl 73,

1922, 20).

Fabricius, G: Der Atheismus der Gegenwart (Walter: MoPaftTh 18,
1922, 7; GFr: MoEvRelUnterr 15, 1922, 8/9; RobertWinkler: ThLZ
47, 1922; HStamm: LtZtbl 73, 1922, 41).

Falke: Dante. (Brandi: ThLZ 47, 1922, 8; IIFcdermann; Preußjahrbb
r88, 1922, 2; HansPreußjThl.Bl 43, 1922, 18).

Die nächste Nummer der ThLZ erscheint am 27. Januar 1923.
Beiliegend Nr. 1 des Bibliographischen Beiblattes.

Verantwortlich: Prof. D. E. Hirsch in Göttingen, Nikolausberger Weg 31.
Verlag der J. C. Hinrichs'scben Buchhandlung in Leipzig, Blumengaffe 2. — Druck von Auguft Pries in Leipzig.