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Ausgabe:

1923 Nr. 19

Spalte:

406-407

Autor/Hrsg.:

Meyer, Johannes

Titel/Untertitel:

Grundriß der praktischen Theologie 1923

Rezensent:

Goltz, Eduard Alexander

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Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 19.

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zudenken. Man empfindet es nie als störend, wenn er
den großen Denkern mit „kritischen Betrachtungen" in
die Rede fällt. Denn eben diese kritischen Betrachtungen
{aus der gegenseitigen Kritik jener Denker aneinander
sich nährend, aber zugleich sie weiter führend) bringen
die wichtigsten Aufschlüsse und stellen die innere Folgerichtigkeit
der sich vollziehenden dialektischen Bewegung
ans Licht.

Etwa 300 S. sind einer kritischen Darstellung
Kant's gewidmet. Warum man bei Kant nicht stehen
bleiben konnte noch stehen bleiben kann, wie zwingend
von Kant's Erkenntnissen aus der Fortgang ist zur idealistischen
Systembildung, soll gezeigt werden. Ich hebe
aus den reichen Oedanken und Beobachtungen drei hervor
, die K. besonders wichtig sind: a) der bedenklichste
Punkt in Kant's Erkenntnislehre ist nach K. (der hier
durch Maimon sehend wurde) die „transzendentale Subsumtion
". Die Einordnung des Aposteriorischen unter
das Apriorische, um die es hier geht, ist, wie Kant selbst
weiß, der logischen Subsumtion des Besonderen unter
das Allgemeine ungleichartig. Der Schematismus aber,
mit dem Kant sich hilft, kann wohl die Vermittlung der
reinen Verstandesbegriffe mit der reinen Anschauung,
aber nie mit dem Aposteriorischen erklären. Die wahre
Lösung der Aufgabe setzt voraus, daß man die angebliche
Subsumtion als Synthesis erkenne. Fichte ist's,
der die Lösung gefunden hat, indem er die Lehre von
der produktiven Einbildungskraft so erweiterte, daß auch
com Aposteriorischen im Geiste der Ursprung gegeben
wird, ß) Immer wieder führt K. seinen Angriff auf
Kant's Unterscheidung zwischen unserem und dem absoluten
Verstände. Sein entscheidendes Argument ist das
.Reflexionsargument, das er von Fichte gelernt hat: der
Akt, auf dem die kritische Philosophie selbst beruht, ist
ein Akt innerer Selbstanschauung nach Art des absoluten
Verstandes. Daß Kant niemals auf diesen Akt reflektiert
hat, erscheint als die entscheidende Grenze seines
Denkens, y) Die Scheidung zwischen theoretischer
und praktischer Vernunft ist nicht in der von Kant gewollten
Weise aufrecht zu erhalten, wie an-der unhaltbaren
Konstruktion des reinen Vernunftglaubens sichtbar
wird. Ein Rückgang auf die letzte Einheit, aus der die
Entzweiung begreiflich wird und in der sie letztlich aufgehoben
ist, ist nötig. Die Erinnerung an Fichte ergibt
sich hier von selbst.

Jacobi, Reinhold, Maimon werden nur als Wegbereiter
Fichte's gewürdigt. Dabei ist die Bedeutung
M a i m o n ' s für Fichte so wundervoll herausgearbeitet,
daß hier auch für eine im engeren Sinne historische Darstellung
zu lernen ist. Doch ich wende mich gleich zu
Fichte selbst. „Die Paradoxie, die den Standpunkt
Fichte's bezeichnet, kann man dahin formulieren: er
macht den ethischen Voluntarismus, der seinem Wesen
nach antisystematisch [nämlich als an der Entgegensetzung
haften bleibend ] gerichtet ist, zum Prinzip des
Systems" (S. 380). Darum muß Fichte die Unvollziehbarkeit
der höchsten Synthesis lehren und an der Unterscheidung
unsers und des absoluten Erkennens trotz aller
Anläufe, sie zu überwinden, festhalten. So bleibe er aber
unter seiner großen systematischen Intention; die Paradoxie
sei ein Selbstwiderspruch. Diese Deutung Fichte's
wird in einer 140 S. umfassenden Analyse der Wissenschaftslehre
1794 durchgeführt. Wer Fichte's Wissenschaftslehren
selbst gelesen hat und weiß, mit welcher
— Vorsicht auch unsre namhaften Philosophen sich um
eine Analyse dieser schwierigsten Erzeugnisse der gesamten
neueren Philosophie herumzudrücken pflegen,
wird K.s Tapferkeit zu schätzen wissen. Hier liegt in der
Tat der Höhepunkt des ersten Bandes. K. hat eine wirkliche
Freude an der „kunstvollen" (S. 423) Gedankenführung
Fichte's. Wie er z. B. den Ursprung der Dialektik
der Wissenschaftslehre in dem Willen, den logischen
Gehalt der bei Kant im Rest bleibenden Bilder
und Gleichnisse für das Verhältnis von Inhalt und Form
an den Tag zu bringen, findet, oder wie er die produktive
Einbildungskraft Fichte's aus der Entdeckung des
Zusammenhangs von Kant's transzendentalen Apperzeption
und der Idee des intuitiven Verstandes begreift, dies
und vieles andere ist wirklich fördernd. Und es ist mir
eine Freude gewesen, zwischen K.s und meiner Auffassung
Fichte's eine weitgehende Übereinstimmung festzustellen
.

Die Darstellung der Anfänge Schelling's, die
den Rest des ersten Bandes füllt, möchte ich für die Besprechung
des zweiten Bandes aufsparen, da dort von
Sendling noch mehr zu reden sein wird.

Ich habe mich rein berichtend verhalten. Ein so
systematisch gehaltenes Buch verlangt aber wohl ein
systematisches Wort zum Abschlüsse. Noch nie ist mir
so deutlich geworden als in der inneren Auseinandersetzung
mit K., daß der gesamten Philosophie, das erste
Wort der Erkenntnistheorie nicht ausgenommen, eine
ethische und religiöse Entscheidung zu Grunde liegt.
Das absolute System, das K. vorschwebt, und an dem er
Kant und Fichte mißt, ist für mich nicht realisierbar,
ohne daß der Wirklichkeit des sittlichen und religiösen Lebens
Gewalt angetan wird. So würde ich z. B. zum Grundwiderspruch
, den K. an Fichte aufdeckt, eine andre innere
Stellung haben. Dem, dem der Zusammenstoß mit Gott
im Gewissen der Brennpunkt alles geistigen und persönlichen
Lebens ist, wird die höchste Synthesis mit Fichte
als unvollziehbar gelten. Aber auch wenn man da systematisch
anders urteilt als K., bleibt von den von ihm
aufgedeckten Berührungen und Problemen das Meiste
bestehen. Er hat uns ein Buch geschenkt, das für das
Verständnis der idealistischen Philosophie in ihrer inneren
Geschlossenheit und ihren tiefsten Fragen und Antworten
einen wirklichen Gewinn bedeutet.

Oöttingen. E.Hirsch.

Meyer, Prof. D. Johannes: Grundriß der praktischen Theologie.

Leipzig: A. Deichert 1923. QU, 156 S.) 8° Gz. 2,40; geb. 4,-.

Ein neuer Grundriß der praktischen Theologie!
— man kann wohl fragen, ob dazu im Augenblick neben
dem Schianschen Buch ein Bedürfnis vorlag. Geht man
von dem praktischen Interesse der Studenten aus, so mag
es ja manchen geben, dem der Erwerb des Buches von
Schian unerschwinglich ist. Sch. bietet den großen Stoff
auf 394 Seiten. Meyer hat schier Unglaubliches geleistet,
wenn er seinem Verleger den Gefallen getan hat, Alles
Nötigste auf 156 Seiten zusammenzudrängen. Es fragt
sich nur, ob das Buch so seinen Zweck noch erfüllen
kann, Studenten in die Hauptgedanken der praktischen
Theologie einzuführen und dabei Geschichte, Theorie
und Praxis zu ihrem Recht kommen zu lassen. Ich
möchte das für Anfänger bezweifeln. Der Stil mußte
so gedrängt gewählt werden, daß nur der einigermaßen
Kundige die Tragweite der Sätze und die in Klammern
oft beigefügten Hinweise auf die Vertreter der verschiedenen
Ansichten verstehen wird. Anders ist es für
Kandidaten, Pfarrer und solche Studenten, die durch Vorlesungen
und ausführlichere Bücher schon orientiert
sind. Ihnen kann der Meyersche Grundriß gute Dienste
leisten als kurze Zusammenfassung der wesentlichsten
Gesichtspunkte und der wichtigsten Daten. Den mit den
Problemen schon Vertrauten wird Joh. Meyers Darlegung
von großem Wert sein. Der Verf. nimmt überall kurz
und präzis Stellung, kann aber natürlich sich auf eine
ausführliche Darlegung der Gründe nicht einlassen. Der
aufmerksame Leser kann ihn aber wohl verstehen und
für ihn ist das Buch überall anregend.

Um sich sachlich mit Meyer auseinanderzusetzen,
dazu bedürfte es wohl einer Besprechung vom Umfang
der Meyerschen Ausführungen. Es sei hier nur Weniges
herausgegriffen. M. definiert die praktische Theologie
als „Theorie der christlichen Frömmigkeitspflege
". Damit ist aber weder die Grenze
gegenüber de- Glaubenslehre als gegenüber der Ethik
deutlich genug. Denn zur Frömmigkeitspflege gehört
doch sicher auch die persönliche Pflege des eigenen
Glaubenslebens, das Gebetslebcn und die sittliche Be-